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1. KAPITEL

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Mit gepflegten, rosalackierten Fingernägeln zog die Frau ihren linken Ärmel hoch. Kamera 1 fuhr zur Nahaufnahme dicht an die blauverfärbte Stelle an ihrer Schulter heran. Sie war dort fehl am Platz, ein buntschillerndes Mal auf reiner, schimmernder Haut.

»Das bleibt für immer«, sagte die Frau mit sanfter Stimme.

Lynn Marchette, die mit dem Rücken zum Publikum im mittleren Gang stand, blickte in den ihr am nächsten stehenden Monitor.

»Für immer?« Lynn sprach in ihr Handmikrofon. »Handelt es sich um eine Tätowierung?«

»Nein. Das ist ein blauer Fleck.«

»Blaue Flecken gehen ja für gewöhnlich wieder weg. Aber Sie sagen, der hier bleibt?«

Die Frau nickte. »Wenn wir irgendwo hingefahren sind und uns verfranst haben, hat mich mein Mann immer hier draufgeboxt. Das hat er so oft gemacht, daß der blaue Fleck schließlich nicht mehr weggegangen ist.«

Die anderen Gäste in der Gesprächsrunde, lauter Frauen, blickten sie traurig und verständnisvoll an. Lynn befragte sie weiter. »Waren Sie denn in irgendeiner Weise Schuld daran, daß er sich verfahren hatte?«

»Nein, überhaupt nicht.«

»Er hat Sie dennoch einfach geboxt?«

»Ja.«

Keine der anderen Frauen in der Runde wirkte auch nur im mindesten überrascht. Da sie allesamt ihre eigenen Erfahrungen mit Gewalt in der Ehe hatten, waren sie derart abnormes Alltagsverhalten gewöhnt.

»Sie haben also niemals irgend etwas gesagt oder getan, aber Ihr Mann hat Sie trotzdem geboxt, wenn er sich unterwegs verfahren hat?«

»Ja«, sagte die Frau.

»Er hat seinen Frust abreagiert. Sie buchstäblich als Sandsack benutzt.«

»Genau.«

Kopfschüttelnd wandte sich Lynn um und nahm Fragen aus dem Publikum entgegen. Sie hielt einer schwarzen Frau um die Dreißig das Mikro hin.

»Ich möchte die anwesenden Frauen jetzt gerne fragen, weshalb sie sich schließlich um Hilfe bemüht haben.«

Während sie die Antworten moderierte, suchte Lynn im Publikum nach weiteren Fragestellern. In der Vorbereitungsstunde, während der sie sich mit allen Beteiligten bekannt machte, bekam sie einen ersten Eindruck, wer was fragen würde. Die Fähigkeit, eventuelle Entwicklungen zu erahnen, während Auge und Ohr auf eine Vielzahl anderer Aufgaben konzentriert waren, war ein kostbares Talent. Oprah und eine Reihe anderer Talkmaster besaßen es. Sie hoffte nur, daß sie auch über deren andere Fähigkeiten verfügte. Bei der Geschäftsleitung von Channel 3 glaubte man es anscheinend.

Ab und zu glaubte es sogar Lynn.

Ein muskulöser, blonder junger Mann fragte, ob einige Frauen vielleicht übertrieben. Als im Publikum Buhrufe ertönten, brachte Lynn die Gäste behutsam zum Schweigen und verschaffte sich Gehör. Sie wandte sich an die einzige bisher stumme Diskussionsteilnehmerin, eine grauhaarige Großmutter mit gehetztem Blick, die ständig ihre Haare aus dem Gesicht strich.

»Was wollen Sie uns zeigen, Vera? Können wir die Kamera bitte einmal auf Vera richten?«

In Sekundenschnelle zeigten sämtliche Monitore eine zentimeterbreite Narbe, die von Veras Ohr bis zur Augenbraue verlief.

»Wie ist das geschehen?« wollte Lynn wissen.

»Er ist mit einem Meißel auf mich losgegangen. Hat mir damit das ganze Gesicht zerschrammt.«

Lynn, die ein Zeichen von der Studioregie bemerkte, wandte sich zur Kamera. »Wir melden uns gleich wieder zurück. In wenigen Minuten erfahren Sie mehr über diese tapferen Frauen.«

Als die Gäste nacheinander das Studio verließen, schüttelte Lynn ihnen die Hände und wünschte ihnen alles Gute. Ein paar umarmten sie.

Was die Gefühle gegenüber ihren Gästen anging, neigte sie zu Extremen. Zu gerne entlarvte sie während ihrer Sendung Buhmänner, wie zum Beispiel Vermieter, die ihre Häuser kriminell vernachlässigten, verabscheute es aber, hinterher auch nur in ihre Nähe zu kommen. Die armen Opfer wollte sie am liebsten mit nach Hause nehmen und mit heißer Suppe verwöhnen.

Kara Millet, ihre Produktionsleiterin, klopfte ihr auf die Schulter, als sie sich gerade von der letzten mißhandelten Ehefrau verabschiedete. Kara war pummelig, hatte kupferrote Haare und trug lange Röcke im Zigeunerlook.

»Tolle Sendung.«

Lynn wandte sich um. »Danke.«

»Erinnere mich bitte nicht daran, daß wir dieses Thema eigentlich nicht noch mal einplanen wollten.«

Lächelnd schüttelte Lynn ihre dunklen Locken. »Ich wußte, daß ich recht hatte. Über familiäre Gewalt kann es gar nicht genug Beiträge geben. Die Leute ziehen sich das rein und brüllen nach mehr.«

»Es liegt daran, wie du das Thema anpackst. Du verhehlst nicht, was du davon hältst. Du hast die Zuschauer in der Tasche, weil sie bei dir nie den Eindruck haben, daß du die Gäste ausnutzt oder dich am Thema aufgeilst.«

Lynn fischte sich ein Stück Krapfen aus dem Chaos rund um die Kaffeemaschine. »Na ja, im Grunde ist jeder Fernsehmensch ständig auf der Suche nach etwas Neuem. Hier ist Geraldo«, sagte sie und warf sich in Pose, »mit kleptomanischen Nonnen. Hier ist Sally ... mit schizophrenen Oberinnen. Dagegen fallen die wahren Probleme oft unter den Tisch, weil sie nicht genug Unterhaltungswert bieten. ›Was, noch eine geprügelte Ehefrau? Gähn. Gibt’s nicht irgendwo eine Show‹?«

»Iß das nicht.« Kara nahm das Stück Krapfen. »Ich hole dir einen frischen.«

Lynn nahm ihn sich wieder. »Ich will ihn ja gar nicht ganz essen. Ich bin zum Abendessen bei meinem Bruder eingeladen. Er wird sauer, wenn ich mich nicht vollstopfe.«

»Oh, deine Schwägerin hat angerufen. Sie möchte wissen, ob du jemanden mitbringst.«

»Ich habe ihr doch schon gesagt, daß ich allein komme.«

Das Wandtelefon klingelte. Kara drückte auf den Leuchtknopf. »Lynn-Marchette-Show. Kann ich Ihnen helfen? ... Sie steht gleich neben mir

Kara drückte den Hörer an die Brust und flüsterte tonlos: »Orrin.« Lynn schnappte sich den Hörer.

»Dennis?«

»Hallo, Lynn. Das war eine Höllensendung.«

»Hat sie Ihnen gefallen?«

Der Programmdirektor gluckste. »Das hat sie, aber ich war nicht der einzige. Fünf Leute von QTV haben sie sich in meinem Büro mit angesehen.«

Ihr Herz hämmerte. »Was haben sie davon gehalten?«

»Sie waren beeindruckt. Die sprechen von einer Übernahme.«

»Ja, wirklich? O mein Gott! Dennis, warum haben Sie mir nicht gesagt, daß die hier sein werden?«

»Ich wollte, daß sie Sie von Ihrer besten und natürlichsten Seite erleben. Und ich konnte mich selbst nicht groß darauf einstellen. Sie sind heute morgen eingeflogen und schon wieder auf dem Rückweg nach Los Angeles.«

»Und es hat ihnen wirklich gefallen?«

»Die waren wie gebannt. Sie haben alle die Luft angehalten, als Sie diesen Moment inszeniert haben, in dem die Frau ihre Narbe zeigt.«

»Ich inszeniere nichts –«

»Ich weiß, ich weiß, aber egal, wie Sie es nennen, sie haben jedenfalls diese Atmosphäre mitbekommen. Sämtliche Gäste, das ganze Publikum – das hätten Ihre Brüder und Schwestern sein können.

Diese Herrschaften sind die ganze Woche im Land herumgefahren und haben sich Probesendungen angesehen. Die waren völlig groggy, als sie hier in Boston angekommen sind. Aber Sie haben sie aufgeweckt.«

Lynn faltete die Hände. »Was passiert jetzt? Werden sie mich anrufen?«

»Die möchten, daß Sie nächsten Mittwoch nach Los Angeles kommen.«

An diesem Abend störte Lynn nicht einmal der Verkehrsstau auf der Tobin Bridge. Sie ließ die Fenster des Lexus offen, damit die kühle Luft an ihr erhitztes Gesicht dringen konnte. Das Radio war an, aber sie nahm es kaum wahr. Sie suchte nicht einmal nach den örtlichen Telefon-Talk-Shows.

Erstaunlich, was ein Anruf aus Hollywood bewirken konnte.

Sie konnte es kaum erwarten, zu Booboo und Angela zu kommen und es ihnen zu erzählen.

Ihr Bruder würde johlen und toben und seine mächtige Gestalt verrenken, um sie mit einer pythonartigen Umarmung zu umschlingen. Angela würde die Umsichtige spielen, Fragen stellen und sie beide zu beruhigen versuchen. Aber dennoch würde Booboo das Ganze mit ihr auskosten, ihr beistehen, bis sie selbst glaubte, daß es ihr nicht mehr entgleiten konnte.

Für sie war Glück erst dann greifbar, wenn sie es mit Booboo teilen konnte.

»Brauchst du denn keine neue Kleidung?« fragte Angela, während sie Kaffee eingoß. Sie schnüffelte. »Ist das etwa wieder dieses französische Zeug? Ich dachte, wir wollten heute abend die Javamischung probieren.«

»Ich habe einfach zur erstbesten Tüte gegriffen«, sagte Booboo. »Den Java können wir ja zum Frühstück trinken.«

Lynn trank einen Schluck. »Ein Kleid, nehme ich an. Oder ein Kostüm. Vielleicht kaufe ich mir auch gar nichts. Ich habe tonnenweise Sachen zum Anziehen.«

»Aber das ist in Kalifornien«, sagte Angela. Sie faßte nach ihrem feinen, modisch hochgerafften Haar.

»Und ich bin aus Boston. Das wissen sie. Genau das wollen sie ja haben.« Geistesabwesend betrachtete Lynn den Tisch, während sie in Gedanken ihren Kleiderschrank durchging. Aber sie war noch immer viel zu aufgekratzt, konnte sich kaum besser konzentrieren als vorhin im Auto.

»Ich glaube, ich habe alles, was ich brauche«, erklärte sie.

Booboo lächelte. »Vom Selbstbewußtsein mal abgesehen. Zu schade, daß es keinen Versandhauskatalog gibt, wo man sich das bestellen kann.«

»Na ja, du bist ja da.«

»Und nicht bloß ich. Sondern auch noch dein Chef und deine Produktionsleiterin. Und all die Menschen, die dir zuschauen, und diejenigen, die dir schreiben, und jetzt dieses Syndikat.«

Kara blickte auf ein paar Mannequins in Abendkleidern, geschmeidige weibliche Wesen mit unmöglichen Hüftknochen.

Aber eine von ihnen trug ein Kleid, das wie für Lynn geschaffen war.

Sie entdeckte ein Münztelefon.

»Fünfzehn Meter vor mir ist das umwerfendste Kleid, das ich je gesehen habe. Du mußt kommen und es dir ansehen. Vergeude den Samstag nicht mit deiner blöden Post.«

»Aber ich bin nächste Woche drei Tage weg.«

»Das kriegen wir schon hin. Und jetzt komm und sieh dir dieses Kleid an.«

»Bist du in einem dieser Läden, wo die Kleider an Models vorgeführt werden? Damit man nicht sieht, wie viele sie noch auf Lager haben?«

»Nein. Ich bin bei Lord und Taylor. Erster Stock. Wir treffen uns am Fahrstuhl.«

Binnen zwanzig Minuten war sie da (typisch Lynn), bekleidet mit Leggings, Sneakers und Schlabbersocken zu einem langen, übergroßen Pullover (sehr untypisch für Lynn). Sie verbrachten so viel Zeit bei der Arbeit miteinander, daß Kara immer wieder vergaß, daß Lynn auch so aussehen konnte – eher wie achtzehn denn wie achtunddreißig, eher Klassensprecherin als Fernsehprofi.

»Ich weiß nicht, was ich hier soll«, grummelte Lynn, noch bevor der Fahrstuhl oben war. »Ich brauche nichts.«

»Ebenfalls einen wunderschönen guten Tag.«

»Oh, entschuldige. Tut mir leid.« Sie umarmte Kara und drückte ihre üppige Schulter. »Ich bin nicht ganz bei mir.«

»Du bist durchaus bei dir. Du zerbrichst dir bloß den Kopf wegen deiner Reise. Vielleicht lenkt dich das hier etwas ab. Da drüben ist es.«

»O mein Gott!« Lynn trat näher, während sie von dem breiten, herzförmigen Ausschnitt zu den schulterfreien Hängeärmeln blickte ... auf die riesigen Pailletten, mit denen es rundum besetzt war. Die Perlmuttscheiben, in denen sich pastellfarben funkelnd das Licht brach, waren so groß wie halbe Dollar. Sie verdeckten den Stoff und baumelten von dem kurzen Rocksaum.

»Probier es an«, sagte Kara.

»Ich trau mich nicht. Ich könnte mich darin verlieben. Aber ich habe keine Verwendung dafür.« Sie blickte auf das Schild. »Vierhundertneunzig Dollar. Kommt überhaupt nicht in Frage.« Trotzdem machte sie keine Anstalten zu gehen.

Kara berührte eine Paillette. »Du fliegst an die Westküste. Du stehst kurz vor dem großen Durchbruch. Es wird Partys geben.«

»Wenn es welche gibt, kann ich mir immer noch etwas kaufen.«

»Niemand findet ein Kleid, wenn er unter Druck steht. Das ist ein Naturgesetz.« Sie schob Lynn näher zu dem Mannequin hin. »Dieses glänzende Zeug wird toll an dir aussehen.«

Die Verkäuferin, die aussah wie Chers Großmutter, führte sie zu einem Umkleideraum. Sie beäugte Lynns Sneakers, ging hinaus und tauchte mit einem Paar gebrauchter rosa Pumps wieder auf.

»Ich hatte recht«, sagte Kara, als Lynn alles angezogen hatte. »Gefällt es dir?«

»Ja.« Lynn zupfte den einen Ärmel zurecht. Sie verzog das Gesicht. »Zuviel Speck hier«, sagte sie und bewegte die Oberarme, so daß das Fleisch wackelte. »Das muß straffer werden.«

»Oder etwas brauner. Dann kann man viel mehr Haut zeigen. Also, nimmst du’s nun?«

Schicksalsergeben blickte Lynn Kara im Spiegel an. »Ja.« Sie drehte sich um, um sich von der Seite zu betrachten, blieb mit einem Pfennigabsatz im Teppichboden hängen und stolperte.

Kara fing sie auf. »Paß auf, welche Schritte du machst«, sagte sie. »Du weißt nie, ob jemand da ist, der dich auffängt.«

»Wieviel Torschlußpanik traust du mir eigentlich zu?«

»Mäßige bis große.«

Lynn sah sich ironisch lächeln.

»Ich sollte nicht soviel Geld ausgeben«, sagte sie. »So ein Kleid zieht man nur für jemand Besonderen an, der verrückt nach einem ist. Und wenn so jemand in der Nähe sein sollte, hat er sich jedenfalls gut versteckt.«

»Hör auf damit. Nimm das Kleid. Du brauchst nichts weiter zu tun, als es anzuziehen, und schon stehen die Typen Schlange. Aber bloß für den Fall, daß«, sagte Kara, während sie den Reißverschluß öffnete. »Sehen wir doch mal, wieviel sie für die Schuhe wollen.«

Lynn konnte nicht aufhören, aus dem Flugzeugfenster zu sehen. Es war ihr gleichgültig, ob die Leute sie für provinziell hielten.

Sie war in ihrem Leben so selten geflogen. Bislang war sie nur auf lokaler Ebene erfolgreich gewesen. Das würde sich nun vielleicht ändern.

Aber sie konnte sich nicht darauf verlassen. Die mögliche Übernahme konnte so oder so ausgehen. Sie war lange genug beim Fernsehen, um das zu wissen, hatte oft genug Bostoner Spitzenleute erlebt, die man geschminkt und gepudert, bewirtet und umschmeichelt hatte. Und die am Ende eiskalt fallengelassen worden waren.

Nicht persönlich gemeint. Sie verstand das durchaus. Um sich landesweit durchzusetzen, mußte man absolut die Beste sein. Stellte sich heraus, daß man es nicht war – nun, dann schnitt man sich zwar nicht gerade die Pulsadern auf, aber man wurde auch keine landesweit bekannte Persönlichkeit.

Nun lag es an ihr, es herauszufinden.

Sie flogen gerade über Iowa. Die Landschaft unter den Wolkenfetzen war parzelliert, lauter grüne und braune Flächen, dazwischen grau schimmernde Teiche, Gebäudeansammlungen. Sie war zu hoch, um Tiere erkennen zu können, doch Lynn wußte, daß welche da sein mußten. Sie wußte noch viel mehr als das.

Als kleines Mädchen hatte sie sich auf der Farm ihrer Eltern im Osten von Tennessee um die Hühner und Schweine gekümmert. Es war nur eine von vielen Pflichten, aber ihre liebste, denn wenn sie mit ihrem Tagewerk fertig war, wurden die Tiere ihr Publikum. Sie las ihnen immer die Schulaufsätze und die Gedichte vor, die sie geschrieben hatte. Sie waren die einzigen, die Zeit zum Zuhören hatten.

Im Grunde genommen war sie also wirklich eine Landpomeranze.

Sie wandte sich vom Fenster ab und griff zu der Illustrierten, in die sie noch keinen Blick geworfen hatte.

Mit ihren schmalen Hüften und dem wild herumfliegenden dunklen Haar hatte sie damals auch entsprechend ausgesehen. Wenigstens war das jetzt in Mode. Sie hatte ihre Redeweise ändern müssen – nicht bloß ihren Akzent, sondern auch die Feld-Wald-Wiesen-Ausdrucksweise, durch die Farmerskinder immer wie Siebzigjährige klangen. Die Sprache ihres Bruders verriet noch immer seine Herkunft. Seine Freunde und Kollegen in der Bank neckten ihn andauernd deswegen.

Aber andererseits stammten zahlreiche Medienstars aus der Provinz. Alles, was sie in ihrem Beruf wußte, hatte sie von Phil Donahue gelernt – und der war selbst ziemlich provinziell, hatte doch seine märchenhafte Karriere in Dayton, Ohio, angefangen.

In ihrem ersten Jahr im College hatte Lynn sich seine Methode genau angesehen, als Phil seine Sendungen noch vor Publikum in Dayton moderierte.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, hatte Phil dem Publikum erklärt. »Sie sind die Show. Ich brauche Sie. Sie müssen gute Fragen stellen, damit ich nicht dumm dastehe.« Er hatte ihre Namen auswendig gelernt und während der Werbepausen mit ihnen geredet: »Wie geht’s denn so, Betsy? Lassen Sie sich eine gute Frage an den Senator einfallen, Joe.«

Natürlich waren sie begierig darauf, ihm zu helfen, konnten kaum erwarten, daß Phil sie brauchte. Und weil das so war, hatten die Zuschauer daheim das Gefühl, sie stünden auf und stellten dem Senator Fragen.

»Man lebt und stirbt mit seinem Publikum«, war Phil einmal zitiert worden. Und Lynn hatte diese Ermahnung genauso ernst genommen wie eine neue Lektion in der Schule.

Von den gemeinsamen provinziellen Anfängen einmal abgesehen, konnte sie nur hoffen, daß sie heute zumindest halb soviel Können an den Tag legte wie er.

Aber war der Provinzialismus nicht nur ein Ablenkungsmanöver? Im Grunde genommen machte sie sich doch nur darüber Sorgen, daß es mit ihrer Übernahme nicht klappen könnte.

Daß sie nicht gut genug war.

Oder viel wahrscheinlicher, daß zwar alles gut genug war und auch klappte. Und sie es dann selbst sabotieren würde. Wieder in die eine oder andere ihrer destruktiven Gewohnheiten verfallen würde. Es selbst vermasselte, weil sie der Meinung war, sie würde es nicht verdienen.

Sie legte die Illustrierte hin und reckte wieder den Hals, um aus dem Fenster zu gucken.

Nach den Konferenzen wurde Lynn in ein wunderschönes Restaurant namens Geoffrey’s in Malibu ausgeführt – einer der Treffpunkte von Hollywood, wie man ihr sagte. Es lag direkt am Pazifik. Sie saßen alle draußen an einem Tisch für sechs, inmitten von Schalen mit betörenden Blütenpflanzen. Auf Säulen aufgebaute Heizstrahler erwärmten die salzige Brise.

Lynn saß zwischen Vicky Belinski, bei QTV Vizepräsidentin für landesweite Verbundsendungen, und Len Holmes, dem stellvertretenden Programmchef. Der Nachmittag hatte aus einem drei Stunden langen, trügerisch entspannten Geplauder in stillen, malvenfarbigen Büros bestanden, Gesprächen, in denen jeder noch so bruchstückhafte Gedanke angeschnitten worden war, den sich Lynn je über das Fernsehen gemacht hatte. Ihre Herkunft. Ihr Wissensstand. Direkte Fragen, indirekte Fragen, gar keine Fragen. Vicky lachte oft ausgelassen, Len war eher zurückhaltend.

Sie hatte sich nicht vorbereitet, wenn man von dem einen oder anderen Übungsball absah, den sie sich von Kara hatte zuwerfen lassen. Zuviel zu proben wäre ein Fehler gewesen. Ihre Spontaneität war es, die sie kaufen wollten, und die konnte sie ihnen nur auf eine Art vermitteln.

Aber sie war erschöpft. Selbst dieses Essen war ermüdend. Die größte Hürde war genommen, aber sie wurde noch immer von fünf Menschen eingeschätzt, die sich überlegten, ob sie ein Vermögen in ihre Person investieren sollten ... nicht gerade die beste Voraussetzung für ein lockeres Beisammensein.

Vicky reichte ihr einen Korb mit Brot. Der Korb war rosa und silbern lackiert, und die Brotscheiben in dem warmen Tuch waren knusprig weich und mehlig. Der Duft erinnerte sie mit einem Mal daran, wie hungrig sie war. Sie nahm ein Stück und bestrich es mit Butter.

Unter ihnen klatschte die Brandung, Dunst tanzte um die Heizstrahler. Durch die Nahrungsaufnahme wurde sie etwas gelöster. Und als sie gelöster wurde, fühlte sie sich allmählich auch besser, genoß die Freude über das, was da geschah.

Weil es geschah. Sie wußte, daß sie sämtliche Prüfungen bestanden hatte und sie auch weiter bestehen würde, während sie hier saßen. QTV, einer der gewichtigsten Verbundsender, war überaus interessiert, ihre Sendung einzukaufen. Aus ihr eine Art Oprah zu machen, eine Sally Jessy.

Eine Lynn Marchette.

Mit diesem Gedanken vertilgte sie das letzte Stück Brot und nahm sich eine neue Scheibe.

An einem Abend vor neun Jahren hatte sie ebenfalls Brot in der Hand gehalten. Aber es war nicht warm und kroß gewesen, sondern weiß und mit Mayonnaise und Thunfischöl getränkt.

Ihre Wohnung bestand damals aus zwei winzigen, über einer Pizzeria an der Huntington Avenue gelegenen Zimmern. Sie kostete 280 Dollar im Monat, kaum erschwinglich bei dem Gehalt, das sie für das Auswählen von Studiogästen für die Carl-Cusack-Show beim WBHJ-Radio erhielt – ein Job, den sie trotz des Hungerlohnes bereitwillig angenommen hatte, da Carl dafür bekannt war, daß er seine Helfer auf Sendung gehen ließ. Für eine Möchtegern-Talkmasterin, die neu in Boston war und deren bisherige Anstellungen beim Radio ihr noch keine derartige Chance geboten hatten, war das ein Traumangebot.

Weniger bekannt indessen war die Tatsache, daß Carl einen Preis für die Publicity forderte. Nichts vordergründig Schmutziges – auf diese Weise verschaffte sich der Mann nicht sein Vergnügen. Carl Cusack raste und tobte vielmehr und erniedrigte seine Mitarbeiter. Er köderte sie und stellte ihnen Fallen.

Bislang hatte Lynn ihm aus dem Weg gehen können, hatte schweigend oder ruhig, mit logischen Antworten auf seine Sticheleien reagiert. Noch war sie nicht das auserwählte Opfer des Tages geworden – aber sie war auch noch nicht auf Sendung gewesen. Weil sie noch nicht darauf gekommen war, daß man reagieren mußte – weinen und zittern und sich vor Angst ganz klein machen –, wenn man sich die Belohnung verdienen wollte.

An diesem Januarabend kam sie nach einem Kiefereingriff mit geschwollener Wange zur Arbeit. Der Zahnarzt hatte darauf bestanden, sie solle nach Hause gehen und sich mit einem Eisbeutel hinlegen, doch das konnte sie nicht; die Kosten der lange hinausgeschobenen Behandlung hatten ihre letzten Reserven aufgezehrt, unter anderem auch den Großteil der Miete für den laufenden Monat. Carl bezahlte einen nicht, wenn man nicht da war.

»Was haben Sie denn angestellt, ein halbes Backenhörnchen gegessen?« sagte Carl zur Begrüßung. Sein flinker, trockener Witz war einer der Gründe, weshalb er bei den Kritikern ebenso beliebt war wie bei den Zuhörern.

»Zahnbehandlung«, sagte Lynn, die so deutlich sprach, wie das bei einer Zunge möglich war, die sich anfühlte, als habe ihr jemand ein ganzes Ei in den Mund gestopft.

Carl hob die Augenbrauen.

»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte Lynn, noch bevor er irgendwelche Zweifel äußern konnte, ob ihre Anwesenheit sinnvoll sei.

Irrtum. »Ich entsinne mich nicht, mich nach Ihrem Befinden erkundigt zu haben.«

Lynn nickte mit gesenkten Augen, während sie am gemeinschaftlichen Schreibtisch der Assistenten die Werbebeiträge überflog.

»Ja?« brüllte Carl. »Habe ich da etwa ein Ja von Ihnen gehört? Auf welche Frage, wenn ich das wissen dürfte?«

Lynn blickte auf. Seine ständig geröteten Augen waren weit aufgerissen und auf sie gerichtet.

»Ich wollte bloß bestätigen, was Sie sagten.«

Sie sprach nicht besonders gut; bei dem langen Wort hatte sie eine Silbe verschluckt. Und die Wirkung des Novocains verflog, so daß sie die schmerzhaft pochende Wunde hinter ihren rechten oberen Backenzähnen spürte.

»Zitieren Sie die Präambel der Verfassung«, sagte Carl.

Lynn runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

Carl bückte sich, so daß sein Gesicht auf gleicher Höhe mit dem ihren war. »Wir ... das ... Volk«, nölte er. »Fahren Sie fort. Wir ... das ... Volk ...«

»Lieber nicht.«

»Kennen Sie sie etwa nicht? Hier ist was Leichteres – die Ansprache von Gettysburg. ›Vor siebenundachtzig Jahren ...‹ Führen Sie das bitte zu Ende.«

»Sie möchten, daß ich die Ansprache von Gettysburg aufsage?«

»Genau«, sagte Carl mit gespielter Langmut.

Lynn stieß mit der Zunge an die Wunde und zuckte zusammen. Der Schmerz breitete sich über ihre ganze rechte Kopfseite aus. Sie kannte diese Kopfschmerzen nur zu gut, wußte, daß sie durch die Zahnschmerzen schlimmer wurden.

Sie schaute Carl mit festem Blick an, während sie zu dem Entschluß kam, daß sie sich am besten aus der Affäre zog, indem sie es durchstand.

»Vor siebenundachtzig Jahren ... wurde auf diesem Erd ... Erd ...«

»Erd-teil

Lynn lehnte sich zurück, um seinem starren Blick und seinem Atem zu entgehen. » ... eine Nation geschaffen, die, in Freiheit geboren, dem Grundsatz ...«

Sie mußte abbrechen und eine Sekunde innehalten. Bei bestimmten Klängen rieb ihre Wange an der Wunde, und jede Berührung rief Schmerzen hervor.

» ... hul ... huldigt, daß ...«

Carl schlug auf den Schreibtisch. »Raus hier.«

»Was? Nein, bitte ...«

»Wie können Sie es wagen, sich in meine Sendung zu drängen, wenn Sie mehr als nutzlos sind? Ich brauche fähige Assistenten am Telefon, keine lallenden, stammelnden Trottel. Das ist ja unerhört. Sie sind daran schuld, daß ich in letzter Minute unterbesetzt bin.«

»Ich bin durchaus arbeitsfähig. Ich –«

»Raus hier, habe ich gesagt. Und nehmen Sie Ihre Habseligkeiten gleich mit. Sie arbeiten nicht mehr für mich.« Er drehte sich um und ging mit langen Schritten weg.

Lynn schnappte nach Luft. Es klang fast wie ein Schluchzen. Sie rannte hinter Carl her, packte ihn an seinem Wollsakko. »Bitte. Ich brauche diesen Job. Ich muß nur noch ein paar Excedrin nehmen. Ich werde –«

»Wie können Sie es wagen!« Sein Atem fauchte sie an. »Sie brauchen den Job? Und deshalb sollte ich zulassen, daß in einem hochklassigen Programm an entscheidender Stelle Unterdurchschnittliches geleistet wird?« Er hob den Arm, als wolle er sie schlagen, hieb aber nur an die Wand. »Was Sie brauchen, ist Nachhilfeunterricht in Selbsteinschätzung, aber ich habe nicht die Zeit, Ihnen den zu geben – ich muß eine andere Assistentin finden, damit ich auf Sendung gehen kann.« Wieder schlug er an die Wand. »Und machen Sie sich nicht die Mühe, beim Gehen die Tür zuzuschlagen. Soviel Krach wie ich können Sie gar nicht machen.«

Mel Medoff, der Programmdirektor, war noch in seinem Büro. Er hörte sich lediglich den Anfang von Lynns Geschichte an, verdrehte die dunklen, wissenden Augen und komplimentierte sie hinunter in die Cafeteria gegenüber vom Sender.

Irgendein Überlebensinstinkt setzte sich durch, und trotz des pochenden Loches in ihrem Mund war Lynn hungrig. Sie stopfte den Großteil eines Thunfischbrotes in sich hinein, während Mel ihr die harten Tatsachen darlegte.

»Der Sender engagiert, feuert oder bezahlt Carls Leute nicht. Wie Sie sicher wissen. Sie haben recht – er ist ein Arschloch. Aber ich kann mich nicht einmischen.«

»Gibt es andere freie Jobs beim Sender?«

Mel schüttelte den Kopf, noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte. »Carl würde Gift und Galle spucken, wenn wir Sie einstellen würden.« Er breitete die Arme aus. »Was soll ich sagen? Sie sind ausgetrickst worden. Es ist nicht fair. Aber er hat die Einschaltquoten ...«

Als sie nach Hause ging, hatte sie in einer Serviette eine Scheibe Brot bei sich; das war alles, was von der Mahlzeit übriggeblieben war. Sie konnte sich nicht einmal einen anderen Job suchen, bevor sie wieder sprechen konnte, und ihre Speisekammer war genauso leer wie ihr Geldbeutel.

Es gab niemanden, von dem sie sich etwas hätte borgen können. Den Pizzabäckern unten schuldete sie dauernd Miete, und Booboo, der damals noch nicht bei der Bank arbeitete, kam daheim in Tennessee mit Mühe und Not über die Runden, indem er das zusammenzuhalten versuchte, was von der Farm übriggeblieben war.

Was für eine Ironie des Schicksals, lautete ihr letzter Gedanke, bevor sie in den Schlaf sank, nachdem sie ihre Stirn gekühlt und vier Excedrin geschluckt hatte.

Schon jetzt war sie gierig auf die aufgeweichte Brotscheibe, die sie wie Hänsel und Gretel würde rationieren müssen, weil sie ihre einzige Nahrung für die nächsten Tage war.

In Boston hatte sie den Durchbruch schaffen wollen: erst bei der Cusack-Show, dann bei noch einer und noch einer, und dann hätte man einen neuen Star zu bewirten und zu umgarnen ...

Als der Kaffee kam, war es bereits dunkel. Die Lichter im Freien, die Blumen, die warme Luft von den Heizstrahlern, all das war wie ein tropischer Baldachin, den man über Lynn ausgebreitet hatte. Nach etlichen Gläsern Wein und dem ausgezeichneten kalifornischen Essen kam es ihr vor, als könne sie gar nicht mehr aufhören zu lächeln.

Die Leute an ihrem Tisch waren mit einer Gruppe Werbeleute von einer Agentur aus Los Angeles am Nebentisch ins Gespräch gekommen. Zwei der Werbemenschen kannten einen der Männer von QTV. Lynns Gedanken schweiften von der Unterhaltung ab, und sie blickte eine Weile aufs Meer und kostete die betörende Aussicht aus, daß Orte wie dieser für sie bald alltäglich sein würden. Als sie sich wieder den anderen zuwandte, reichte Len Holmes gerade die Schokoladentorte an den anderen Tisch weiter.

»Es macht Ihnen doch hoffentlich nichts aus«, sagte Len. »Wir dürfen dafür deren Pflaumensorbet probieren.«

Lynn lachte und nahm den Teller, den man ihr reichte. Sie probierte die lila Schaumspeise. Es war sagenhaft. Alles war sagenhaft.

»Toll, was?« fragte sie eine katzenhaft wirkende Frau am Nachbartisch. »Bitte, greifen Sie zu. Je weniger übrig ist, desto besser für meine Hüften. Übrigens, ich bin Joanne.«

»Lynn. Und was Sie hier treiben, ist der masochistische Nahrungsverweigerungsmechanismus Nummer zweiundachtzig B. Ich kenne ihn nur zu gut.«

»Eine Schwester im Geiste!«

»Sie auch?« sagte Vicky.

Lynn reichte ihr das Sorbet. »Sehen Sie sich doch nur an, was wir hier tun. Wir sind alle mehr oder weniger schlank, attraktiv und erfolgreich. Und irgendwo in uns ist da ein Wesen, das sich damit nicht zufriedengibt. Ständig setzen wir uns selbst die Pistole auf die Brust.«

»Haben Sie darüber schon mal eine Sendung gemacht?« fragte einer der Mitarbeiter von QTV.

»Mehrere. Das Phänomen nimmt viele Formen an. Darüber könnte ich Hunderte von Sendungen machen.«

»Weil es in der Luft liegt«, sagte Vicky.

Lynn nickte. »Es ist wie eine Epidemie.«

Len beugte sich zu ihr. »Genau das ist das bemerkenswerte an Ihnen, das, was uns fasziniert hat. Sie sind eher, wie soll ich sagen ...«

»Nicht zwanghaft darauf fixiert, im Mittelpunkt zu stehen«, sagte Vicky. »Es ist Ihnen schnurzegal.«

Einen verrückten Augenblick lang stellte sich Lynn eine Reklametafel für ihr neues landesweites Programm vor: DIE LYNN-MARCHETTE-SHOW. IHR IST ALLES SCHNURZEGAL. Um nicht loszukichern, trank sie rasch einen Schluck Kaffee.

»Ihr Verhältnis zum Publikum ...« Vicky schüttelte den Kopf. »Erstaunlich.«

Man bestellte noch mehr Kaffee; zwei der Leute von QTV gingen heim. Die Leute am anderen Tisch umarmten einander, bevor einige von ihnen ebenfalls aufbrachen. Dann zogen Joanne und zwei Männer an Lynns Tisch um.

Wegen der Zeitumstellung hätte sie eigentlich müde sein müssen, aber sie war viel zu aufgekratzt. Sie fühlte sich mit jeder Minute wacher. Dies war eine traumhafte Situation an einem traumhaften Ort, an dem die Menschen lachten und sich umarmten und eine tolle Zeit verlebten. Sie wünschte sich, es möge niemals enden.

»Was habe ich da von einer Sendung gehört?« fragte Joanne.

»Lynn macht in Boston eine Talk-Show«, erklärte ihr Len. »Wir sind im Begriff, sie zu übernehmen.«

Im Begriff. Lynns Herz machte einen Satz.

»Dann sind Sie also aus Boston?« fragte einer der Werbemenschen. Er war braungebrannt, sah stattlich aus und lächelte frei und ungezwungen. »Wie gefällt es Ihnen in der Traumfabrik?«

»Ich glaube, es gefällt mir sehr. Ich habe noch nicht viel gesehen.«

»Na.« Vicky schlug auf den Tisch. »Wie unhöflich wir doch sind! Einen ganzen Tag da, und Sie waren noch nicht auf Stadtrundfahrt.«

»Noch keine Stadtrundfahrt?« fragte Joanne. »So springt man nicht mit Fremden um. Machen wir doch jetzt eine.«

»Warum nicht?« sagte Len. »Lynn? Haben Sie Lust?«

»Unbedingt.«

Die Rechnungen wurden bezahlt, und dann gingen sie hinaus zu Vickys Auto, einem großen Mercedes. Lynn saß vorn zwischen Vicky und Len. Joanne fuhr mit Greg, dem so nett lächelnden Mann, auf dem Rücksitz mit.

Sie kutschierten durch Bel Air, sahen sich Melrose und die Läden am Rodeo Drive an.

»Mann’s Chinese Theatre«, sagte Vicky. »Das müssen wir mitnehmen.«

Lynn starrte auf die Hand- und Fußabdrücke, auf die in den Zement geschriebenen Namen. Sie kaufte für Kara eine Butterschale in Form einer Lassie-Figur. Alles, was sie tat, kam ihr unwirklich und zugleich auf eine intensive Art echt vor, so als betrachte man eine Handlung durch ein scharfes Fernglas.

Es war bereits nach elf, als Vicky wieder auf den Parkplatz des Restaurants in Malibu fuhr.

»Ich bringe Lynn zum Hotel«, sagte Len. »Vicky wohnt gleich hier in der Nähe«, erklärte er Lynn.

»Wohnen Sie in der Stadt?« fragte Greg.

»Ja. Im Hyatt Tower.«

»Dann kann ich Sie doch mitnehmen. Es liegt auf meinem Heimweg.«

Der Portier des Hyatt, ein Teenager mit Bürstenschnitt, streckte die Hand aus, um Lynn aus Gregs BMW zu helfen.

»Danke«, sagte sie zu Greg. »Für die Stadtrundfahrt und fürs Mitnehmen.«

Er schenkte ihr sein offenes Lächeln. »Die Stadtrundfahrt war nicht gerade die Megaversion. Aber ich hoffe, sie hat Ihnen gefallen.«

»Ich war begeistert.« Sie rutschte zur Tür.

»Morgen wieder heim nach Boston?«

»Ja. Ich hoffe, ich komme bald wieder hierher. Ich habe ja bis jetzt fast nichts gesehen.«

Er beugte sich dicht zu ihr. »Sie sehen gar nicht müde aus. Nach Bostoner Zeit ist es schon furchtbar spät, aber habe ich nicht recht? Sie fühlen sich wie ein Kind, das nicht vom Geburtstagsfest weg möchte, solange noch Eis und Kuchen übrig sind.«

Lynn lachte. Bei der Vorstellung mußte sie an das weiße Paillettenkleid oben in ihrem Zimmer denken. Nachdem sie es sorgfältigst eingepackt und den ganzen weiten Weg mitgeschleppt hatte, hing es nun im Hyatt in der Kleiderkammer, die so groß war wie ihre erste Wohnung in Boston - und wartete auf Eiscreme und Kuchen.

Sie hatte es nicht gebraucht. Aber anscheinend hatte es das bewirkt, wozu es von vornherein gedacht gewesen war.

Sie schielte zu dem Portier, der es offenbar nicht gewohnt war, daß Gäste des Hyatt Tower zögerten, bevor sie seine Hand ergriffen. Da sie nicht in Anspruch genommen wurde, ließ er sie einfach hängen.

Greg schnippte mit den Fingern. »Farmers Market.«

»Ich habe davon gehört. Was ist das?«

»Eine Spezialität von Los Angeles. Sollte man sich nicht entgehen lassen, vor allem abends. Es ist ein Labyrinth aus lauter Verkaufsbuden, an denen alles mögliche unter freiem Himmel angeboten wird: allerlei Dinge zu essen, Nippes, Souvenirs.« Er tippte ihr mit dem Finger auf die Hand. »Ich habe diese Butterschale gesehen.«

»Die ist für meine Produktionsleiterin. Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, einander abscheuliche Andenken mitzubringen. Wenn man eins kriegt, muß man es in Gesellschaft benutzen, ohne jede Erklärung.«

»Auf dem Markt können wir viel schlimmere Sachen als eine Butterschale auftreiben.«

Lynn klatschte in die Hände. »Auf geht’s.«

Der Portier war nach wie vor unschlüssig. Greg beugte sich über Lynn hinweg und faßte nach dem Türgriff. »Danke, aber wir fahren noch mal weg.«

Als er aufs Gas ging, kratzte sich der Knabe den spärlichen Haarschopf.

»Aber ich hatte doch bereits Nachtisch«, sagte Lynn. »Mehrmals sogar, glaube ich.«

»Das waren bloß Happen. Da ist so viel hin- und hergereicht worden, daß Sie gar nicht viel abbekommen haben können. Aber warten Sie. Ich weiß eine Lösung.«

Er nahm ihre Hand und führte sie an einer Reihe von Obstständen vorbei. »Sehen Sie.«

Sie war nicht sicher, was sie sehen sollte.

»Da«, sagte er.

Sanft dirigierte er ihren Kopf, so daß sie zu einem Stand blickte, wo geeister Joghurt mit allerlei Fruchtsoßen angeboten wurde. Wieder stieg ihr der Duft in die Nase, der ihr bereits aufgefallen war, als er sich im Auto über sie gebeugt hatte, ein sinnliches, weihrauchartiges After-shave.

»Eisbecher ohne jedes Schuldgefühl. Wo sonst gibt’s so was, außer in Kalifornien?« sagte er. »Ich hole mir einen, und Sie können dann kosten, bevor Sie sich selbst entscheiden.«

Während der Eisbecher zusammengestellt wurde, ergriff Greg erneut ihre Hand und führte sie zu einem riesigen Souvenirstand. Er hatte recht – dagegen wirkte die Butterschale beinahe geschmackvoll.

Lynn griff nach einem Sortiment Serviettenringe. Auf jedem war Elizabeth Taylor mit einem anderen Ehemann zu sehen.

»Was habe ich Ihnen gesagt? Nein, überlassen Sie das mir«, sagte Greg, als sie ihre Handtasche aufmachte. »Ich wollte sowieso noch ein paar andere Sachen kaufen.«

Sie wollte protestieren, ließ es aber sein. Darauf kam es nun wirklich nicht an. Eine liebe Geste; kein Grund, daraus einen Wettstreit in Sachen Höflichkeit zu machen.

Alles war so einfach, wenn man obenauf war.

»Probieren Sie mal.« Er reichte ihr den Eisbecher. Noch bevor er mit seinen Einkäufen zurück war, hatte sie das fruchtige Allerlei fast aufgegessen. Noch etwas, das sie an einem normalen Abend niemals getan hätte.

Sie liefen durch die Gänge und Gassen. Durch die leuchtenden Laternen über ihnen und das Gewimmel ausgelassener Menschen wirkte das Ganze wie ein Eingeborenenbasar.

»Sogar das Obst ist anders«, sagte Lynn. »In Boston kriegen wir nur eine oder zwei Pfirsicharten. So ein Angebot wie hier gibt’s dort gar nicht. Das müssen acht bis zehn Sorten sein. Was sind denn das für riesige rote Dinger? Die sehen lecker aus.«

Er griff nach einem.

»Nein«, sagte sie. »Ich bin total voll, und zum Mitnehmen ist es zu empfindlich. Herr im Himmel, diese Artischocken. Die sind ja so groß wie Kürbisse.«

Greg lachte. »Sie sind aber nicht immer so, oder?« fragte er und strich ihr über die Haare. Er spielte mit einer Locke. »Heute ist Ihre Nacht. Sie sprühen regelrecht. Es ist ein Vergnügen, daran teilzuhaben.«

Lynn berührte seinen Arm. »Vielen Dank.«

Einen Augenblick lang standen sie im Zwielicht einer Laterne und blickten einander an. Sie war knapp einszweiundsechzig groß, und er mußte den Kopf neigen.

»Joghurt«, sagte er und wischte ihr mit dem Daumen einen Klecks vom Kinn. Doch anstatt die Hand wegzuziehen, hob er ihr Gesicht an und küßte sie auf den Mund.

Wieder umfing sie sein Duft, doch diesmal war es sein ganzer Geruch, nicht nur das After-shave. Er war warm und männlich und so auserlesen wie alles an diesem Abend.

Langsam entzog sie sich ihm. Ein kleiner, feuchter Fleck schimmerte an seiner Oberlippe. Lynn mußte den Impuls unterdrücken, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und ihn abzulecken.

»Ich sollte Sie jetzt besser zurückbringen«, sagte er leise, »bevor Sie sich in eine Artischocke verwandeln.«

Der Portier mußte zur Pausenmilch sein. Niemand kam aus dem Hotel zum Wagen gestürmt. Greg fuhr an den Bordstein.

Lynn hatte sich gefragt, ob er wohl mit hochkommen wollte und was sie sagen sollte, falls dem so wäre. Nein, natürlich konnte sie am Tag ihres Vorstellungsgespräches nicht mit jemandem schlafen, der die Verantwortlichen bei ihrem künftigen Sender kannte. Aber wie sollte sie dieses Nein ausfallen lassen, was für die Zukunft andeuten?

Sie hätte sich gar keine Sorge machen müssen. Der Augenblick ging vorüber wie alles andere in Kalifornien, ohne daß sie auch nur etwas dazutun mußte.

»Ich weiß, es ist nicht der passende Moment ... noch nicht«, sagte Greg. Er legte ihr zwei Finger an die Lippen. »Nicht, daß ich nicht versucht wäre, darauf zu drängen. Ich habe Sie gerade kennengelernt, und jetzt fahren Sie schon wieder weg.«

Ihr Mund kribbelte unter der Berührung.

»Aber ich werde nicht aufgeben. Ich bin bloß geduldig. Ein bißchen geduldig.« Er zog die Hand weg, holte dann Stift und Block aus dem Türfach. Fragend blickte er auf.

»Harbor Landing drei-achtzehn, Apartment drei-acht-null-fünf, Boston null-zwo-eins-fünf-sechs.« Sie nannte ihre private und ihre dienstliche Telefonnummer.

Er schrieb konzentriert mit, riß das Blatt ab und hielt es ihr zur Bestätigung hin. Er faltete es, steckte es in seine Hemdtasche. Er schaute Lynn an – ein heißer Blick aus katzengrauen Augen. Dieser Blick war es, der sie schließlich aus dem Glücksgefühl völligen Losgelöstseins herausriß, in dem sie sich den ganzen Tag und den Abend über befunden hatte.

In diesem Moment wußte sie, daß er sie begehrte und sie ihn. Bilder wirbelten vor ihrem Gesicht, und sie sah diese grauen Augen über sich, während sie auf dem Rücken lag. Sie sah, wie sich die Leidenschaft über das, was sie gerade taten, darin widerspiegelte. Wie ihre Schultern sich im Rhythmus des ...

Schluß.

Sie rutschte auf dem Autositz ein Stück weg.

Zu schade, daß es dafür keinen Joghurtersatz gab.

»Ich muß hinein«, sagte sie.

»Das sehe ich.« Sein Tonfall klang leicht belustigt, oder bildete sie sich das nur ein?

»Lachen Sie etwa über mich?« fragte sie.

»Ja. Auf die netteste Art, die es gibt.« Er lehnte sich zurück, legte die gebräunten Arme in den Nacken und reckte sich. Längst hatte er seine Anzugjacke abgelegt, und unter den kurzen Hemdsärmeln waren kräftige Muskeln und mit dunklen Haaren bedeckte Arme zu sehen.

»Ich habe es hier mit einer Frau zu tun, die sich nach Kräften bemüht, ihre Prioritäten zu wahren. Eine leidenschaftliche Frau, innerlich ebenso schön wie äußerlich, die weiß, daß sie aus hundert Gründen keine andere Wahl hat, als aus diesem Auto zu steigen, nach oben zu gehen, ihre Vitamine zu nehmen und sich schlafen zu legen ... die aber sehr versucht ist« – er beugte sich zu ihr und küßte sie, eine rasche, süße Berührung mit Mund und Zunge – »sehr versucht ist zu sagen, zum Teufel mit der Vernunft. Ich möchte unter diesem Kerl liegen.«

Bei den letzten Worten schaute er ihr direkt in die Augen. Er traf es so genau auf den Punkt, daß ihr keine Erwiderung einfiel. Doch ihre Hand ging zum Türgriff, als wolle sie sie daran erinnern, daß dieser Körperteil vernünftig bleiben würde, auch wenn die anderen meutern sollten.

»Deswegen habe ich gelacht«, sagte er. »Weil ich Ihnen die Gedanken vom Gesicht ablesen konnte. Und weil ich mich geschmeichelt fühle.«

Er stieg aus dem Wagen, ging außen herum und hielt ihr die Tür auf.

»Ich verabschiede mich hier«, sagte er und legte ihr die Arme um die Taille. »Denken Sie einfach immer daran, daß wir in absehbarer Zeit den Abend irgendwo anders beenden sollten, wenn es keine Gründe mehr dagegen gibt. Dann wird es mir ein großes Vergnügen sein, Ihre Phantasien Wirklichkeit werden zu lassen.«

Mit beiden Händen drückte er sie an sich. Niemand war in der Nähe, und sie würde allein nach oben gehen, und bald schon würde sie ein landauf, landab bekannter Fernsehstar werden. Und daher erwiderte sie gierig seinen Kuß, und ihre Hände erkundeten durch das Hemd seinen Rücken, den sie irgendwann in absehbarer Zeit viel besser kennenlernen würde.

Rühr mich nicht an

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