Читать книгу Rühr mich nicht an - Molly Katz - Страница 6
2. KAPITEL
Оглавление»Er klingt wunderbar.« Kara drückte sie an sich. »Ich fiebere regelrecht mit dir.«
»Er ist derjenige, der für dein Geschenk verantwortlich ist.«
»Hat er das gekauft?« Kara griff zu der Butterschale.
»Nein, die Serviettenringe. Er war dabei, als ich die Butterschale besorgt habe, und als er sie später nochmals erwähnte, habe ich ihm von unserer Gewohnheit erzählt. Und da sagte er dann, daß ich unbedingt zum Farmers Market gehen müsse. Er meinte, daß ich dort Sachen finden würde, gegen die die Butterschale regelrecht altmodisch wirkt.«
Vorsichtig stellte Kara die Butterschale weg und widmete sich wieder dem mexikanischen Essen, das sie sich hatten kommen lassen. Sie tunkte eine Brezel in die Salsa.
»Um Himmels willen! Nimm ein Dorito.« Lynn schob ihr die Tüte zu. »Wir feiern schließlich.«
»Wir können auch ohne Fettklumpen feiern.«
»Uff! Scharf.« Lynn griff nach ihrem Wasserglas.
»Hast du ihm auch von dieser speziellen Gewohnheit erzählt? Daß du immer die schärfste Salsa bestellst und dich dann darüber beschwerst?«
Lynn wischte eine Träne weg. »Sinnlos, den Mann auf einmal mit meinen ganzen Macken zu belasten.«
»Na, das klingt ja toll. Du hast die Konferenzen überstanden und darüber hinaus noch einen netten Typ kennengelernt.«
»Ich kann es selbst noch nicht glauben, daß ich das alles durchgestanden habe. Ich wünschte, du wärst dabeigewesen.«
»Hör mal ... QTV würde doch für die Übernahme keine andere Produktionsleiterin einstellen, oder?«
Lynn blickte auf. »Und wenn, dann würde das sowieso keine Rolle spielen.«
»Würdest du darauf bestehen, daß ich bleibe?«
»Ohne dich würde ich die Sendung niemals machen.«
Sie sah, wie Kara erleichtert die Schultern sinken ließ, und fühlte sich mies. Wieso hatte sie nicht schon früher daran gedacht, ihr den Rücken zu stärken? Wie unsensibel und ichbezogen von ihr, zu vergessen, daß sie nicht der einzige ehrgeizige Mensch beim Fernsehen war.
»Und wie«, sagte Kara, »ist dein neuer Freund mit der Tatsache zurechtgekommen, daß du eine Berühmtheit werden wirst? Keinerlei Schwierigkeiten?«
»Er schien hingerissen von der Idee.«
»Irre!«
»Er ist schlau, witzig, er hört zu. Er ist aufmerksam. Und romantisch.
»Dieser ganze Abend hört sich ja an wie ein Film. Das Meer, der Dunst, der umwerfende Fremde, die Stadtrundfahrt ...«
»Er ist der aller – na ja ...« Lynn senkte die Stimme. »Die Art, wie er mit mir redete ... diese aufreizenden Sachen, die er sagte ... Ich meine, Kara, wie lange habe ich den Mann gekannt, ein paar Stunden? Und da redet er davon, was er im Bett alles machen will, errät meine Phantasien – und ich habe ihm das nicht nur durchgehen lassen, ich habe es genossen. Es ging alles so schnell.«
Kara drückte Lynns Arm. »Du kannst dich beglückwünschen. Wie viele Shows haben wir darüber gemacht, was für Schwierigkeiten Menschen haben, aufeinander einzugehen? Und wer ist dabei wohl Problemkind Nummer eins?«
»Kannst du glauben, daß ich in dieser Nacht am liebsten auf der Stelle mit ihm geschlafen hätte?«
»Du? Nein.«
Lynn lachte. »Na ja, irgendwann mußten meine Träume wohl mal wahr werden.«
»Mehr hast du also nicht gebraucht. Nur das Gefühl, ein Star zu sein.« Kara grinste. »Du solltest mal einen Artikel drüber schreiben. So ein einfaches Rezept dürfte für Cosmo-Leserinnen ein gefundenes Fressen sein.«
Dennis Orrins Büro war voller Bilder von einstigen und derzeitigen Prominenten von Channel 3. Als Lynn die Tür öffnete, hängte er gerade ihr Porträt an die Wand zurück.
»Was soll das werden?« fragte sie. »Zielübungen etwa?«
Dennis wandte sich um. Er kam herüber und drückte sie heftig an sich. »QTV hat angerufen. Sie möchten eine Pilotsendung machen.«
»Ha!« Lynn schlug ihm auf den Rücken.
»Ich wußte es doch. Und Sie hätten es auch wissen sollen.«
»Irgendwie habe ich das ja auch. Aber die haben eine ganze Woche dazu gebraucht.«
»Wie oft muß ich es Ihnen denn noch sagen? Die trödeln ewig herum, bevor sie eine Entscheidung treffen.« Er strich sich mit der Hand über sein stark gelichtetes Haar. »Aber Sie haben QTV davon überzeugt, daß Sie eine Wucht sind. Die halten Sie für eine Art Barbara Walters.«
»Wirklich?«
»Die sind hin und weg von Ihnen. Eine Entscheidung innerhalb einer Woche, das ist, als hätten sie’s über Nacht getan.«
Lynn zuckte mit den Schultern. »Es war wie Zauberei. Sämtliche Gespräche liefen gut. Wir sind alle bestens miteinander klargekommen. Alles hat geklappt.«
»Wie rasch?« Kara griff zu ihrem Notizbuch. »Wo?«
»Ein, zwei Monate. Möglicherweise hier, aber mit einem etwas schickeren Studio, möglicherweise irgendwo anders, falls sie ein größeres Publikum möchten.«
»Und ... ich bin die Produktionsleiterin?«
»Natürlich.«
Kara legte ihr Notizbuch weg. »Vielen Dank.«
»Bedank dich nicht bei mir. Ich bin auf dich angewiesen.«
»Ich produziere eine landesweit ausgestrahlte Pilotsendung. O mein Gott!«
»Und es geht nicht nur darum, daß die Pilotsendung toll sein muß. QTV möchte mit einer Marktanalyse beginnen, so daß jede Sendung, die wir von jetzt an machen, für mehrere Märkte ausgesucht werden könnte.« Lynn ging in ihrem Büro auf und ab. Eine glühende Oktobersonne stach durch das Dreifachfenster. »Ich bin so aufgeregt. Ich kann einfach nicht mehr stillsitzen.«
»Ich habe an einer Liste mit Themen gearbeitet. Damit können wir erst mal anfangen. Oh! Ich habe was vergessen.« Kara stürmte hinaus und kam mit einem riesigen Paket zurück, das sie kaum tragen konnte. Gemeinsam stellten sie es auf den Tisch. Lynn musterte den Aufkleber. »Per Expreß. Aus Los Angeles.«
Kara schlitzte das Klebeband auf, und sie öffneten das Paket. Darin befand sich eine aus leichtem Holz gezimmerte Kiste, unterteilt in lauter viereckige Fächer, in denen jeweils gut geschützt ein Pfirsich lag.
Wunderschöne Pfirsiche, sechs verschiedene Arten.
Lynn schlug die Karte auf.
In Gregs Handschrift stand darauf: Pfirsiche für einen Pfirsich. Fehlt Ihnen L.A.? Ich hoffe es, denn Sie fehlen mir. Alles Liebe. Kuß, Greg.
Kara strich über eine der großen, roten Flaumkugeln. »So was habe ich noch nie gesehen.«
»Das habe ich am Farmers Market auch zuerst gesagt. Und er hat sie geschickt. Was glaubst du, wo er die Kiste herhat? Die mußte er bestimmt anfertigen lassen.«
»Egal, wie er’s gemacht hat, er hat sich jedenfalls ganz schön Mühe gegeben. Dieser Typ mag dich wirklich, Lynn. Und du hast dir Sorgen gemacht, weil er nicht angerufen hat.«
Lynn zwinkerte. »Davon habe ich kein Wort gesagt.«
»Meinst du etwa, nach all den Jahren fällt mir diese verkniffene Warum-ruft-er-nicht-an-Miene bei dir nicht auf? Und nun? Rufst du ihn an?«
»Ich habe seine Nummer nicht.«
»Ich rufe bei QTV an.«
»Danke. Frag nach Vicky Belinski. Sag, du möchtest den Namen dieser Werbeagentur, bei der Greg Alter arbeitet. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.« Sie lächelte. »Ist schon erstaunlich, daß ich mich überhaupt noch daran erinnern kann, auf welchem Planeten ich an diesem Abend war.«
Kara hörte auf mitzukritzeln und ging hinaus.
Lynn nahm einen Pfirsich aus seinem Fach. Die Haut war flaumigweich, wie Samt. Die Farbe reichte von Tiefrot bis Buttergelb. Er hatte gerade die richtige Reife, so daß er unter ihrem Daumendruck leicht nachgab.
Sie kramte in ihrem Schreibtisch herum, suchte etwas, mit dem sie ihn aufschneiden konnte, und stieß auf einen alten Brieföffner. Sie legte den Pfirsich auf eine Serviette, schnitt ein Stück ab und biß hinein. Der Saft tropfte überallhin. Noch nie hatte sie etwas so Köstliches probiert.
Sie aß das Stück auf, schnitt ein neues ab und ging zum Fenster. Während sie geistesabwesend kaute, betrachtete sie den Verkehr elf Stockwerke unter ihr. Er staute sich, wie immer am Spätnachmittag, wenn jeder so schnell wie möglich nach Hause kommen wollte.
Sie sah einem Camaro zu, der von Spur zu Spur wechselte. Letztlich kam er kein Stück voran, da er seine ganze Energie aufs Kolonnenspringen verwandte.
Jahrelang hatte auch Lynn ihre Kräfte auf diese Art vergeudet – ständig in Bewegung, aber ohne jede Richtung. Sie wechselte von Job zu Job, erst beim Radio, dann bei der Fernsehproduktion, und hoffte inständig, irgendwann auf Sendung zu kommen.
Schließlich begriff sie langsam, daß es mit Hoffen allein nicht getan war. Wenn sie eine eigene Sendung wollte, durfte sie nicht einfach herumhängen und darauf warten, daß die Geschäftsleitung zufällig auf sie stieß.
Daher paßte sie auf, lernte, bettelte und brachte sich ständig in Erinnerung, bis Dennis Orrin damit anfing, sie vertretungsweise als Talkmasterin einzusetzen.
Lynn Marchette. Die Person, die am Mikrofon das Sagen hatte, beim Publikum, im ganzen Studio. Keine Schafe. Keine Schweine. Menschen.
Eine großartige Leistung für ein unscheinbares Mädchen aus einer Familie, für die ein Fabrikarbeiter etwas war, zu dem man aufblickte.
Doch sie mußte stets auf der Hut sein, wenn es ihr zu gut ging. Rückschläge konnte sie bestens wegstecken, aber Erfolg ... egal, welcher Dämon in ihr meinte, sie hätte kein Recht darauf, er versuchte jedenfalls nach Kräften, sie davon fernzuhalten.
Wenn ihr etwas Wunderbares widerfuhr – zum Beispiel, als sie endlich eine Chance vor der Kamera bekam, dann ihre eigene Sendung, aber auch das unglaubliche Angebot von QTV oder die Begegnung mit Greg –, konnte es passieren, daß sie Stunden oder Tage hin- und hergerissen war, bis sie sich das Recht auf Erfolg zubilligte.
Sich mit den guten Dingen abfinden ... Das war das Schwerste, schwerer noch, als eine eigene Sendung zu bekommen und sie zu behalten.
Seit ihrer Anfangszeit in Boston, als sie sich selbst kurieren mußte, weil sie sich keinen Arzt hatte leisten können, spielten Tabletten in ihrem Leben eine wichtige Rolle.
Zahnschmerzen waren ein ständiger, zermürbender Begleiter.
Natürlich war kein Geld für zahnmedizinische Behandlung vorhanden gewesen, als sie herangewachsen war. Im Alter von elf Jahren hatte sie vor Zahnschmerzen nicht schlafen können, und wenn es richtig schlimm wurde, ging ihre Mutter am Sonntagnachmittag mit ihr ins Little Red Hen, das einzige Restaurant von Greeneville, wo Dr. Fenton Cabell, der einzige Zahnarzt von Greeneville, sein Mittagessen einnahm. Dr. Cabell legte dann Messer und Gabel weg, ging zur Toilette, wusch sich und ließ sein Schweineschnitzel stehen, während er in Lynns wehem Mund herumstocherte.
Immer wieder verschrieb er etwas für ihren Zahn und bat Lynns Mutter, mit ihr am Montag in die Praxis zu kommen, wo er sie behandeln werde, ohne auf sofortige Bezahlung zu bestehen. Doch die Praxisbesuche fanden nie statt. Wenn das nächstemal wieder akute Zahnschmerzen eintraten, wurde das sonntägliche Ritual einfach wiederholt.
Deshalb war sie bereits weit über zwanzig, als sie zum erstenmal auf einem Zahnarztstuhl saß. Inzwischen allerdings benötigte sie eine überaus umfangreiche Behandlung. Da sie sich die nie und nimmer leisten konnte, ließ sie das wenige machen, was für sie erschwinglich war: hier und da eine Füllung, Zahnstein entfernen und Polieren. Erst als der Zahnarzt die Arme verschränkte und darauf bestand, ließ sie sich auf eine Kieferbehandlung ein.
Doch nach jahrelanger Vernachlässigung ließen die Zahnschmerzen nicht mehr nach, sondern führten zu rasenden Kopfschmerzen. Sie wachte nachts um eins oder zwei auf und mußte so viele Excedrin schlucken – nichts anderes half gegen die Schmerzen –, daß das darin enthaltene Koffein ihre Schlaflosigkeit nur noch verschlimmerte.
Mit der Zeit graute ihr vor dieser Prozedur.
Als sie schließlich bei der Arbeit eindöste, packte sie die Verzweiflung. Damals war sie Produktionsassistentin gewesen. Sie konnte ihren Job verlieren. Wenn sie befördert wurde, soviel war ihr bewußt, würde sie mehr Geld verdienen, und mit diesem Geld könnte sie sich weitere Behandlungen leisten. Doch wenn sie weiterhin um ihren Schlaf gebracht und schließlich gefeuert werden würde, würden ihre Zähne so schlecht bleiben, und die Kopfschmerzen würden nie aufhören.
Deshalb stellte sie sich darauf ein, neben dem Excedrin auch Valium einzunehmen.
Doch ihr Körper benötigte immer mehr Excedrin gegen die Schmerzen, und mehr Excedrin führte zu mehr Valium.
Sie nahm es nur nachts. Doch die Wirkung hielt länger an, als ihr lieb war.
Wann genau aus dem Teufelskreis von Excedrin gegen die Schmerzen und Valium gegen die Schlaflosigkeit eine Abhängigkeit geworden war, wußte sie nicht mehr genau. Lynn wußte nur, daß sie sich an dem Tag, als ihr Bruder am Logan Airport landete, um das zu tun, worauf sie ihn seit ihrem Umzug nach Boston gedrängt hatte – sich hier niederzulassen –, ständig zusammenreißen mußte, damit sie nicht benommen wirkte.
Er hatte Hunger, als er aus dem Flugzeug stieg, deshalb ging sie mit ihm zu einem Friendly’s. Sie bestellten sich Vanilleeis, während sie auf ihre Sandwiches warteten.
»Ich hoffe, deine Bude gefällt dir«, sagte Lynn zum drittenmal.
»Wenn ich mehr als eine Platte zum Kochen habe und die Decke höher als mein Kopf ist, gefällt sie mir«, sagte Booboo. »Nach den letzten ein, zwei Jahren bin ich nicht mehr so wählerisch. In dem ersten Zimmer, das ich nach dem Ausziehen von zu Hause hatte, war ein Loch in der Wand, durch das ein Habicht gepaßt hätte.« Er grinste. »Hab’s mit meinem Kissen zugestopft. Eigentlich hätte ich mir ein neues kaufen müssen, aber ich habe mich daran gewöhnt, ohne eins auszukommen. Heute heißt es, ohne Kissen zu schlafen sei gesünder.«
»Ja«, sagte Lynn. »Ein Kinderarzt hat das mal in der Sendung erklärt. Laß dein Baby von Anfang an flach schlafen, und du ersparst ihm später Rückenbeschwerden.«
Booboo starrte sie an, und sie hatte mit einem Mal Angst, er könnte es an ihren Augen sehen. Um ihm zu zeigen, daß sie so träge gar nicht war, beugte sie sich geschäftig über ihr Eis.
Doch er hatte sie nur aus brüderlichem Stolz angeblickt, nicht argwöhnisch. »Ich kann’s kaum abwarten, in der ersten Reihe zu sitzen, wenn du deine Sendung machst.«
»Ich kann’s kaum erwarten, daß du dabei bist.«
»Meine große Schwester, ein Fernsehstar. Wer hätte das gedacht?«
Spielerisch schlug Lynn mit der Serviette nach ihm, doch sie traf ihn nicht mal annähernd. Zu ihrem Entsetzen, natürlich. Er hatte keine Ahnung, daß sie zwanzig Zentimeter danebengezielt hatte.
Die Wohnung, die sie ihm besorgt hatte, lag in Marblehead. Lynn vertilgte ihr Sandwich bis auf den letzten Krümel, weil sie hoffte, die Wirkung der Droge werde nachlassen und ihre Fahrtüchtigkeit nicht mehr beeinträchtigen, wenn sie erst etwas im Magen hätte. Es funktionierte. Sie fühlte sich bestens, fuhr bestens. Booboo war von ihrer Wahl begeistert.
»Wie weit ist es zum Wasser?« fragte er, als er eines der Fenster öffnete.
»Zwei Straßen. Ist das nicht toll?« Sie schob zwei weitere Fenster auf, zog einen Polstersessel aus Rattan hin und stellte ihn dazwischen. Glücklich ließ sie sich hineinsinken. »Riecht wie in einer Strandhütte. Ich war so aufgeregt, als ich es gesehen habe. Ich kann’s kaum erwarten, bis ich mir eine Bleibe direkt am Wasser leisten kann, mitten in der Stadt.«
»Und wie viele Minuten mußt du noch warten?«
Sie lachten gemeinsam, so, wie sie es immer getan hatten, wenn die Ferkel mit ihren kitzelnden Schnauzen die Leckerbissen, die sie vom Abendbrot aufgehoben hatten, von ihren Händen schleckten.
In diesem Augenblick übermannte sie die Erinnerung. Während sie sich an die frisch riechenden Polster lehnte, konnte Lynn förmlich spüren, wie sich die weich behaarten Schnauzen an ihrer Hand anfühlten.
Statt der Seeluft roch es nun nach Moder. Überall war dieser vertraute Geruch, dieser erdige Duft von dem Morast unter dem Wohnzimmerfenster, der nie ganz trocknete, nicht einmal in einem dürren Sommer, wenn das ganze Gras braun wurde.
Lynn hörte, wie ihre Mutter in der Küche Eier sortierte, vernahm das Klickklick, als sie mit ihren abgearbeiteten Fingern die großen in die blaue und die kleinen in die gelbe Schüssel legte. Und dabei vor sich hin murmelte, daß jetzt so viele kleine dabei seien ... kleinere Hennen, kleinere Eier, alles werde immer kleiner, vor allem der Wert des Geldes in der Haushaltskasse. Was sollte man da bloß machen?
Plötzlich verschwanden der Modergeruch und die Geräusche. Lynn war schwindlig, furchtbar schwindlig. Dorothy und Toto im Wirbelwind. Ihr Magen gluckste, während sich ihr Kopf drehte.
Lynn preßte die Hände an den Bauch, um ihn an Ort und Stelle festzuhalten.
Das Schwindelgefühl hörte auf.
Sie blickte auf ihre Hände, konzentrierte sich darauf, während sie langsam wieder zu sich kam. Sie sah auf ihre Uhr und gab ein tonloses Keuchen von sich.
Acht Minuten waren vergangen.
»Du bist ganz schön weggeknackt.« Booboo saß auf dem Boden und musterte einen Telefonanschluß. »Ich dachte, ich laß dich einfach schlafen.«
Lynn stand auf und ging ins Badezimmer.
Das war kein Schlaf gewesen. Sie wußte ziemlich sicher, was es war: ein Aussetzer. Das, was Säufern passierte.
Wenn sie von Drogen derart benommen war, daß sie einen Aussetzer hatte, dann war sie auch zu benommen zum Autofahren.
Und trotzdem hatte sie einen Wagen gesteuert, in dem ihr Bruder gesessen hatte.
Sie lehnte sich an die verschlossene Badezimmertür und schluchzte leise vor sich hin.
Endlich war sie auf Sendung. Endlich war ihr Bruder hier. Trotz aller guten Vorsätze und einem, wie sie irrtümlich annahm, guten Urteilsvermögen hatte sie etwas getan, das unter Umständen tragisch hätte ausgehen können.
Sie war darüber so erschrocken, daß sie das Valium erbrach.
Doch sobald sie lernte, die quälenden Schmerzen und die Schlaflosigkeit ohne Pillen zu ertragen, stellte sie sich aus lauter Minderwertigkeitsgefühl neue Fallen. Immer wieder war ihr Männergeschmack Gegenstand unaufhörlicher Scherze. Kara sagte, ihr Idealpartner ziehe ständig eine finstere Miene und lebe von der Arbeitslosenhilfe.
Lynn konnte es nicht bestreiten. »Man lasse sechs Männer vor mir antreten«, hatte sie Mary Eli einmal erklärt, einer mit Kara befreundeten Psychiaterin, als diese in ihrer Sendung über das Thema »Schlaue Frauen, törichte Wahl« aufgetreten war, »und ich gehe sofort auf denjenigen zu, der mir den meisten Ärger machen wird.«
Könnte es sein, daß nun auch diese Zeiten vorüber waren? Würde sie sich künftig nicht mehr selbst bestrafen?
Sie wurde von einem der größten und erfolgreichsten Fernsehsyndikate umworben. Ein Mann sagte, sie fehle ihm, dachte an sie, betete sie an, schickte ihr Aufmerksamkeiten – kein ungehobelter Tunichtgut, sondern ein kluger, erfolgreicher, schöner Mann, ein echter Kerl.
Sie hatte, so schien es, beruflich wie auch persönlich eine Glückssträhne.
Lächelnd, den klebrigen Pfirsichkern noch immer in der Hand, wandte sie sich vom Fenster ab und begab sich auf die Suche nach Kara.
Leise knackend schmolzen die Eiswürfel in der schwarzen Glaskaraffe auf Dennis Orrins Schreibtisch. Zu der Karaffe gehörten ein dazu passendes Tablett und zwei modische Kelchgläser. Sie war in Messing gefaßt, das vom Aufwartepersonal stets auf Hochglanz poliert wurde, so wie es auch dafür sorgte, daß sie ständig mit frischem Eis gefüllt war.
Dennis Orrin goß ein und nahm einen Schluck, während er sich das Band ansah, das gerade per Eilboten aus Cleveland eingetroffen war.
Nicht schlecht. Wenigstens konnte der Knabe lesen. Doch auch hier handelte es sich in erster Linie nur um einen weiteren Nachrichtenjüngling, der sich mächtig für einen Videospot abstrampelte, mit dem er sich als Politmoderator empfehlen wollte. Er hatte nur ein kleines Problem: Er war alles andere als erwachsen.
Fünf Monate verblieben ihm noch, um einen zu finden, bei dem man sich darauf verlassen konnte, daß er sich jeden Abend in fernsehgerechter Verfassung präsentierte, und der das gewisse Etwas hatte, jene vertrauenerweckende Autorität, die die Menschen dazu bewegte, vor, nach oder während des Abendessens mit der gleichen schönen Regelmäßigkeit auf Channel 3 umzuschalten, mit der sie jeden Morgen die Einfahrt hinuntertappten und ihre Zeitung aus dem Briefkasten holten.
Er spulte das Band zurück, nahm es aus dem Recorder und legte es auf den Stapel mit der Ausgangspost. Er ging zu seinem Schreibtisch, rief in Cleveland an und verdarb dem Nachrichtenjüngling den Tag.
Er begab sich ins anliegende Bad und wusch sich die Hände; eine alberne Angewohnheit. Schon vor Jahren hatte er festgestellt, daß er das immer tat, wenn er jemanden abwies. Dann hatten irgendwelche Psychologen in der Marchette-Show über allerlei Zwangshandlungen gesprochen, darunter auch das von ihnen sogenannte Händewaschen der Lady Macbeth. Dennis hatte genau aufgepaßt, sich das Gehörte durch den Kopf gehen lassen, einen kleinen Prozentsatz an fernsehüblichem Firlefanz abgezogen und war am Ende ziemlich erleichtert gewesen. Bloß eine komische Angewohnheit.
Wieder an seinem Schreibtisch, besah er sich den Stapel mit den restlichen Kassetten und beschloß, eine Weile zu warten, bevor er sich die nächste vornahm. Wenn er sich zu viele hintereinander ansah, trübte das nur sein Urteilsvermögen.
Er schaute auf Lynns Bild an der Wand.
Flinker Verstand, Sinn für Humor, vor laufender Kamera sogar noch besser als sonst. Eine echte Erwachsene. QTV hatte eine kluge Wahl getroffen.
Vor ein paar Jahren war er eine Zeitlang gar nicht so sicher gewesen, ob Lynn es so weit bringen würde. Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit ... Mehr als einmal hatte er sie schlafend an ihrem Schreibtisch ertappt. Sie hatte ihm anvertraut, daß sie Angst habe, von Beruhigungsmitteln abhängig zu werden, und folglich hatte sie sie abgesetzt.
Jetzt hatte sie das anscheinend hinter sich – zumindest die Sache mit den Beruhigungsmitteln.
Nicht, daß er kein Verständnis dafür aufgebracht hätte. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte er regelmäßig Marihuana geraucht. Er konnte sich noch genau an die unschuldigen Anfänge erinnern, danach der allabendliche Genuß, dann hatte er auch tagsüber zum Kaffee einen Joint geraucht, als handle es sich um eine Zigarette. Danach dann der Joint anstelle der Zigarette.
Letztlich hatte er eine Entscheidung treffen müssen, und er hatte sie getroffen.
Das war seine Stärke – durch die er sich die Karaffe verdient hatte. Seine Fähigkeit, eine Situation zu analysieren und Prioritäten zu setzen. Und genau darauf verwiesen auch die Illustriertenberichte über ihn. Daß er instinktiv zum Telefon greifen und einen erwartungsvollen Knaben in Cleveland anrufen konnte, statt Zeit zu verschwenden, indem er auf die Etikette achtete und einen Brief diktierte.
Daß er es sich aussuchen konnte, ob er ein zwar erfolgloser, aber kreativer Kiffer ohne einen roten Heller sein wollte oder ein gelangweilter, aber hochangesehener Macher mit einer wohlbehüteten Familie.
Er bedachte das Bild von Bern und den Mädchen mit einem leichten Lächeln, goß sich Eiswasser nach und schob eine neue Kassette in den Recorder.
Wußte der Himmel, wie es die drei Stockwerke hochgekommen war, aber von den Samenkörnern angelockt, die sie für die Vögel ausstreute, stattete ein Backenhörnchen ihrem Balkon regelmäßige Besuche ab und ließ sich durch nichts vertreiben. Nachdem sie ein Jahr lang in einem besonders piepsigen Tonfall, den sie und Kara immer als ihre Backenhörnchenstimme bezeichneten, durch die Fliegengittertür mit ihm gesprochen hatte, hatte es angefangen, Lynn aus der Hand zu fressen.
Heute war ihr so leicht ums Herz, daß sie A-Hörnchen mit einem kleinen Stück Pfirsich verwöhnte. Es beschnupperte die Frucht mit zuckendem Schwanz – an der kahlen Stelle erkannte sie es immer –, dann wurde sie vertilgt.
»Ganz meine Meinung«, sagte sie mit piepsiger Stimme.
Als das Telefon klingelte, genoß sie gerade ihren vierten Pfirsich. Sie stellte den Fernseher leiser und rannte zu dem Apparat in der Küche.
»Ich hoffe, Sie sind nicht enttäuscht«, sagte er. »Schmecken sie genausogut, wie sie aussehen?«
»Greg!«
»Wie geht es, Lynn?«
Ihr Herz hämmerte wie verrückt. »Großartig. Und Ihnen?«
»Auch ganz gut. Ich kann’s kaum erwarten, etwas über Ihren Übernahmevertrag zu hören. Gibt’s schon irgendwelche Neuigkeiten?«
»Ich hab’s heute erfahren. Sie wollen eine Pilotsendung machen.«
»Phantastisch!«
»Ich habe schon auf glühenden Kohlen gesessen, aber mein Chef sagt, das sei alles ziemlich schnell gegangen. Sie haben die Pfirsiche also genau zur richtigen Zeit geschickt. Sie sind köstlich.«
»Genau das wollte ich hören.«
»Ich hätte Sie angerufen, aber ich habe Ihre Nummer nicht rausgekriegt, und bei der Agentur wußte niemand, wo Sie stecken. Vielen Dank jedenfalls. Ich hab mich unheimlich gefreut.«
»Ich wollte, daß Sie ein Stück Los Angeles schmecken können. Übrigens, wie sind die Serviettenringe angekommen?«
»Kara war außer sich. Sie hätte es Ihnen persönlich gesagt, wenn sie Sie heute nachmittag erreicht hätte.« Lynn nahm sich einen Stift. »Sagen Sie mir doch Ihre Nummer, wo ich gerade dran denke.«
»Ich weiß was Besseres. Ich komme eben vorbei und gebe sie Ihnen persönlich.«
Lynn ließ den Stift fallen. »Wo – wo sind Sie?«
»Etwa eine Viertelstunde von Ihnen entfernt, wenn ich’s dem Stadtplan recht entnehme. Oder ist es Ihnen morgen lieber? Ich könnte mit Ihnen und Kara zu Mittag essen?«
Lynn lächelte. »Heute abend paßt es mir bestens.«
Er brachte einen Rotwein mit, der ebenso zauberhaft und ungewöhnlich war wie die Früchte.
»Saint Leu«, sagte er, als sie erneut danach fragte, während er den letzten Wein in ihre besten Kelchgläser goß. Vor Aufregung fiebernd sah sie ihm zu. Er war unwiderstehlich.
»Nicht, daß ich bezüglich kalifornischem Wein chauvinistisch wäre«, fuhr Greg fort. »Aber ich wollte etwas Einzigartiges mitbringen, und ich wußte, daß es diesen Wein hier nicht gibt. Er stammt von einem einheimischen Winzer. Schmeckt er Ihnen genauso wie die Pfirsiche?«
»Das ist ...« Sie fing an zu kichern. »Mir fallen nur Äpfel und Apfelsinen ein.«
»Es sind aber Pfirsiche und Trauben«, sagte er.
Lachend ließ sie sich in die Couch zurücksinken. Greg hatte bereits zu Abend gegessen, als er kam, und sie war viel zu sehr mit den Pfirsichen beschäftigt gewesen. Der Cheddar und der Pumpernickel lagen nahezu unberührt auf dem Kaffeetisch.
Bis auf eine kurze Umarmung beim Begrüßen hatte Greg sie noch nicht angerührt. Doch jetzt, als sie ihm so nahe war, hob er ihr Kinn und küßte sie.
Die Erinnerung durchzuckte sie, der Geschmack von Gregs Mund, durch den Wein etwas schärfer, der würzige Duft. Wieder spürte sie diese berauschende Freude, so als beginne für sie ein wunderbares Abenteuer. Gemeinsam mit diesem entzückenden Mann, der seinen Anteil daran hatte und der, was noch wichtiger war, willens und begierig darauf war, Anteil an ihr zu nehmen. Wann hatte sie jemals einen Mann kennengelernt, der sich nicht bedroht fühlte, nicht wütend war oder bestenfalls gleichgültig blieb, wenn sie Erfolg hatte?
Greg zog sie näher zu sich. Sie berührte seine straffe Schenkelmuskulatur. Durch den Wein kühn geworden, schob sie ihre Hand höher, zur Schenkelinnenseite, und spürte, wie er zusammenfuhr.
Er ergriff ihre Hand. Er hielt sie fest und sagte: »Ich habe ein Hotelzimmer. Ich gedenke heute nacht dort zu schlafen.«
Er betrachtete ihr Gesicht.
Ihre Reaktionen, die für Kara so offenkundig waren, waren möglicherweise auch für ihn kein Rätsel. Schließlich sagte jeder, ihre Transparenz sei ein Teil ihrer Stärke. Und da ganz Boston ihre Gefühle deuten konnte, wenn sie einen wegen Kindesmißbrauchs angeklagten Lehrer interviewte oder eine diskriminierte Teenagerlesbe, mußte sie ihm wahrscheinlich gar keine Antwort geben.
Doch sie sagte: »Bleib bitte hier.«
»Ich möchte nicht, daß du denkst, ich hätte damit gerechnet.«
»Das tu ich nicht.«
Er schaute ihr unverwandt in die Augen, während er ihre Hand an seine Erektion drückte.
Er fühlte sich neben ihr im Bett vertraut an, so als sei der Platz die ganze Zeit für ihn reserviert gewesen. Wahrscheinlich hatte sie hier von ihm geträumt und sich nur nicht daran erinnert, bis sie durch das sinnliche Empfinden wieder darauf gestoßen war.
Er liebte sie mit inniger Konzentration, koste ihre Beine und küßte ihre Knie und Knöchel. Lange Zeit strich er mit den Lippen über ihre Schultern und die Innenseiten ihrer Arme, bevor er sich tiefer beugte. Niemals war sie so langsam und methodisch, so selbstlos geliebt worden.
Als sie ihn schließlich an der Schulter berührte, lächelte er und schüttelte den Kopf. »Ich möchte, daß du kommst«, flüsterte er.
Und so gab sie sich Gregs tastender Zunge hin und hielt die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuschreien, als er sie zu einem gleißenden Höhepunkt trieb.
Greg wachte zuerst auf. Er stützte sich auf den Ellbogen und blickte auf sie herab, als Lynn die Augen aufschlug.
»Ich lächle morgens nie«, sagte sie heiser, nachdem sie es erfolglos versucht hatte.
Grinsend setzte er sich auf. »Wie wär’s, wenn ich uns Kaffee mache?«
»Das nützt nichts. Dagegen hilft nichts.«
Er lachte. Im Licht des frühen Tages wirkte er ebenso attraktiv wie bei Nacht; eher noch mehr, denn die kleinen Fältchen und Unregelmäßigkeiten machten ihn menschlicher.
Lynn wußte aus Erfahrung, daß ihr Gesicht blaß und verquollen war. In einer der zahlreichen Illustrierten, die auf ihrem Schreibtisch gelandet waren, hatte Cindy Crawford behauptet, auf diese Weise wüßte sie, daß sie geliebt werde: Ihr Mann konnte ihr auch morgens bewundernd ins Gesicht sehen.
Greg mußte auf der gleichen Schule gewesen sein. Er blickte Lynn jetzt an, als sehe sie allen Ernstes so aus wie immer.
Befangen setzte sie sich auf und schlüpfte in ihre Pantoffeln. »Ich geh mich waschen«, sagte sie mit einem letzten, vergeblichen Versuch zu lächeln.
Sie saßen auf den hohen Hockern an der Frühstückstheke in ihrer Küche. Dieser Bereich war, wie der Großteil der Wohnung, so gestaltet, daß man die Aussicht restlos genießen konnte. Durch die Fensterfront sah man auf den Hafen; ein Schleppkahn zog vorbei, verfolgt von kecken Möwen.
Genau so eine Szene hatte sie sich vorgestellt, als sie eingezogen war – hoffnungsvoll, naiv, Gefühle wie aus dem Werbeprospekt: ein Mann auf dem Hocker neben ihr, der vor der Arbeit ein paar zärtliche Momente mit ihr teilte, während die Sonne das Panorama voll zur Geltung brachte.
»Kannst du dir nicht heute mal freinehmen?« fragte Greg.
Lynn schüttelte den Kopf. Ihre Haare waren gezähmt, Gesicht und Kleidung in Ordnung; sie war so gut wie aufbruchsbereit.
»Dann einen halben Tag. Bloß morgens und zum Mittagessen. Dann lasse ich bis zum Abend von dir ab.«
»Ich kann wirklich nicht.« Sie griff in einen Blumentopf, wo sie alles mögliche aufbewahrte. »Nimm den Schlüssel. Dann kannst du ausgehen, dich umsehen und zurückkommen, wenn du genug hast.«
Er steckte ihn ein, trank einen Schluck Kaffee. »Darf ich raten? Du gönnst dir nicht viel Urlaub.«
»Aber natürlich. Ich versuche, jedes Jahr vier Wochen einzuschieben; wenn ich’s brauche, auch mehr. Ich gehe mit anderen Leuten auf Reisen, manchmal auch allein. Aber wenn ich hier bin, arbeite ich sehr hart.«
»Okay«, sagte Greg. Er stand auf, legte die Hände in den Nacken und reckte sich. Es waren wunderschöne Hände, groß und ausgeprägt, mit breiten Fingern. Während sie sie betrachtete, erinnerte sich Lynn überdeutlich, wie behutsam und wissend sie sie berührt hatten.
Sie wandte sich ab und leerte ihre Tasse. »Danke für den Kaffee«, sagte sie.
»Ist doch gar nichts.«
»Nein?«
»Nein. Wenn du dir den halben Tag freinimmst, würde ich dir mal ganz andere Sachen spendieren.«
Lynn holte ihren Mantel aus der Garderobe und öffnete die Haustür. Strahlend fiel das Sonnenlicht in den Flur, durchdringender Meeresgeruch hing in der warmen Luft. Durch das Flurfenster war der Schleppkahn zu sehen, der jetzt so weit entfernt war, daß man die Möwen nicht mehr erkennen konnte.
Wieder die Erinnerung an dieses hoffnungsvolle Gefühl. Endlich erlebte sie dieses Bild aus ihrer Vorstellung.
»Ach, zum Teufel«, sagte sie.
Sie zeigte ihm die Hafengegend mit den modernen Häusern, alle so ähnlich wie das, in dem sie wohnte, die Hotels, Restaurants und Läden. Ein kühler Wind wehte, doch die Sonne war kräftig, und Lynn empfand einen tiefen Stolz auf ihre Heimatstadt. Greg kam aus einer Gegend, in der Jacaranda und Palmen gediehen; hier war die andere Seite des Kontinents, eine völlig andere Welt.
Sie besorgten sich Kaffee in Plastikbechern, und der Wind verwehte den Dampf, während sie dahinspazierten und ab und zu einen Schluck tranken. In einem Souvenirladen kaufte Lynn für Greg einen Gemüsetopf aus Keramik mit einem Dorsch als Deckel.
»Heißt das, daß ich jetzt bei eurem Spiel dabei bin?«
Sie nickte. »Du mußt ihn auftischen, wenn du Gäste hast – vorzugsweise mit Bohnen.«
»Und nicht verraten, daß es ein Scherz ist.«
»Du darfst gar nichts sagen.«
Greg lachte. »Er ist so ...«
»Kitschig. Je schriller, desto besser. Kara hat mir aus Maine mal eine Sonnenbrille in Form von zwei Hummerscheren mitgebracht und mich gezwungen, sie am Strand zu tragen.«
»Da wir gerade davon sprechen ...« Greg trank seinen Kaffee aus und warf ihre beiden Tassen in einen Papierkorb. Er stand vor Lynn und nahm ihr sanft die Sonnenbrille ab. »Besser«, sagte er.
»Was soll das?«
»Du hast tolle Augen. Ich schaue sie gern an.«
»Eigentlich sollte man sie tragen, damit man vom Blinzeln keine Falten bekommt«, sagte Lynn, doch sie steckte die Sonnenbrille ein.
»An Falten ist nichts auszusetzen. Wir verdienen sie uns. Schau dir das an.«
Er war vor einem Geschäft mit Bademoden stehengeblieben und deutete auf einen grün-schwarzen Badeanzug im Schaufenster. Es war eine Art einteiliger Bikini, dessen Ober- und Unterteil vorne und hinten durch einen silbernen Ring an der Taille miteinander verbunden waren.
»Komm, wir gehen rein«, sagte er.
Lynn schüttelte den Kopf.
»Ach, komm schon. Probier den Badeanzug mal an. Du hast mir ein Geschenk gekauft. Jetzt möchte ich mich revanchieren.«
»Machst du Witze? Badeanzüge anprobieren ist schon schwer genug, wenn man allein ist. Das ganze grelle Licht ... du weißt schon. Niemals.«
Er fuhr mit den Händen unter ihren Mantel. »Hast du etwa vergessen«, sagte er in gespielt verletztem Ton, »daß ich genau weiß, was ich bei diesem Licht sehen werde?« Er streichelte ihre Taille. »Deswegen weiß ich ja, daß du wunderschön bist. Ich sehe diesen Badeanzug und kann mir deine Formen darin vorstellen.«
Das Licht in der Umkleidekabine war angenehmer, als sie erwartet hatte, aber nicht so gedämpft wie in ihrem Schlafzimmer, und sie rümpfte die Nase, als sie in den Spiegel sah. Sie wünschte, ihre Arme wären fester. Doch nachdem sie sich von allen Seiten gemustert hatte, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und kam aus der Kabine.
»Herrgott«, stieß Greg hervor, während er sie von Kopf bis Fuß mit seinen Blicken verzehrte. Langsam ging er um sie herum. Die Verkäuferin, die mit der Fensterauslage beschäftigt war, blickte auf und zwinkerte Lynn zu.
»Gefällt er dir?« fragte Lynn.
»Ob er mir gefällt?« Er wollte noch etwas sagen, verkniff es sich aber und zuckte mit den Schultern. »Alles, was ich sagen möchte, ist nicht jugendfrei.«
»Zu komisch, um diese Jahreszeit einen Badeanzug zu kaufen.«
»Du wirst wieder nach Los Angeles kommen. Dort braucht man immer einen Badeanzug.«
»Ich weiß es nicht. Auf Dienstreisen gibt es immer zu viele Termine, um schwimmen zu gehen.«
»Nicht dienstlich.« Er sprach in Lynns Ohr, sorgfältig darauf bedacht, seine Hände im Zaum zu halten. »Zum Vergnügen. Und dann wirst du bei mir wohnen.«
»Oh«, sagte sie überrascht.
»Nimm den Badeanzug«, drängte er.
»Na gut. In Ordnung.«
»Star ...«, flüsterte er. »So nenne ich dich insgeheim.«
Greg zückte seine Brieftasche und wollte zur Kasse gehen.
»Nein«, sagte Lynn rasch. »Ich zahle.«
Er wandte sich um. »Eigentlich sollte das ein Geschenk von mir sein.«
»Danke. Aber das möchte ich lieber nicht.«
Als sie wieder vor dem Spiegel in der Umkleidekabine stand, sah sie sich mit anderen Augen. Erstaunlich, wie sich das Wahrnehmungsvermögen veränderte, wenn man bewundert wurde. Jetzt sah sie ihren Körper mit Gregs Augen, sah die weichen Kurven.
Wahrscheinlich hätte sie sich mit dem Bezahlen nicht so zickig aufführen sollen. Er wollte einfach nett zu ihr sein. Susan Faludi würde schon nicht mit Polizeimütze irgendwo hervorgesprungen kommen und ihr einen Strafzettel verpassen.
Es klopfte, und Greg kam mit einem anderen Badeanzug herein. »Ich habe der Verkäuferin gesagt, daß ich dir den zum Anprobieren bringe«, sagte er. Er legte ihn auf einen Stuhl. »Ich habe eine Ausrede gebraucht, um hierherzukommen. Jetzt müssen wir also ein bißchen Zeit vergehen lassen.« Er streifte ihr die Träger des grünen Badeanzuges herunter.
»Also weißt du«, flüsterte Lynn an seinem Hals. »Ich kann nicht glauben, daß ich das –«
Sein Mund brachte sie zum Schweigen. Er schob den Badeanzug ganz herunter, umfaßte ihren bloßen Hintern und preßte sein Becken an sie.
Lynn schlang die Arme um ihn und sah sich kurz im Spiegel – nur ein flüchtiger Eindruck von Gregs Fingern an ihren Brüsten.
Sie vergaß sich eine Zeitlang, während sie sich hitzig aneinander rieben. Er war vollständig bekleidet, sie war so gut wie nackt, und sein Sakko fühlte sich köstlich rauh auf ihrer Haut an.
Er drehte sich etwas, so daß er in den Spiegel blicken konnte, und Lynn spürte die Veränderung an seinem Körper. Er ließ sie los und öffnete den Gürtel.
»Das geht nicht«, flüsterte Lynn und trat einen Schritt zurück. Sie griff zu ihrem Pullover und hielt ihn vor sich.
»Aber –«
»Wir sind in einem Geschäft.«
Er seufzte. Lynn konnte sehen, daß er sich mit aller Macht zusammenriß. Er lächelte leicht. »Und du hast dir Gedanken wegen dem Licht gemacht.«
Sie spazierten gemeinsam über den Quincey Market, probierten Käse und Schokolade, stöberten in den Läden herum.
»Schau dir das an«, sagte Greg. »Hier kannst du alles kriegen, vom Paßbild über Movado-Uhren bis zum Brillanten als Nasenschmuck.«
Er nahm einen Ohrstecker aus Aquamarin von einer Auslage und hielt ihn so, daß er glitzerte. Er hob ihn an Lynns Ohr. »Perfekt. Er paßt zu deinem neuen Badeanzug.«
»Ich habe keine Löcher in den Ohren.«
»Nein? Wahrscheinlich kannst du das hier machen lassen. Aha, da ist das Schild. ›Ohrlöcher bei Kauf kostenlos‹.«
Lynn verzog das Gesicht.
»Laß dich von mir verwöhnen«, redete er ihr zu.
Doch sie hatte keine Lust, sich Ohrlöcher machen zu lassen. Sie hatte so viele hübsche Ohrclips.
»Dann irgendwas anderes. Du wolltest mich den Badeanzug nicht bezahlen lassen – wie wär’s also mit einem Geschenk, das dazu paßt?« Er berührte ihre Wange. »Du weißt gar nicht, wie großartig ich die Zeit mit dir in den letzten« – er blickte auf seine Uhr – »fünfzehn Stunden fand. Eine ganz besondere Zeit. Vielleicht ist es ja bedauerlich, daß wir in einer Gesellschaft leben, in der man seinen Dank durch Geschenke ausdrückt – aber wir tun’s nun mal.« Er grinste. »Also, laß mich Geschenke kaufen.«
Sie spazierten noch eine Weile weiter. Ein silberhaariger Mann winkte Lynn zu, zwei Collegemädchen lächelten scheu.
»Die Leute erkennen dich!« sagte Greg.
»Hmm.«
»Ist das toll!« Er drückte ihre Hand. »Bekomme ich auch zu sehen, wie du jemandem ein Autogramm gibst?«
»Möchtest du das denn?«
»Ich kann’s kaum erwarten.« Plötzlich blieb er stehen. »Schau.«
»Was sollte ich denn sehen?«
»Das Tattoostudio.« Er zog sie hin zu dem Laden. Das Schaufenster war voller Fotos von Körperteilen in unglaublichen Farben, die an glänzenden silbernen und rosa Schnüren hingen. Eine kreisende Kugel warf rosa Licht auf Schultern und Knöchel, so daß die kleinen Bilder darauf angestrahlt wurden.
»Ja«, sagte Greg, »ja.« Er tätschelte Lynns Schulter. »Vielleicht genau hier. Oder an deinem Fuß. Irgend etwas Zartes und Damenhaftes.«
Lynn wandte sich ihm mit aufgerissenen Augen zu.
Er öffnete die Ladentür.
»Soll ich da etwa hineingehen?« fragte sie.
»Du sagst zu oft nein«, sagte er und zerrte sie hinein.
Sie gingen über einen tiefen silbergrauen Florteppich. Tätowiermotive schmückten die Wände. Leise plätschernde Musik, die »Appassionata«, ein Duft wie Jasmintee.
Eine elfengleiche Frau in einem Nadelstreifenkostüm arbeitete an einem Schreibtisch; ein weißer Kittel hing über der Stuhllehne. Sie blickte auf und lächelte, wobei sich riesige Grübchen auf ihren Wangen bildeten. »Guten Morgen.«
»Guten Morgen«, sagte Greg. »Meine Freundin interessiert sich für eine Tätowierung.«
»Das stimmt nicht. Ich meine ...« stammelte Lynn, die nach einer Möglichkeit suchte, wie sie sich aus der Affäre ziehen konnte, ohne allzu ablehnend zu klingen. »Ich bin, äh, bloß interessiert. Aber nicht –«
»Sehen wir uns doch die Motive an«, sagte Greg.
Die Frau führte sie zu einer Wand, die eindeutig auf den weiblichen Geschmack abzielte, mit diskreten Blumenmotiven und anderen Formen, durchaus künstlerisch und geschmackvoll. Es gab Initialen, einzelne und doppelte, einige leicht verschnörkelt, ein Auge mit langen Wimpern, Herzen, Katzen, Sterne, Notenzeichen.
»Die sind sehr beliebt«, sagte die Frau und deutete auf eine Reihe von Blumen: eine Lilie, eine Tulpe, eine Chrysantheme.
Greg musterte sie im Vorbeigehen. Er streckte die Hand aus und tippte auf einen mit zartem Strich ausgeführten, etwa zwei Zentimeter großen Kußmund. »Der gefällt mir«, sagte er.
Die Frau nickte. »Sehr hübsch. Ein bißchen gewagt, aber zugleich zurückhaltend. Sehr ausgefallen.«
Greg wandte sich an Lynn. »Und?«
»Tja«, sagte sie. Sie holte tief Luft. Eigentlich war sie nicht gerade gesprächig.
Die Frau lächelte. »Vielleicht haben Sie ja ein paar Fragen?«
»Ja.« Endlich. »Ist es auch wirklich sicher? Wie lange dauert es? Wird es weh tun?«
»Es tut ein bißchen weh. Eher eine Art störendes Kratzen. Im allgemeinen sind die Leute erleichtert, daß sie keine Nadeln spüren. Was die Sicherheit angeht«, sagte sie und ging zurück zu ihrem Schreibtisch, »können Sie sich das hier durchlesen. Zusätzlich zu den üblichen Verfahren habe ich meine eigenen Sicherheitsvorkehrungen.« Sie hielt ihr eine Broschüre hin. »Das Motiv wird etwa eine Stunde dauern.«
Lynn wollte sich ihre Erleichterung nicht anmerken lassen. »Oh, dann geht es nicht. Ich bin schon überfällig.«
»Wir kommen wieder«, sagte Greg. »Um welche Zeit schließen Sie?«
»Um sechs. Ich kann Ihnen jetzt aber auch ein Semi machen. Das dauert nur fünf bis zehn Minuten.«
»Was genau ist ein Semi?« fragte Lynn.
»Das gleiche Motiv, aber es geht nicht so weit in die Haut. Ich benutze Nadeln mit pflanzlicher Farbe.« Sie hielt ein spitzes Gerät hoch. »Es hält ein paar Wochen, dann verblaßt es allmählich.«
»Wir sollten lieber später wieder herkommen und es richtig machen lassen«, sagte Greg.
»Es geht wirklich nicht, nachdem ich mir jetzt schon den ganzen Morgen freigenommen habe«, sagte Lynn. Sie hatte jetzt angebissen, genoß das Abenteuer – zumal sie nun wußte, daß es sich nicht um eine Entscheidung fürs ganze Leben handelte. »Okay, ich habe mich entschieden. Ich möchte das Semi.«
Nachdem Kara das Telefon in Lynns Büro aufgelegt hatte, blieb sie eine Minute stehen und lächelte den Apparat an. Dann schaute sie auf die Uhr, warf einen gehetzten Blick in den Raum und entschied sich rasch, wozu sie noch Zeit hatte. Die Stapel von Videobändern auf dem Fußboden neben der Couch mußten bleiben; sie wollte lieber warten, bis sie soviel Zeit hatte, sie einzuordnen, als sie einfach wegzupacken. Aber sie konnte Lynns Schreibtisch und die anderen Tische aufräumen.
Was für eine angenehme Überraschung es doch war, den ganzen Morgen hier allein sein zu können, um den Schrott aus dem Weg zu schaffen. Das konnte sie nur tun, wenn Lynn nicht in der Nähe war, die Hände rang und sich stöhnend beklagte, daß sie nur in ihrem Chaos etwas finden könne.
Was für eine wunderbare Wende des Schicksals für Lynn, dachte Kara. Jetzt hatte sie jemanden, für den sie sich Zeit nehmen konnte.
Vor allem aber dachte sie an die Freude, die sie ihr bereiten würde, wenn sie die Neuigkeit weitergab, von der Dennis ihr eben am Telefon berichtet hatte: Die Entscheidung war gefallen – die morgige Show würde für den Markttest verwendet werden.
Lynn würde jubeln, mit jedem weiteren Schritt wurde die Übernahme für sie ein Stück wahrscheinlicher. Und Karas Lächeln wurde noch breiter, wenn sie sich den Abspann vorstellte, der nächste Woche in einem halben Dutzend Großstädte zu sehen sein würde: AUFGEZEICHNET VON WDSE-TV, BOSTON. Und etliche Zeilen darunter: PRODUKTION – KARA MILLET.
Wieder blickte sie auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten, dann mußte sie aufbrechen, um sich mit Lynn und ihrem neuen Typ zum Mittagessen zu treffen. Sie wollte den Schreibtisch noch aufräumen, sich die Staubklumpen aus den Haaren bürsten, in die neue Ersatzbluse schlüpfen, die sie im Schrank hängen hatte. Damit sollte ihr noch genug Zeit bleiben, ihre Schwestern anzurufen und ihnen die Neuigkeit zu erzählen – danach ihre Mutter, damit ihre Mutter es nicht schon vorher ausplaudern konnte.
Kara hob ihr Weinglas. »Auf die landesweite Ausstrahlung der Lynn-Marchette-Show.«
»Ich weiß was Besseres«, sagte Greg und hob seines. »Auf die neue Talkmasterin mit den landesweit höchsten Einschaltquoten.«
Lynn lächelte. »Muß ich jetzt irgend etwas Bescheidenes und Inmichgekehrtes von mir geben?«
»Machst du Witze?« sagte Kara. »Ich glaube, du brauchst ’nen Arzt.
»Wann nehmt ihr die Pilotsendung auf?« fragte Greg. »Haben die schon ein Datum festgelegt?«
Lynn schüttelte den Kopf. »Nicht in den nächsten ein, zwei Monaten. QTV will die morgige Sendung in Chicago, in Los Angeles und ein paar anderen Orten zeigen. Sie haben sich ein gutes Thema ausgesucht – Ärztinnen diskutieren über weibliche Gesundheitsfragen, die von ihren männlichen Kollegen als nicht existent abgetan werden. Also überlassen sie einigen großen Fernsehsendern das Band und bekommen dafür die Einschaltquoten. Die analysieren sie dann und konferieren und trödeln herum und konferieren noch mal ...«
»Du wirkst nicht besonders fröhlich.«
»Es ist frustrierend. Ich weiß ja, daß sie Zeit brauchen, um alles unter Dach und Fach zu bringen. Die möchten, daß ihre wichtigsten Vertragspartner Interesse zeigen. So sehe ich es jedenfalls, wenn ich mich zwinge, professionell zu denken.«
»Aber Tatsache ist«, sagte Kara, »daß wir es nicht erwarten können. Wir lechzen regelrecht danach.«
»Ich möchte unbedingt, daß sie mich täglich bringen, landesweit, morgen schon. Am liebsten noch heute.«
Lynns Salat kam, und sie biß in eins der langen Blätter.
Kara starrte sie an.
»Was ist los?« sagte Lynn.
»Das stinkt vielleicht nach Knoblauch. Das haut mich ja hier drüben noch um.«
»Oh.« Lynn blickte schuldbewußt zu Greg hinüber.
Greg löste das Problem auf die gleiche Weise, wie er alles hinbekam, bevor auch nur ein Hauch von Zweifel aufkommen konnte. Er nahm sich ein Salatblatt und steckte es in den Mund. Genüßlich kauend blickte er erst Lynn an, dann Kara.
»Ich glaube«, sagte Kara, »ich setze mich an einen anderen Tisch.«
»Er ist großartig.«
»Das ist er, nicht wahr?«
Kara blinzelte ihr zu. »Keine schlechten Neuigkeiten, von denen ich noch nichts weiß? Keine üblen Angewohnheiten?«
Lynn lachte. »Nein, es sei denn, für dich fällt darunter auch, daß er überall, wohin er geht, seine Bonbonpapierchen fallen läßt.«
»Ist er genauso scharf, wie er aussieht?«
Lynns Gesicht lief rot an, als sie die Erinnerung an letzte Nacht überkam – und an heute morgen in der Umkleidekabine. »Er muß sämtliche Illustrierten gelesen haben, alle Artikel über das, was Frauen mögen.«
Kara lächelte. Lynn sah im Spiegel der Damentoilette zu, wie Kara mit einer Zahnbürste ihre Augenbrauen glattstrich. Es war ein altes, angegammeltes Ding, mit dem Lynn sie schon während ihrer gemeinsamen Zeit als Produktionsassistentinnen ihre Augenbrauen hatte bürsten sehen.
Beim Gedanken an ihre innige Vertrautheit wurde ihr warm ums Herz.
»Fällt dir irgendeine Veränderung an mir auf?«
»Meinst du das Lächeln? Die gute Laune? Den Umstand, daß du einen Mann schort seit einer Woche kennst und er dich noch nicht um Geld angepumpt hat?«
»Ich meine das hier.« Lynn hob den Fuß. Unter ihrer Strumpfhose, einige Zentimeter über dem Knöchel, prangte ein blaues G im Art-déco-Stil. Darunter befand sich, in Umrissen, ein volles, rotes Lippenpaar.
Kara schluckte. »Wann hast du das denn machen lassen?« Sie beugte sich tiefer.
»Heute morgen. War Gregs Idee. Es ist ein Geschenk.« Sie lachte. »Er hat das Motiv ausgesucht. Er bezeichnet es als Kuß für unterwegs.«
»Es ist hinreißend. Hat es weh getan?«
»Nein. Es ist eigentlich gar keine echte Tätowierung mit Nadel und so – man nennt es semipermanent, es ist mit Biofarben gemacht. Nach ein paar Wochen geht es wieder weg.«
Kara richtete sich auf. »Ein ungewöhnlicher Mann. Wie lange will er in der Stadt bleiben?«
»Bloß noch zwei Tage. Er hat ziemlich oft geschäftlich hier zu tun. Ich kann mich gar nicht erinnern, daß er mir das in Los Angeles erzählt hat«, sagte Lynn und löste ihr Haar, so daß sich die langen Locken seitlich auf ihre Schultern ringelten. »Aber an dem Abend hätte mich Tom Brokat auffordern können, mit ihm und Bryant Gumbel in eine Wanne zu steigen, und ich wüßte es auch nicht mehr.«
»Dann kannst du nur froh sein, daß dir das nicht passiert ist.«
»Gehen wir noch einmal die morgige Sendung durch. Ich kann kaum glauben, daß ich mir am Tag vor so etwas Wichtigem einen Vormittag freigenommen habe.«
»Du hast es ja gar nicht gewußt. Aber mach dich nicht verrückt, okay? Die Show steht.«
»Und ich muß um sechs gehen.«
»Laß mich raten«, sagte Kara. »Abendessen mit dem Kuß für unterwegs.«
»Genau. Und rate mal, mit wem noch?«
»Wen gibt’s denn noch? Mary? Dennis?«
Lynn schüttelte den Kopf. »Booboo.«
Kara starrte sie an. »Schon?«
»Meinst du, es ist zu früh?«
»Ich muß dich mindestens schon ein Jahr gekannt haben, bevor du mich deinem Bruder vorgestellt hast. Ich nehme an, ich bin einfach – geschockt, daß du es so ernst meinst, daß alles so schnell geht.«
Lynn ließ ihre Handtasche zuschnappen. »Ich stelle ihn nun ja nicht gerade meiner Familie vor. Als ich letztes Mal bei meinem Bruder war, haben wir uns verabredet, und ich sage ungern ab. Du weißt doch, wie Angela ist.«
»Soll sie doch sauer sein.«
»Das kann ich nicht machen.«
Kara folgte Lynn in ihr Büro. »Dein Bruder und deine Schwägerin führen ihr eigenes Leben. Du führst deines. Du bist am meisten eingespannt, vor allem jetzt. Es ist dein gutes Recht –«
Lynn brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn man so gut wie keine Familie mehr hat. Du hast scharenweise Schwestern und Angeheiratete um dich. Alles, was ich habe, sind mein Bruder und seine Frau. Ich möchte nicht für Unmut sorgen. Kannst du das verstehen?«
»Hmm.«
»Jetzt bist du sauer.«
Kara lächelte. »Ich bin nicht sauer. Dann beeil dich. Du hast entschieden, Greg mit zu Booboo und Angela zu nehmen.«
»Ich wollte Greg erzählen, ich hätte einen Abend lang zu tun. Dann dachte ich mir, Angela drängt mich ständig, jemanden mitzubringen – jetzt tue ich ihr eben den Gefallen.«
Angela kam in die Küche und rümpfte die Nase. »Das riecht ja furchtbar.«
Booboo grinste. »Knoblauch. Kleingehackt. Zwei ganze Eßlöffel. Deswegen kommen meine mexikanischen Gerichte ja immer so gut an. Ich rechne jeden Tag damit, daß das Gourmet-Magazin darum bittet, hier eine Fotosession machen zu dürfen.«
»Ich spray mal kurz«, sagte sie und ging hinaus.
Kurz darauf hörte er es zischen, als sie ihr Lieblingsraumspray benutzte. Frühlingsregen. Das Geräusch hörte auf, fing wieder an, hörte auf und fing wieder an, während sie sich Wohn-, Eßzimmer und Diele vornahm.
»Werden Lynn und ihr Freund die Nacht über hierbleiben?«
»Nein«, sagte Booboo. »Sie hat morgen eine wichtige Sendung.«
Angela kam in die Küche und sprach über die Schwingtüren hinweg. »Dann ist das aber nicht gerade der beste Abend, mit einem neuen Freund auszugehen.«
Achselzuckend hackte er Chilischoten klein. »Sie scheint alles im Griff zu haben.«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Angela zweifelnd.
»Na, wir werden sehen. Dieser Mann hört sich ja ganz nach einem Gentleman an.«
»Er ist aus Kalifornien.«
»Na dann«, sagte Booboo. »Dort gibt’s noch welche.«
»Meinst du, ich sollte einen Krug Wasser auf den Tisch stellen? Bei dem ganzen scharfen Essen –«
»Hmm. Wirf ein paar Eiswürfel rein und Zitronenscheiben.«
Sie holte eine Zitrone aus dem Kühlschrank. »Ist die gewaschen?«
»Ja.«
»Bist du sicher? Da ist ja noch der Aufkleber dran.«
»Dann vielleicht doch nicht. Wie sagte sie, heißt er? George?«
»Greg.« Sie beäugte seine Khakihose und das T-Shirt. »Willst du dich nicht noch umziehen?«
»Sobald ich die Soße fertig habe.«
Greg bügelte ein Hemd, während er darauf wartete, daß er unter die Dusche konnte. Lynn bewahrte das Bügeleisen im Schlafzimmer auf, ebenso wie ein handliches kleines Bügelbrett ohne Beine, das auf einem Marmortisch stand. Müßig betrachtete er, während er arbeitete, die anderen Gegenstände darauf – eine Reihe Bücher zwischen Buchstützen in Form von Fabelwesen, ein Schmuckkästchen mit Glasdeckel, ein paar gerahmte Fotos.
Auf dem einen waren Kara und Lynn am Strand zu sehen, hinter ihnen Palmen. Lynns Haare waren kürzer. Karas sahen ebenfalls anders aus. Er mußte genau hinschauen, um den Unterschied festzustellen: lauter kleine Zöpfchen mit Perlen.
Das größere Bild zeigte eine Menge Menschen bei einem Fest, darunter auch Lynn und Kara mit einem glatzköpfigen Mann im Frack, der einen Preis in der Hand hielt.
Am Ende des Marmortisches stand eine Collage aus mehreren Fotos, darunter auch ein paar schwarzweiße. Er stellte das Bügeleisen ab, nahm die Collage und musterte sie.
Die hier waren anscheinend alle von Lynn und ihrem Bruder. Und das mußten die Eltern sein; auf ein paar neueren Schnappschüssen war eine andere Frau zu sehen, vermutlich Lawrences Frau – wie hieß sie doch gleich? Angela.
Lawrence war ein Hüne, zwei Köpfe größer als Lynn. Schien schon so zur Welt gekommen zu sein; es gab kein einziges Bild, auf dem er klein wirkte. Komisch, daß dieser Riesentyp so einen kindischen Spitznamen hatte.
Auf den Kinderbildern war Lynn ein spindeldürres Mädchen in zu großen Hosen und Kleidern. Selten saß oder stand sie gerade; immer hatte die Kamera sie geduckt erwischt.
Schon erstaunlich, wie manche Frauen sich entwickelten.
Er wollte ihr bei der Arbeit zusehen, hatte sie gedrängt, ihn zu der morgigen Sendung mitzunehmen. Aber nein. Nicht zu dieser Sendung, nicht bei all dem Druck.
Ein andermal.
Er zog den Bügeleisenstecker heraus und hängte das Hemd auf einen Kleiderbügel.
Aus seiner Kindheit gab es keine Bilder. Seine Eltern hatten keinen Fotoapparat besessen – und auch kein Haus, kein Land, kein Auto, nicht einmal einen Kochtopf. Sie waren Landarbeiter gewesen, das, was das höhergestellte Immobilienverwaltungspersonal als »Ackersklaven« bezeichnete – denn braune Äcker waren genau das, wozu grünes Gras unter der unerbittlichen Sonne Kaliforniens wurde, wenn keine Arbeiter da waren, die es bewässerten.
Er hatte seine Kindheit auf einer ganzen Reihe luxuriöser Anwesen bei Aguanga zugebracht, da seine Familie vom einen zum anderen zog, je nachdem, welcher Landbesitzer sie gerade benötigte. Sein Zuhause waren alle möglichen Bretterverschläge gewesen, wie sie den Landarbeitern zugeteilt wurden; die Ackersklaven bekamen den wenigsten Platz. So war es für Greg und seine Eltern und Schwestern keineswegs ungewöhnlich, daß sie sich mit zwei weiteren Familien ein Zimmer teilen mußten.
Dieses Leben war seit langem vorüber. Heute wohnte er in einer feudalen Fünfzimmerwohnung aus Chrom und schwarzem Glas und mit sämtlichem Kochgeschirr, das er nur wollte. Doch er ging niemals an einem der herkömmlichen Ranchhäuser alter Familien vorbei, ohne an die alten Zeiten zu denken.
Lynn war nervös, doch Greg war es anscheinend nicht im geringsten. Er tat so, als bemerke er nicht, daß Angela ihn von Kopf bis Fuß musterte und abschätzte. Trotz ihrer ständigen Nörgelei wirkte Angela nun, da Lynn tatsächlich jemanden mitgebracht hatte, ausgesprochen fürsorglich.
»Arbeiten Sie etwas?« fragte sie Greg, als er sich gerade eine weitere Portion von Booboos Guacamole nahm.
»Natürlich arbeitet er«, sagte Lynn. »Er ist in der Werbung.«
»Nein, bin ich nicht«, sagte Greg.
Lynn zwinkerte. »Aber – du bist doch geschäftlich hier.«
»Ja. Aber nicht wegen Werbeaufträgen.«
Langsam verstrich Lynn etwas Spinattunke auf einem Cracker, bis keine Fäden mehr herunterhingen.
»Und was machen Sie genau?« fragte Booboo freundlich.
»Ich bin leitender Angestellter bei Texaco. Ich bin für die Geschäftsverbindungen mit den Großtankstellenbesitzern im ganzen Land zuständig.«
Booboo nickte. »Sie sorgen dafür, daß alles läuft.«
»Genau. Und ich höre mir ihre Klagen an und ermutige sie ...«
Achselzuckend lächelte Booboo Lynn an, als wolle er sagen: Ist doch nichts dabei.
Doch ihr war es furchtbar peinlich.
»Wieso hast du mir nicht erzählt, daß du für Texaco arbeitest?« wollte Lynn wissen, sobald sie wieder in ihrem Wagen saßen.
Er legte den Gang ein und stieß rückwärts die Auffahrt hinunter. »Du hast mich nicht danach gefragt.«
Statt eine bissige Erwiderung zu geben, zwang sie sich dazu, den Mund zu halten und nachzudenken.
Worüber bist du eigentlich wütend? hörte sie Mary in ihrem Kopf fragen, und sie konnte nur antworten: Weil ich vor meiner Familie wie ein Dummkopf dagestanden habe. Ist das alles? Was ist mit der Tatsache, daß Greg recht hat? Du hast ihn nicht gefragt.
»O nein«, stöhnte Lynn und rutschte tiefer in ihren Sitz.
»Ist das denn so schlimm? Ich rieche doch nicht etwa nach Benzin, oder? Habe kein Öl unter –«
»Hör auf. Ich bin ein Idiot. Wie ichbezogen bin ich eigentlich? Ständig quassele ich von meiner Sendung, von der Übernahme, so daß ich nicht mal eine höfliche Frage stelle, mich überhaupt nicht um dich kümmere.«
Greg reckte sich, achtete auf Gegenverkehr, bevor er wendete, und sagte dann: »Hier muß ich mich doch südlich halten?«
»O ja. Tut mir leid, ich habe nicht aufgepaßt.«
»Na ja, der Wagen fährt ja eh fast von selbst.«
»Nur kochen kann er noch nicht. Das meinte jedenfalls der Autohändler. Dann gefällt dir also mein Wagen?«
»Er ist toll. Danke, daß du mich fahren läßt. Hübsche Stadtrandbezirke hier in Boston. Schöner als in Los Angeles. He, siehst du den Waschbär da drüben? Ich habe gelesen, daß hier im Osten immer noch die Tollwut grassiert.«
Lynn sah hin. »Mir kommt er gesund vor. Man muß ihnen nur aus dem Weg gehen, wenn sie verwirrt wirken. Der Speichel eines tollwütigen Tieres ist tödlich, wenn man damit in Kontakt kommt. Wenn man keine Spritzen dagegen bekommt, stirbt man.«
»Stammst du hier aus der Gegend?«
»Nein. Ich wußte nicht mal, wie man Stadtrand schreibt. Booboo und ich sind auf einer Farm im Osten von Tennessee aufgewachsen. Unsere Eltern hatten alle Hände voll zu tun, um einigermaßen durchzukommen. So sah unser Leben aus.«
»Und sind sie durchgekommen?«
»Nur etwas über vierzig Jahre.«
Greg holte ein Bonbon aus der Hemdtasche und zerkaute es. »Sie müssen früher ziemlich gut ausgesehen haben. Dein Bruder ist wirklich attraktiv. Und du bist natürlich eine Schönheit. Wie ist er zu diesem Spitznamen gekommen?«
»Er hat sich selbst so genannt. Lynns Booboo. Bevor er Bruder sagen konnte.« Sie lächelte. »Ich weiß, daß es blöde ist. Ich sollte ihn Lawrence nennen. Aber er ist mein einziger Verwandter. Mein Booboo.«
»Kein Wunder, daß du dich mit Tierkrankheiten auskennst, bei der Abstammung.«
»Wenn man mit Tieren aufwächst, kann man allerhand lernen. Nimm die nächste Ausfahrt. Dann kommen wir zur Brücke zurück.«
»Aber ihr beide habt es geschafft, aufs College zu gehen?«
»Booboo hat mir geholfen und sich dann selbst durchgeboxt. Er sagte immer, ich wäre die Ehrgeizigere.«
»Und? Bist du es?«
»Ja.« Bei Greg fiel es ihr leicht, das zuzugeben.
Er drückte ihren Oberschenkel. »Sexy.«
»Was ist los?«
»Du. Das ist los.« Er schob seine Hand unter ihren Mantel, ließ sie über ihren Bauch gleiten, dann tiefer. Seine Finger drückten zu. »Du bist ein wirklicher Star.«
Er erregte sie, doch sie sagte: »Hör lieber auf.«
»Warum?«
»Du mußt fahren.«
»Ich kann auch mit einer Hand fahren.«
»Trotzdem, ich will nicht ...«
Forschend schob er seine Hand tiefer, und sie konnte ein wohliges Schaudern nicht unterdrücken.
»Ich brauche nur eine Hand, um –«
»Sag es nicht«, bat sie. »Sei nicht taktlos.«
»Wenn du nach wie vor ehrlich wärst«, sagte Greg leise, »würdest du nicht wollen, daß ich aufhöre. Ich spüre doch, wie du reagierst, Star. Mach einfach die Augen zu und laß es kommen.« Als sie später im Bett lagen und Greg über ihren Rücken tastete, um ihren BH zu öffnen, fragte Lynn: »Wieso warst du mit den Leuten von der Agentur zusammen, wenn du nicht dort arbeitest?«
»Hä?«
»In Los Angeles. An dem Abend, als wir uns kennengelernt haben. Ich dachte, an deinem Tisch wären alle bei der Bailiss-Agentur.«
»Wie bist du denn auf die Idee gekommen?«
»Es kam mir eben so vor. Ein Haufen Leute, die nach der Arbeit zusammen essen gehen.«
Er streifte ihren BH ab. Er streichelte ihren Rücken bis hinab zur Taille und zog sie an sich, drückte sie an seine nackte Brust. Sie konnte seinen steifen, schweren Schwanz spüren. Ihr Atem ging schneller.
Bevor sie noch etwas erwidern konnte, küßte er sie, hielt ihren Kopf und setzte seine Zunge ein. Er fuhr fort damit, gönnte sich kaum eine Atempause, und auch Lynn war bald außer Atem.
Sie wußte, daß es noch viele Fragen gab, aber sie verloren rasch an Bedeutung.
»Und wir sind durch«, schallte die Stimme des Regisseurs aus den Studiolautsprechern.
Der Applaus hielt weiter an. Lynn warf dem Publikum eine Kußhand zu.
Die Mikrofone waren ausgeschaltet, und die Ärztinnen gingen hinaus. Lynn schüttelte jeder die Hand.
»Nur für den Fall, daß du eine Gedächtnisstütze brauchst«, sagte Kara, während sie im Regieraum herumwuselten. »Diese Aufzeichnung ist nicht nur für Boston gedacht. Ruf deine Verwandten und Freunde in Chicago, Los Angeles, Cleveland, Detroit, Baltimore und Minneapolis an. Auf dem Tisch neben der Tür liegen die Sendezeiten.«
Zehn Minuten später war der Raum leer. Kara und Lynn ließen sich auf die Couch fallen. Die Produktionsassistentin lief herum und räumte auf.
»Setz dich, Pam«, sagte Lynn. »Ruh dich eine Minute aus.«
»Sobald ich den größten Schrott weg habe. Wunderbare Sendung, von euch beiden.«
»Unglaublich«, sagte Kara zum vierten- oder fünftenmal. »Die waren alle großartig. Du warst in Bestform, Lynn. Besser als in Bestform. Die Herausforderung hat dich inspiriert.«
»Sie haben länger geklatscht, als sie mußten. Hast du das gesehen?«
»Ob ich das gesehen habe? Scheißt der Bär im Wald?«
Lynn stand auf und suchte in den Essensresten nach einem nicht angebissenen Käsebrötchen. Sie brach es in zwei Teile und gab Kara die Hälfte.
»Sind keine Kleiebrötchen mehr da?« fragte Kara.
»Nein«, sagte Pam. »Ich kann welche holen lassen.«
»Ach, zum Teufel damit.« Kara biß in die Käsefüllung. »Ich lauf dafür ein paarmal die Treppe rauf und runter. Manche Anlässe verlangen einfach nach einem Käsebrötchen.«
»Haben wir zuviel um den heißen Brei herumgeredet?« fragte Lynn. »Sind wir nicht zu weit vom Thema abgekommen?«
»Das habe ich mitgehört«, sagte Dennis Orrin, der gerade hereinkam. Er sah Lynn an. »Schon am herumkritteln? Können Sie nicht einmal ein Lob dankend zur Kenntnis nehmen? Die Sendung war großartig.«
»Ich hatte Angst, zu oberflächlich zu sein«, sagte Lynn. »Haben Sie irgend etwas erfahren, was Sie nicht bereits wußten?«
»Das haben wir alle«, sagte Pam. »Ich habe nicht gewußt, daß es unterschiedliche Standpunkte dazu gibt, ob Frauen in den Wechseljahren Kalzium nehmen sollten. Ich habe meine Mutter dazu gezwungen.«
»Ich wußte nicht, daß Osteoporose zu derartigen Mißbildungen führt. Die arme Frau«, sagte Kara.
Lynn runzelte die Stirn. »Welche Frau?«
»Diejenige, die wegen dem Magnesium gefragt hat. Erinnerst du dich? Kurz vor der dritten Werbepause.«
»Die kleine, gelbgekleidete Frau? Ich habe keine Mißbildungen gesehen.«
»Du hast sie doch angeguckt. Du mußt dir das Band anschauen.« Kara ging zum Wandtelefon. »Evan? Ich bin in der Regie. Können wir mal kurz die Sendung sehen, die wir gerade gemacht haben? Kurz vor der dritten Pause.«
Lynn stöhnte, als sie die Profileinstellung sah. »Die hat ja beinahe einen Buckel. Armes Ding.«
»Erinnerst du dich jetzt?« fragte Dennis, als sich die Einstellung änderte. Er deutete auf eine der Ärztinnen am Podium. Er stellte den Ton lauter.
»Die Menopause ist noch nicht annähernd befriedigend erforscht«, sagte die Frau. »Wenn Männer fünfzig würden und keine Erektion mehr bekämen, wüßten wir garantiert eine ganze Menge mehr über die Schwierigkeiten des Alterns.«
»Toll«, sagte Kara. »Eine Teilnehmerin an einer Podiumsdiskussion sagt etwas Blitzgescheites und Komisches und Unerhörtes, und zufällig passiert das ausgerechnet bei der Sendung, die für den Markttest vorgesehen ist. Ist es nicht wunderbar, wie manchmal alles zusammenpaßt?«
»Ich bin ja so froh, daß du anrufst«, sagte Lynn. »Ich habe in Gedanken schon mit dir geredet.«
»Und was hast du gesagt?« fragte Mary Eli.
»Ich habe dir von den ganzen aufregenden Neuigkeiten erzählt.«
»Wirklich?« sagte Mary. »Beruflich oder privat?«
»Fall nicht in Ohnmacht. Beides.«
»Großartig! Tja, du weißt ja, was immer meine Rede ist.«
Lynn kicherte. »Weißt du eigentlich, wieviel du immer redest? Und dann sagst du mir: ›Du weißt ja, was immer meine Rede ist.‹ Welche deiner hundert Redensarten meinst du denn?«
»›Bei Flut sind alle Boote im Wasser‹.«
»Ich schwöre dir, die habe ich noch nie gehört.«
»Nein? Tja, dann genieße einfach das Bild. Also, erzähl mir, was in der Welt vor sich geht.«
»QTV möchte mich übernehmen. Die haben mich nach Los Angeles fliegen lassen ...«
»Phantastisch.«
»... und anscheinend habe ich alle Prüfungen bestanden. Wir haben gerade eine Sendung aufgezeichnet, die sie als Markttest in einem Haufen Großstädte bringen wollen, um ihre Vertragspartner ein bißchen scharf darauf zu machen. Der nächste Schritt ist dann eine Pilotsendung. Falls alles gutgeht, könnte ich in ein paar Monaten im ganzen Land zu sehen sein.«
»Lynn, das ist ja großartig! Wirst du umziehen?«
»Nein. Wir zeichnen in Boston auf. Ich muß nichts anderes tun als jetzt auch.«
»Kara ebenfalls?«
»Natürlich ist Kara mit dabei.« Lynn lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und streckte die Beine aus. Sie ließ die Schuhe fallen. »Außerdem habe ich in Kalifornien einen Typ kennengelernt, einen wunderbaren Mann. Er heißt Greg Alter.«
»Phantastisch!«
»Er hat gerade geschäftlich hier zu tun, und wir haben eine tolle Zeit miteinander. Er hat bereits Kara und meinen Bruder und meine Schwägerin kennengelernt ...«
»Wie ist es gelaufen?«
»Die sind ganz verrückt nach ihm.«
»Erzähl mir mehr.«
»Er ist leitender Angestellter bei Texaco. Er ist etwa einsachtzig groß, braungebrannt – da drüben ist das gesetzlich vorgeschrieben –, kennt sich mit Wein aus ...«
»Wie alt ist er?«
»Etwa drei oder vier Jahre älter als ich. Vierzig, zweiundvierzig.«
»Du weißt es nicht?«
»Ich weiß überhaupt nicht viel über ihn. Wir lernen uns gerade erst kennen. Um die Wahrheit zu sagen«, erklärte Lynn, »ich habe die letzten fünf Tage entweder bei der Arbeit oder mit ihm im Bett zugebracht. Was seinen Geschmack angeht, so weiß ich lediglich, daß er gern Kaffee trinkt. Ansonsten hatte ich bislang kaum Zeit herauszufinden, ob er Cornflakes ißt.«
Marys Lachen schallte aus dem Hörer. »Und all das hast du mir in Gedanken erzählt? Tja, ich nehme an, ich sollte die guten Nachrichten nehmen, wie sie kommen. Glückwunsch, Lynn.«
»Danke. Ich möchte, daß du ihn kennenlernst.«
»Wie wär’s am Sonntag in einer Woche? Gideon und ich wollen auf der Terrasse grillen. Deswegen habe ich eigentlich auch angerufen.«
»Greg wird dann nicht mehr hier sein. Er fährt morgen wieder zurück.«
»Zu schade. Frag ihn, wann er wiederkommt, dann lassen wir uns etwas einfallen.«
An ihrem letzten gemeinsamen Abend wollte Greg sie ganz besonders verwöhnen.
»Mit allen Klischees«, rief er aus dem Wohnzimmer, während sie sich im Schlafzimmer umzog. »Kerzenlicht, Tanz, Champagner.«
»Klingt ja zauberhaft. Wo?«
»Wird eine Überraschung.«
Lynn, die gerade den Rock, den sie tagsüber getragen hatte, auf einen Bügel hängte, tauchte in der Tür auf. Ihre Bluse und die Strumpfhose hatte sie noch an. »So was mußt du mir sagen. Wie soll ich sonst wissen, was ich anziehen muß?«
Greg stand auf, ging rasch zu ihr hin und legte einen Arm um sie.
»Greg.« Lachend trat sie einen Schritt zurück.
»Du solltest dir mal einen dieser Kataloge besorgen, in denen Reizwäsche angeboten wird«, sagte er. »Dann könnte ich mich über dich hermachen, auch wenn du die Strümpfe noch anhast.«
»Aber im Augenblick«, sagte sie und entfernte sich ein Stück, während er erneut nach ihr griff, »geht es darum, was ich tragen soll – und nicht darum, was ich nicht tragen soll.«
»Willst du mich etwa ablenken?«
Wieder lachte sie. »Ja.«
Plötzlich ließ er die Hände sinken und schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. »Möchtest du nicht, daß ich mich über dich hermache?«
Lynn wand sich. »Bitte spiel nicht so mit mir.«
»Tut mir leid. Es ist deine Schuld, weil du so schön bist. Ich werde da zum Tier, ich kann nicht anders.« Er küßte sie keusch auf die Stirn. »Ich dachte, du magst es, wenn ich lüstern daherrede.«
»Manchmal ja. Aber nicht ... so deutlich.« Sie lächelte. »Jedenfalls muß ich mich jetzt anziehen.«
»Ich helfe dir.« Er ging zu ihrem Kleiderschrank und schob die Bügel hin und her.
»Du mußt nicht ...«
»Komm, wir suchen dir irgendwas Schickes. Wir gehen ins Ritz Roof.« Er wandte den Kopf, um ihre Reaktion zu sehen.
»Wunderbar.«
»Ich habe Kara gebeten, den romantischsten Ort vorzuschlagen. Das ist er. Trag das hier.« Er hielt ihr ein langes schwarzes Seidending mit schmalen Trägern hin.
»Das ist doch ein Nachthemd!«
»Aber es sieht sexy aus. Man wird deine Brustwarzen durchsehen.«
Lynn knirschte mit den Zähnen. Entschlossen nahm sie den Bügel und hängte ihn wieder in den Schrank. Sie führte Greg ins Wohnzimmer, schob ihn auf die Couch und wandte sich, nachdem sie die Schlafzimmertür geschlossen hatte, wieder ihrem Kleiderschrank zu.
Das Ritz Roof. Sie wußte genau, was sie tragen würde.
Sie öffnete einen Kleidersack und holte das weiße Cocktailkleid mit den großen Perlmuttpailletten heraus, das sie sich zusammen mit Kara vor ihrer Reise nach Los Angeles gekauft hatte. Sie bückte sich, schob Schuhschachteln hin und her, bis sie ihre silbernen Sandalen fand, und probierte sie an. Jawohl. Wie für das Kleid gemacht, und das Knöchelriemchen saß genau unter der Tätowierung, wodurch diese betont wurde.
An dem Kleid hingen noch die Schildchen. Sie hatte schon Angst gehabt, es würde genauso enden wie die wenigen anderen Cocktailkleider, die sie sich im Laufe der Jahre gekauft hatte. Sie hatten im Schrank herumgehangen, bis sie altmodisch geworden waren; schließlich hatte sie sie der Kleidersammlung vermacht.
Sie war erst einmal im Ritz Roof gewesen, und zwar mit Booboo und Angela an ihrem Geburtstag. Booboo hatte darauf bestanden, obwohl er damals erst stellvertretender Filialleiter gewesen war.
Angela hatte ihr zugeprostet und ihr einen Freund gewünscht, »der dich in solche Lokale ausführt«.
Lynn hatte dasselbe gesagt wie immer, wenn Angela derartige Ansichten kundtat – daß sie lieber selbst reich wäre, als mit einem Reichen auszugehen, worauf Angela sie angesehen hatte, als hätte sie in Urdu gesprochen.
Doch in Wahrheit hatte sie nichts anderes getan, als im Dunkeln zu pfeifen. Sie hatte durchaus tapfer und wahrheitsgemäß geantwortet, aber sie hatte es auch aus ihrem eigenen Mund hören müssen. Denn das, was für Angela eine simple Gleichung war, war für Lynn wie ein Stelzenlauf. Ungeachtet aller wirtschaftlichen Überlegungen konnte sie sich einfach nicht vorstellen, sich auf eine lohnende Beziehung einzulassen.
Zu der Zeit, als Angela ihr zuprostete, war Lynn gerade mit Mark Manatay befreundet.
Sie hatten sich bei einer Tagung von Rundfunkleuten in New York kennengelernt. Mark war Programmdirektor bei einem Jazzsender in Portland, Maine.
»Boston«, hatte er nachdenklich gesagt und ihr Namensschild betrachtet. »Wie lautet doch der Wahlspruch? ›Die Stadt der Bohnen und des Kabeljaus‹?«
»Genau. Aber wenn Sie keine Witze über Boston machen, necke ich Sie auch nicht mit Hummern.«
Er lachte. Es war ein ansteckendes Lachen, wie man es von Menschen hört, die häufig lachen. Er war gesprächig und fröhlich, trug Hosenträger und brachte ihr in einer Serviette Erdnüsse mit, als er ihnen frische Club-Sodas besorgte.
An diesem Abend aßen sie gemeinsam. Er stellte intelligente Fragen über ihre Arbeit. Er erzählte von seiner Liebe zur Musik, seiner Wohnung in Portland, seiner zwölfjährigen Tochter, seiner Exfrau, mit der er der Tochter wegen Kontakt hielt.
Am nächsten Tag sollte die Tagung zu Ende gehen. Lynn und Mark hatten verschiedene Seminare besucht, doch sie saßen beim Mittagessen nebeneinander und gingen auch gemeinsam zum Abendessen. Inzwischen redeten sie ungezwungen miteinander, so als gingen sie schon eine ganze Weile miteinander. Er bestellte Peperoni für ihre Pizza.
Abgesehen von etlichen längeren Telefongesprächen mit seiner Tochter verbrachte er den Großteil seiner Zeit mit Lynn, wenn sie nicht mit Sitzungen oder Workshops beschäftigt war. Sie fühlte sich ihrerseits in seiner Gesellschaft so wohl, daß sie sich gelegentlich daran erinnern mußte, weshalb sie eigentlich hier war.
Sie fuhren gemeinsam mit dem Taxi zum La Guardia Airport. Er begleitete sie zum Flugsteig, umarmte sie, gab ihr einen sanften Kuß und sagte, er werde sie anrufen.
Nachdem zwei Wochen vergangen waren, ohne daß er sich meldete, nahm sie an, daß sie ihm irgendwie den Eindruck vermittelt haben mußte, sein Anruf sei ihr nicht willkommen. Deshalb rief sie ihn im Sender an, erwischte seine Sekretärin und hinterließ ihren Namen nebst beider Telefonnummern.
Er rief am nächsten Tag zurück. Er habe an sie gedacht. Ob sie nicht übers Wochenende nach Portland kommen könne? Er hoffe, sie könne sich freinehmen; er habe bereits ein Hotelzimmer für sie reserviert.
Die zweiwöchige Funkstille störte sie, doch sie verschwendete keinen Gedanken mehr darauf und nahm die Einladung an. Am Donnerstag ging sie nach der Arbeit aus, kaufte sich einen zauberhaften korallenroten Pullover und einen dazu passenden Lippenstift und flog am nächsten Tag bei strömendem Regen nach Portland.
Er holte sie am Flughafen ab und brachte sie ins Radisson. Während sie ihren neuen Pullover anzog, ging er hinunter, um sich eine Zeitung zu kaufen – und kehrte eine Stunde später mit einer Flut von Entschuldigungen zurück. Er habe mit seiner Exfrau telefoniert; es gebe Schwierigkeiten mit ihrer Tochter, und er müsse sich darum kümmern; es täte ihm so leid, daß sie extra hergeflogen sei, aber ...
Es gab eine Grenze, und Lynn zog sie an genau dieser Stelle. Sie flog zurück nach Boston und brachte das Wochenende allein zu, erledigte ihren Papierkram, sah A-Hörnchen und den Vögeln auf dem Balkon zu und war so außer sich, daß sie nicht einmal Kara anrief.
Mark entschuldigte sich mit einer langen Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter; sie hörte ihn am Montagabend ab. Die Krise sei vorbei, und er hasse es, ein Wochenende zu beenden, bevor es noch richtig begonnen habe, aber unglücklicherweise hätten Kinder nun einmal Vorrang. Könnten sie nicht noch einmal von vorn anfangen? Er fühle sich in ihrer Gesellschaft so wohl.
Sie ließ ihn warten. Schließlich entschied sie sich, ihm noch eine Chance zu geben. Erziehungsprobleme führten manchmal zu den merkwürdigsten Verhaltensweisen.
Mit der Zeit wurden ihre gegenseitigen Besuche zur Gewohnheit. Sie gingen ins Kino, weil Lynn das mochte, und in Jazzclubs, weil Mark seinen Spaß daran hatte. Immer wieder wurden sie gestört, weil Mark lange Telefonate führen mußte, und ab und zu sagte er auch ab. Aber so war es eben anscheinend, wenn man sich in jemanden verliebte, der seinen Elternpflichten nachkommen mußte.
Booboo und Angela wußten, daß sie mit jemandem ging, und drängten sie, ihn zu ihrem Geburtstagsessen mitzubringen.
Mark sagte ab: eine Schulveranstaltung, bei der er nicht fehlen durfte.
Zwei Wochen später kam er nach Boston, und sie gingen in die Parallel Bar, einen düsteren Club, in der eine Band schrille, schier endlose Klarinettenmusik spielte, die Mark sehr gefiel. Er ließ sie den ganzen Abend auf einem tellergroßen Stuhl an einem winzigen Tisch sitzen, bevor er sich endlich einmal zu ihr beugte und etwas sagte, was sie nicht verstand.
»Was?« fragte sie, während sie den Rauch wegwedelte.
»Ich gehe nach Hause zurück«, schrie er.
Lynn dachte, er meine jetzt, kurzfristig, und auf ihre Enttäuschung folgte Verwirrung, da er in letzter Zeit mit niemandem telefoniert hatte.
»Deine Tochter ...«
»Nein.« Er beugte sich wieder näher. »Ich habe gar kein Kind. Ich habe dich belogen. Tut mir leid. Ich gehe zurück zu meiner Frau. Wir leben getrennt ...«
»Du hast gar kein Kind? Mit wem telefonierst du dann die ganze Zeit?«
»Mit meiner Frau. Verstehst du, wieso ich es dir nicht sagen konnte? Ich wollte nicht, daß du paranoid wirst, ständig glaubst, ich könnte zu ihr zurückgehen ...«
»Aber du gehst doch zu ihr zurück.«
»Das habe ich aber damals noch nicht gewußt.«
In diesem Augenblick mußte Lynn an Angelas Geburtstagstoast denken, und Wunsch und Wirklichkeit knallten mit Karacho aufeinander.
Sie saß da auf ihrem harten kleinen Stuhl und war so erstarrt vor Wut und Schmerz, daß sie es nicht einmal fertigbrachte, zu weinen oder zu gehen, während Mark ungerührt weiterplauderte – bis sie schließlich wieder soweit zur Besinnung kam, daß sie aus der Parallel Bar stürmte und sich ein Taxi nahm.
Sie und Greg aßen Seezunge und tranken gemeinsam anderthalb Flaschen Champagner, ließen sich dann von der Musik mitreißen und tanzten bei jedem einzelnen Stück.
Er bewegte sich auf der Tanzfläche genauso wie im Bett: langsam und bedacht, während er sie dicht an sich drückte. Lynn spürte, daß die anderen ihnen zusahen, und zwar nicht, weil sie Lynn Marchette war, sondern weil sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl ausstrahlten, um das die Menschen sie beneideten.
Eine weitere Aktivität, von der sie immer nur geträumt hatte. Nun hatte sie jemanden, den sie beim Schlafen beobachten konnte ... und mit dem sie ein allseits beneidetes Paar bildete.
Als sie in ihre Wohnung zurückkamen, ging Lynn in die Küche, weil sie nachsehen wollte, was sie anbieten konnte. Es kam ihr wie Ewigkeiten vor, seit sie das letzte Mal im Supermarkt gewesen war. Sie fühlte sich etwas bedrückt, als sie sich in ihrer vernachlässigten Küche umsah, die normalerweise immer blitzblank und mit allem Notwendigen ausgestattet war: Die Unordnung rührte daher, daß sie mit Greg beschäftigt gewesen war, und wer wußte schon, wann er sie nach heute nacht wieder in Beschlag nehmen würde?
Greg kam herein und stellte sich dicht hinter sie.
»Du wirkst so geistesabwesend«, sagte er. »Worüber denkst du nach?«
»Darüber, daß du weggehst. Du fehlst mir jetzt schon. Wann kommst du wieder?«
»Ich weiß es nicht.« Er langte über ihre Schulter und schob seine Hand ins Oberteil ihres Kleides. »Darauf habe ich den ganzen Abend gewartet. Hingeschaut und gewartet.«
Lynn legte den Kopf zurück und schnupperte an seinem Kinn. »Dann nehme ich an, du möchtest nichts mehr essen?«
Statt ihr zu antworten, drückte er ihre Brust, wenn auch nicht so fest, daß es ihr weh tat. »Komm, gehen wir rein, Star.«
Im Schlafzimmer öffnete er den Reißverschluß ihres Kleides, half ihr beim Ausziehen und paßte auf, daß sie sich nicht an den Pailletten kratzte. Er stand einen Augenblick da und hielt es, während er zwischen ihr und dem Kleid hin- und herblickte, als koste er es aus, daß sie es endlich ausgezogen hatte. Danach zog er sich aus.
Er stand neben dem Bett und blickte auf Lynn hinab, die bereits unter die Decke geschlüpft war.
»Ich denke immer noch über diese Strumpfhose für dich nach«, sagte er. »Diese Reizdinger. Ich könnte meine Zunge mitten reinstecken.« Er schlüpfte ins Bett, ohne ihre gequälte Miene wahrzunehmen. »Wär das nicht scharf? Ich könnte es überall machen – in deinem Büro, in einem Taxi ... Was ist los?«
Ihr Körper hatte sich versteift. »Ich habe dich gebeten, nicht so zu sprechen.«
»Tut mir leid. Hab ich vergessen.«
»Ich habe dir gesagt, daß mir diese drastische Ausdrucksweise unangenehm ist.«
»Ja. Das hast du.«
Er stützte sich auf einen Ellbogen und blickte auf sie herab. »Lynn«, sagte er leise, »egal, was ich gesagt habe, es war zärtlich gemeint. Ich möchte dich unter keinen Umständen verärgern.«
Seine Miene wirkte bekümmert. Ihr Ekel verwandelte sich allmählich in Scham. Machte sie etwa nur viel Lärm um nichts? Oder schlimmer noch: Untergrub sie eine verheißungsvolle Beziehung?
Er redete also gern schmutzig. Lüstern. Sie mochte es zunächst auch. Dann hatten sie also jetzt eine kleine geschmackliche Meinungsverschiedenheit, was ja nicht gerade weltbewegend war. Das kommt doch in jeder echten Beziehung mal vor, du Dummkopf. Er ging mit seiner Rederei eben einfach weiter als sie.
Nun hatte sie also ihren Empfindungen Ausdruck verliehen, und er hatte sein Verhalten nicht sofort umgestellt. Wiederum keine riesengroße Überraschung. Schließlich war er auch nur ein Mensch. Und hatte sie nicht genau das gewollt, einen Menschen?
»Tut mir leid«, sagte Greg noch einmal.
Sie seufzte. »Mir auch.«
»Können wir’s einfach vergessen?«
Konnte sie das?
»Bitte.« Er schenkte ihr sein breitestes Grinsen, legte sich wieder hin und öffnete die Arme.
Lynn wollte sich mit aller Macht auf das Zusammensein mit ihm konzentrieren. Sie rief sich die Umkleidekabine in dem Geschäft am Hafen ins Gedächtnis, seine Hände unter ihrem Badeanzug. Sie dachte an das brennende Verlangen, daß sie beim Tanzen empfunden hatte.
Doch es war hoffnungslos.
»Es geht nicht«, flüsterte sie schließlich, als Greg sein ganzes Repertoire durchprobiert hatte, um sie zufriedenzustellen. »Ich kann einfach nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß es nicht. Zuviel Champagner vielleicht.« Sie stützte das Kinn auf die Brust, und er legte die Arme um sie, doch Lynn konnte seine Anspannung spüren.
Endlich schlief sie ein. Als sie zwei Stunden später kurz aufwachte, hielt Greg sie noch immer in den Armen. Sie kuschelte sich enger an ihn und schloß wieder die Augen.