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Exkurs: Vaudeville
ОглавлениеZwischen 1880 und dem Aufkommen des Tonfilms in den 1920er-Jahren blüht in den USA die Unterhaltungsindustrie des Vaudeville – eines bunten Theatermix’ aus Musik, Tanz, Komik und Akrobatik –, das sich seit dem Ende des Bürgerkriegs auch von Schwarzen für Schwarze etablieren kann. Hinzu kommt ein Entwicklungssprung der populären Musik, die etwas später Jazz heißen wird und aus den schwarzen Musiktraditionen des Spirituals, Gospels, Blues und der Straßenmusik der New Orleans Marching Bands hervorgeht und von den Südstaaten auf die Musik in ganz Amerika ausstrahlt.
Bereits 1893 publiziert Antonín Dvořák darüber eine interessante Beobachtung während seines dreijährigen USA-Aufenthalts: „Ich bin inzwischen überzeugt, dass die zukünftige Musik dieses Landes auf den sogenannten Negermelodien gründen muss. Hier muss das wahre Fundament jeder ernsthaften und eigenständigen Kompositionsschule liegen, die in den Vereinigten Staaten entwickelt werden soll. (…) Alle großen Musiker haben Anleihen bei der Musik der einfachen Leute gemacht. (…) In den Negermelodien Amerikas entdecke ich alles, was für eine große und edle Schule der Musik von Nöten ist. Sie ist pathetisch, zart, leidenschaftlich, melancholisch, ernst, religiös, kühn, heiter, fröhlich, was immer man will. Es handelt sich um eine Musik, die sich jeder Stimmung, jedem Zwecke anpassen kann. Im gesamten Bereich der Komposition gibt es nichts, was sich nicht aus den Themen dieser Quelle schöpfen ließe.“19
Eine ähnliche Analyse formuliert Leonard Bernstein 1939 als Harvard-Absolvent in seinem Essay „The Absorption of Race Elements into American Music“,20 wobei er neben der fruchtbaren Kombination musikalischer Quellen und Traditionen vor allem auch die positive Wirkung der schwarzen Musik auf die afroamerikanische Bevölkerung betont, deren Selbstbewusstsein durch die Akzeptanz ihres kulturellen Erbes des weißen Amerikas gestärkt wird. Doch Bernstein stellt auch die Frage, wie die Kultur eines Zehntels der Bevölkerung, noch dazu einer rassistisch unterdrückten und verfolgten Minderheit, einen solchen Einfluss gewinnen konnte, und geht über Dvořák Analyse hinaus: Er erkennt zwar auch an, dass analog zur europäischen Tradition der Klassik, die organisch aus nationalen Wurzeln gewachsen ist, indem Volkslieder als Kompositionsquellen dienten, in Amerika die spirituell aufgeladene Musik der Schwarzen Eingang in „das allgemeine, gemeinsame amerikanische Musikmaterial“ findet. Er geht aber über diese, auf das Material konzentrierte Sichtweise hinaus, weil er in dem freien Umgang mit diatonischen Tonleitern, dem Verzerren von Klangfarben und den sich überlagernden Rhythmen des Jazz den Erneuerungswillen der amerikanischen Gesellschaft entdeckt. Daraus resultiert eine gesamtgesellschaftliche Relevanz der Jazzmusik für Amerika.21
In St. Louis setzt der Einfluss durch Musiker aus New Orleans – der Wiege des Jazz – um 1900 ein. Bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1861 sind die Mississippidampfer das Transportmittel von Gütern und für Reisende – für Besitzer und Betreiber der River Boats eine wahre Goldgrube. Doch während der fünf Kriegsjahre stagniert der Verkehr und danach verlagert sich das Transportgeschäft auf die Schienen der neuen Bahntrassen. Findige Unternehmer aus St. Louis, wie etwa die Brüder Strekfus, ändern darum ihr Geschäftsmodell und wandeln ihre Transportschiffe in Ausflugsdampfer um, jeder mit einer festen Band an Bord, um die Reisenden zu unterhalten. Zu Beginn setzen die Strekfus auf Musiker aus ihrer Heimatstadt, doch mit wachsendem Erfolg engagieren sie einen ihrer Bandleader, Fate Marable, als Talentscout. Die Strekfus Line bringt über die Jahre die Pioniere der Jazzmusik von New Orleans nach St. Louis: Warren „Baby“ Dodds, der erste bedeutende Schlagzeuger des Jazz, sein Bruder Johnny Dodds, Klarinettist, Pops Foster, einer der ersten bedeutenden Jazz-Bassisten, und schließlich 1919 Louis Armstrong.
In St. Louis ist der Old Chauffeur’s Club einer der Hotspots für schwarze Entertainer. Etwa ab 1920 hört Josephine dort, während sie kellnert, die besten Musiker spielen, das Programm der Hausband, der Powell’s Jazz Monarchs, und die Improvisationen der Gäste, die spontan zu ihren Instrumenten greifen und singen. An ihren freien Sonntagen besucht sie das Booker T. Washington Theatre, ein Vaudeville für Schwarze. Hier treten die Dixie Steppers auf und viele der Shows, die durch das Land tingeln, geben ihre Gastspiele. Seit 1920 organisiert vor allem die Theatre Owners‘ Booking Association Auftritte von schwarzen Künstlern im Süden und Mittelwesten und prägt das Entertainment mit so großem Erfolg, dass bald weiße Künstler die Unterhaltungsform des Vaudevilles übernehmen und salonfähig machen. Die Zeit für ein schwarzes Mädchen, als Showgirl Erfolg zu haben, ist Anfang des 20. Jahrhunderts nicht die schlechteste, und St. Louis ist ein idealer Ort, eine Karriere zu starten.
Im Old Chauffeur’s Club gewöhnt sich Josephine an, die Gäste mit kleinen Showeinlagen zu unterhalten, die sie den Profis abschaut und auf ihre Weise interpretiert. Die knapp Vierzehnjährige entdeckt die Wirkung der Koketterie. Sie singt Liedzeilen nach, tanzt dazu ein paar Schritte und schneidet Grimassen – sehr zum Amüsement des Publikums und sehr zum Gefallen von Old Jones. Old Jones ist der Saxofonist eines Trios, das unter dem Namen The Jones Family Band durch die Straßen tingelt, ohne festes Engagement, aber mit einem recht gut funktionierenden Erfolgsrezept: Die Jones Family positioniert sich vor den Eingängen zu den Theatern der Stadt und unterhält die Wartenden, solange sie vor dem Einlass Schlange stehen. Old Jones sieht in Josephine eine Bereicherung seiner Show und sie akzeptiert ohne zu zögern sein Angebot, kündigt ihren Job im Old Chauffeur’s Club und wird Teil der Jones Family.
Die Zwischenschritte in der sich von nun an rasch entwickelnden Karriere von Josephine sind von zahlreichen Legenden überlagert, denn nahezu jeder, der in den Anfängen mit ihr gearbeitet hat, beansprucht im Nachhinein seinen Anteil an ihrem Erfolg. Fakt ist, dass Josephine als Vierzehnjährige 1920 ihre ersten Auftritte im Booker T. Washington Theatre hat, weil dessen Manager, Red Bernett, sich in einer Notsituation befindet: Er hat die Dixie Steppers engagiert, deren Komikerpaar sich beim letzten Gastspiel allerdings zerstritten hat und die nun mit einer Nummer zu wenig in St. Louis ankommen. Die Jones Family, die er kennt, weil sie regelmäßig vor seinem Haus spielt, soll diese Lücke füllen. Jahre später beschreibt er Josephines Auftritte überzeichnet: „Sie wirkte so winzig, wenn sie vor der Menge stand und sang. Ihre Stimme war schön, ähnlich der von Diana Ross. Sie war genauso ergreifend. Man konnte sehen, dass sie arm war. Und ehrlich gesagt, hatte ich darum meine Bedenken, sie auf die Bühne zu holen.“22
Wie auch immer, Josephine hat es auf die Bühne des Theaters geschafft, in dem sie bis dahin an ihren freien Tagen im Publikum stand. Mit Begeisterung performt sie alle Schritte, Gesten und Grimassen, die sie sich in den Jahren zuvor als Zuschauerin hier abgeschaut und angeeignet hat. Ihre erste Rolle ist der Cupido in einem Melodrama mit dem Titel Twenty Minutes in Hell. In der Szene im Himmel ist vorgesehen, dass Josephine an einem Seil vom Schnürboden herabgelassen wird und anmutig durch die Kulisse „fliegt“. Doch die Flügel ihres Kostüms verheddern sich mit dem Seil und ihr Auftritt ist ein einziges hilfloses Gezappel. Die Menge ist begeistert von der unbeabsichtigten Komik, und der Produzent der Dixie Steppers, Bob Russell, erkennt ihr Potenzial. Er nimmt die Jones Family als festen Bestandteil in die Show der Dixie Steppers auf, und Josephine amüsiert von da an jeden Abend das Publikum als Liebesgott – für einen Wochenlohn von bis dahin unvorstellbaren neun Dollar.