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Kapitel 2 Bull
Оглавление„Guten Morgen, strahlende Augen. Hast du gut geschlafen?“
„Habe ich. Danke, Venus“, antworte ich und wende den Blick von der zerfledderten Stadtkarte an der Wand ab und ihr zu.
Venus trägt einen pinkfarbenen Jumpsuit mit dazu farblich passender Perücke. Der Seidenschal, den sie trägt, kann ihren Adamsapfel kaum verbergen. Ich weiß nicht, warum sie sich überhaupt die Mühe macht. Aber sie muss ihren eigenen Scheiß durchziehen. Ich denke, dass Detroit grausam zu Außenseitern wie uns ist.
„Weißt du, ob der Bus immer noch in der Oakland Road hält?“, frage ich und fahre mit dem Finger eine blaue Linie nach, die durch die Stadtmitte führt.
„Wenn ich mich richtig erinnere, ja. Du willst mit dem Bus fahren?“
„Ja. Das habe ich mir so gedacht.“
„Hast du kein Auto?“
Ich schüttele den Kopf und begegne ihrem Blick. „Ich habe keinen Führerschein.“
Sie zuckt erschrocken zusammen. „Wie alt warst du, als man dich eingebuchtet hat?“
Ich reibe mir den Nacken. „Ich war gerade achtzehn geworden.“
Mitleid überschattet ihr Gesicht. „Tut mir leid, das zu hören.“
Sie braucht kein Mitleid mit mir zu haben. Und sie sollte besser aufhören, mich so mitleidig anzusehen. „Das braucht es nicht. Das Gefängnis war wahrscheinlich der beste Ort für mich.“
Sie lehnt an der Arbeitsplatte und hört mir aufmerksam zu. „Weswegen musstest du sitzen?“
Und da ist sie, die gefürchtete Frage. Ich muss mich daran gewöhnen, darauf zu antworten. Also fange ich besser gleich damit an.
„Mord“, sage ich ganz offen und sehe, wie ihr die Gesichtszüge entgleiten. Auch an diesen Anblick sollte ich mich besser gewöhnen.
Nach ein paar unbehaglichen Sekunden räuspert sie sich. „Wenn jemand eine zweite Chance verdient, bist du es.“
Sie überrascht mich mit dieser unerwarteten Antwort. Aber sie kennt mich nicht. Und wenn sie von meiner Geschichte und meinen Plänen wüsste, wäre sie nicht so schnell mit diesem gefühlsduseligen Kram bei der Hand.
„Wir sehen uns später.“ Ich ziehe den Reißverschluss meiner Lederjacke hoch. „Ich habe einen Job.“
„Tatsächlich? Wo?“
„Im Pink Oyster.“
Sie lächelt und beugt sich auf ihrem Hocker zurück. „Die Frauen können sich einfach nicht von dir fernhalten, was?“
Meine Lippen zucken in der Andeutung eines Lächelns.
Es ist wieder ein eiskalter Morgen, also setze ich meine graue Beanie auf und gehe die Meile bis zur Bushaltestelle. Zum Glück muss ich nicht lange warten. Es ist seltsam, obwohl ich so lange nicht mehr mit einem Bus gefahren bin, sind der Anblick, die Geräusche und Gerüche immer noch genau die gleichen.
Ich schließe die Augen und rufe mir das letzte Mal in Erinnerung. Es war mit meinem Bruder Damian, in der Nacht des großen Spiels. Er hätte mit Freunden fahren können, wollte aber mit mir fahren.
„Komm schon, Kleiner. Das wird Spaß machen.“
„Ich mag Football nicht mal.“
Damian lachte. „Das wirst du, wenn du die Cheerleader siehst.“
Ich verzog das Gesicht und antwortete: „Widerlich. Mädchen sind seltsam.“
„Das liegt daran, dass du gerade mal fünfzehn bist. Warte ein paar Jahre, dann sind sie alles andere als widerlich.“ Er zerzauste mir das Haar, als wir bei unserer Schule vorfuhren, um das große Spiel zu sehen.
„Ich bezweifle es.“
„Vertrau mir, Kleiner. Du wirst deine Meinung ändern.“
Er nahm seine Sporttasche und seinen Helm. Mein Bruder, der Quarterback.
Ich reiße die Augen auf, als der Bus zu einem langsamen Halt kommt. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und sehe, dass ich nur noch einen Block von meinem Ziel entfernt bin. Nichts hat sich verändert. Es ist genauso, wie ich mich erinnere und immer noch so deprimierend wie an dem Tag, als ich das letzte Mal hier war.
Raureif bedeckt das Laub, und selbst die Blumen welken in dem rauen Herbst. Es scheint, dass jedes Lebewesen vergessen will, dass es hier existiert.
Das Gras knirscht unter meinen Schuhen, und leichter Regen setzt ein. Aber ich lasse mich nicht vom Wetter abhalten, das zu tun, was ich seit Jahren tun will. Meine Erinnerung lässt mich nicht im Stich und ich gehe wie auf Autopilot zu dem letzten Grab in einer Reihe, die genauso aussieht wie die davor und dahinter. Aber diese Reihe ist etwas Besonderes.
Sie ist etwas Besonderes, weil sich dort das Grab meines Bruders befindet.
„Hey, Damian.“ Ich gehe in die Hocke.
Vertrocknete Blumen stehen bei seinem Grabstein, und ich könnte mich ohrfeigen, weil ich keine frischen mitgebracht habe. „Ich bin draußen. Zwölf Jahre sind nichts im Vergleich mit der Hölle, die du wegen mir ertragen musstest.
Ich habe seit über neun Jahren nichts mehr von Mom und Dad gehört. Daraus kann ich ihnen allerdings keinen Vorwurf machen, denn ich habe ihnen gesagt, dass sie sich fernhalten sollen. Wenn es nur mich und nicht dich getroffen hätte, dann wäre es für uns alle besser gewesen. Wenn ich nach dem Spiel direkt nach Hause gegangen wäre, wäre alles so anders gewesen. Vor allem würdest du noch leben.“
Ich seufze und senke beschämt den Blick. „Es tut mir leid, Bro. Ich bin schuld, dass du … tot bist. Du hast dein Leben geopfert, um mich zu retten. Aber mein Leben war dieses Opfer nicht wert. Das war es nie.
Aber ich werde nicht zulassen, dass du umsonst gestorben bist. Das verspreche ich“, schwöre ich und umklammere den Anhänger an der Kette um meinen Hals. Er gehörte einst Damian. Es war sein Glücksbringer.
Dies ist der einzige Ort, an dem ich mir erlaube, zu trauern. Wo ich mir die Buße gestatte, die ich nicht verdiene.
„Es tut mir leid, dass es dich getroffen hat. Wenn wir die Plätze tauschen könnten, würde ich es sofort tun. Du warst immer der Gute, und ich …“ Ich breche ab und sehe auf die Taschenuhr hinunter, die auf meinen Handrücken tätowiert ist. „Ich habe immer darauf gewartet, dass etwas Besseres kommt. Ich wünschte, ich hätte begriffen, dass du dieses Bessere warst.“
Ich küsse meinen Mittel- und Zeigefinger und drücke sie auf Damians marmornen Grabstein. Dann stehe ich langsam auf.
„Sie werden dafür bezahlen. Jeder einzelne. Und wenn das passiert … sehen wir uns wieder. Ruhe in Frieden, Bruder. Ich liebe dich.“
Damian ist der einzige Mensch, dem ich je gesagt habe, dass ich ihn liebe. Ich habe es nicht einmal zu meinen Eltern gesagt. Aber wir beide waren nicht nur Brüder, sondern auch beste Freunde. Ich habe zu ihm aufgesehen – verdammt, das haben alle getan. Jeder wollte mit ihm befreundet sein. An ihm war etwas Besonderes, etwas, von dem jeder ein Teil sein wollte.
Dieses Besondere wurde in der Nacht ausgelöscht, als er ermordet wurde. Meinetwegen.
Da es nichts weiter zu sagen gibt, drehe ich mich um und verlasse meinen Bruder, der seit vierzehn Jahren in seinem Grab verrottet. In meinen Gedanken ist er für immer jung. Ein Siebzehnjähriger, der sein ganzes Leben noch vor sich hatte, bevor es ihm grausam gestohlen wurde.
Ich balle die Fäuste, als ich an den Grund dafür denke, dass sich Damians und mein Leben für immer veränderten. Eine einzige, verdammte Entscheidung zerstörte das Leben von so vielen Menschen, aber ich kann es nicht rückgängig machen. Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden, und ich muss mit dieser Schuld den Rest meiner lausigen Existenz leben.
Aber ich bin auf dieser Schuld gediehen, seit ich meinen Bruder begraben habe. Es gab nur eine Sache, die mich angetrieben hat, und das war Rache. Und jetzt, wo ich draußen bin … brennt, ihr Dreckskerle, brennt.
Ich verdränge die Erinnerungen, während ich an der Bushaltestelle warte und nicht sicher bin, wann und ob ich jemals hierher zurückkomme. Meine Eltern sind schon eine Weile nicht mehr hier gewesen. Das schmucklose Grab meines Bruders ist ein sicheres Zeichen dafür, denn es war kurz nach seiner Beerdigung ganz anders. Meine Mom kam jeden Tag her, und mein Dad musste sie praktisch nach Hause zerren.
Aber am nächsten Tag war sie wieder da, weinte und verfluchte das Universum, weil es ihr den falschen Sohn genommen hatte.
Der Bus fährt vor, ich steige die Stufen hoch und lasse mich auf einen Sitz im hinteren Bereich sinken. Ich sehe aus dem Fenster und frage mich, wo meine Eltern sind. Das Letzte, was ich von ihnen hörte, war, dass sie sich endlich scheiden ließen. Dad fand Trost bei einer Frau, die halb so alt war wie er. Und meine Mutter fand ihr ewiges Glück in verschreibungspflichtigen Tabletten.
Aber ich verurteile sie nicht. Verdammt, ich bin der Grund, dass ihr Leben so verkorkst ist. Bevor es passierte, waren wir eine große, glückliche Familie. Damian war der Goldjunge, aber ich war nicht eifersüchtig. Ich wünschte mir nur, ein halb so guter Mensch wie er zu werden.
Er war der Typ Mensch, der Älteren über die Straße half und sich um Vögel mit gebrochenen Flügeln kümmerte. Ich zog es vor, den Vogel von seinem Leid zu erlösen und über den alten Furz zu lachen, der über die Straße schlurfte. Wir waren so unterschiedlich, aber Damian verurteilte mich nie. Er liebte mich trotz meiner Fehler.
Mein Spiegelbild starrt mich aus dem schmutzigen Busfenster an, und ich sehe in meine nicht zusammenpassenden Augen und frage mich, ob mein Bruder mich heute noch lieben würde. Mit einem verächtlichen Schnauben schiebe ich diese Empfindungen beiseite, denn ich weiß, dass ich keine Liebe verdiene. Ich verdiene es, allein zu sein, so wie Damian.
Als der Bus an einer Haltestelle ein paar Blocks vom Pink Oyster entfernt stoppt, steige ich aus und gehe den Rest des Weges. Ich bin dankbar, dass Lotus etwas in mir sah, das ich nicht sehe. Ich erledige meinen Job unauffällig und halte mich aus allem raus, denn ich bin aus einem Grund hier. Als ich jedoch die Hintertür öffne und Andre mit einem der Mädchen reden sehe, weiß ich, dass es mir bei diesem Arschloch schwerfallen wird, mich aus allem rauszuhalten.
Ich nicke ihm zur Begrüßung kurz zu, gehe durch den Club und hoffe, Lotus zu finden, damit ich den Umgang mit Andre so gering wie möglich halten kann. Sie ist in einem kleinen Zimmer den Flur hinunter, das ihr als Büro dient. Die Tür steht offen, aber ich klopfe trotzdem an.
„Hi, Bull“, sagt sie und sieht mich kurz an, bevor sie sich wieder den Bergen von Papierkram vor ihr zuwendet.
„Hey. Hast du irgendwelche Werkzeuge, die ich benutzen kann?“
Lotus wedelt mit der Hand zu einer Zimmerecke, wo ich eine Werkzeugkiste aus Metall und einen Erste-Hilfe-Kasten entdecke. Scheinbar hat ihr Büro mehrere Funktionen. Da ich sie nicht stören will, gehe ich schnell hinein und nehme mir, was ich brauche.
Ich will gerade gehen, da schnaubt Lotus und wirft ihren Stift auf den unordentlichen Schreibtisch. „Ich gebe auf“, grollt sie und reibt sich die müden Augen. „Warum kommt das nicht hin?“
Ich weiß nicht, ob sie mit mir spricht oder nicht, vermute, dass es nicht so ist und gehe zur Tür.
„Ich gehe davon aus, dass du nicht gut mit Zahlen bist?“
Ich bleibe stehen und werfe einen Blick über die Schulter auf das vollgekritzelte Blatt vor ihr. Sie scheint Hoffnung zu haben, weil ich nicht sofort abgewehrt habe. Ich überschlage die Berechnung schnell im Kopf und finde ihren Fehler.
„Du hast die Eins nicht übertragen“, sage ich mit Blick auf die Zahlen auf der Seite.
Ich vermute, dass das die Einnahmen des Clubs sind. Vielleicht macht sie auch ihre Steuer. Ich weiß es nicht. Was immer es auch ist, sie sieht rasch auf die Berechnungen vor ihr hinunter und brummt bestätigend. „Heilige Scheiße, du hast recht.“
„Natürlich habe ich recht“, erwidere ich, und sie schmunzelt. „Vieles hat sich verändert, seit ich eingebuchtet wurde, aber Mathe nicht.“
Ich bedauere sofort, preisgegeben zu haben, dass ich im Knast war. Aber Lotus zuckt nicht zusammen oder sieht mich anklagend an. Sie nickt bloß mit einem Lächeln.
„Ein Alleskönner. Wenn du nicht vorsichtig bist, lasse ich dich auch noch meine Bücher machen.“
„Ich bin da draußen, wenn du mich brauchst.“ Ich halte mich nicht länger auf, sondern gehe in den Club.
Andre bedient sich am besten Wodka, was total daneben ist, weil ich nicht glaube, dass er dafür bezahlen wird. Ich mag keine Schmarotzer und Geizhälse. Das Leben ist nicht kostenlos. Aber ich ignoriere ihn und mache mich an die Arbeit, indem ich die Stabilität der Barhocker teste. Sie sind alle wackelig, also öffne ich die Werkzeugkiste und suche nach dem, was ich brauche. Sekunden später legt sich ein riesiger Schatten über mich, was mir sagt, dass ich einen Beobachter habe. Ich schlucke den Köder nicht, denn ich weiß genau, wer da lauert.
Wenn dieses Arschgesicht Ärger sucht, ist er bei mir an der falschen Adresse. Ganz egal, wie gern ich ihm in den Hintern treten würde, werde ich es nicht tun, weil das respektlos gegenüber Lotus wäre. Gerade als ich den Hocker hochheben und auf den Tresen legen will, knallt Andre seine Pranke auf die Oberfläche und blockiert mich. Ich zucke nicht zusammen und hebe langsam den Blick. Wir sehen uns in die Augen, und es ist klar, dass er mir das Leben zur Hölle machen will.
Er hat Glück, dass mich das einen Scheißdreck interessiert.
Er kaut auf einem Zahnstocher und versucht, mich einzuschüchtern, indem er mich niederstarrt. Sein Versuch ist lächerlich. Ich hebe den Hocker hoch, lege ihn auf den Tresen und ignoriere dabei seine Hand.
Er zieht sie schnell zurück. „Sieht aus, als hätte Lotus ein kleines Dienstmädchen gefunden“, spottet er und zieht den Zahnstocher zwischen seinen gummiartigen Lippen hervor.
Ich ignoriere ihn, gehe auf Augenhöhe mit den Beinen des Hockers und checke sie.
„Bist du taub oder dumm? Ich rede mit dir.“ Er reißt am oberen Ende des Hockers und wirft ihn zu Boden.
Ich atme zwei Mal tief durch, richte mich ruhig auf und weigere mich, einzuknicken. Andre ballt mit einem höhnischen Grinsen die Fäuste und wartet auf meinen Gegenschlag.
Da kann er lange warten.
Ich greife nach einem anderen Hocker und mache mit ihm dasselbe, wie mit dem Ersten. Bei diesem Hocker ist das ungleiche Bein auffälliger, also suche ich im Werkzeugkasten nach einer kleinen Säge. Andre gefällt es nicht, ignoriert zu werden.
„Hör zu, du Freak“, spuckt er aus, wobei er seine Hände zum Glück bei sich behält. „Geh mir aus dem Weg, dann haben wir keinen Ärger.“
Es ist klar, dass er nicht verschwindet, bevor ich geantwortet habe, also nicke ich kurz. „Passt mir gut.“
Andre muss das Gefühl haben, dass ich seine Position als Platzhirsch bedrohe, was ironisch ist, da ich mich aus allem raushalten will. Ich bin nicht daran interessiert, der Alpha vor diesem Vollidioten zu sein, denn das ist keine Konkurrenz. „Du bist ein seltsamer Dreckskerl.“
„Danke“, erwidere ich und wende mich wieder der Suche im Werkzeugkasten zu. Ein paar Sekunden später ist er verschwunden, nicht ohne eine Flasche Wodka mitgehen zu lassen.
Ich atme langsam aus, beherrsche meine Wut und konzentriere mich darauf, die Barhocker zu reparieren. Es ist einfach, durch die billigen Holzbeine zu sägen, und ich brauche nicht lange, um alle Beine auf eine Länge zu bringen. Als ich die Beine abschmirgele und die Aufsätze wieder anbringe, damit sie stabil sind, liegt plötzlich ein Hauch von etwas Süßem in der Luft.
Ich wische mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, werfe einen Blick über die Schulter und sehe, dass ich nicht mehr allein bin.
„Hallo, Schöner“, sagt Tawny mit einem Lächeln. Sie versucht nicht zu verbergen, dass sie mich mit den Augen fickt, als sie mich von Kopf bis Fuß mustert.
Ich trage eine zerrissene schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt, das die Tattoos auf meinen Armen und meinem Hals entblößt. Tawny neigt den Kopf, um einen besseren Blick darauf zu haben, aber da kann sie lange gucken. Meine Tattoos sind privat. Ich habe sie nicht machen lassen, damit andere Leute um mich herumscharwenzeln und mir Fragen stellen. Ich habe sie mir als ständige Erinnerung daran machen lassen, was ich getan habe. Und was ich tun muss, um meinen Bruder zu rächen.
Ich räuspere mich, was sie aus ihrem Starren reißt.
„Bist du hier fertig?“, fragt sie und zeigt mit dem Kinn auf die Barhocker.
„Fast. Warum?“
„Im Umkleideraum sind ein paar Birnen durchgebrannt. Ich würde sie selbst wechseln, habe mir aber gerade die Nägel machen lassen.“ Wie um es mir zu beweisen, wedelt sie mit ihren pinkfarbenen Nägeln vor meinem Gesicht herum.
Das ist ganz klar ein Trick, um mit mir allein zu sein, aber ich muss meinen Job erledigen. Je eher Tawny begreift, dass ich nicht für mehr als das hier bin, desto besser für uns beide. Also nicke ich. „Klar.“
Tawnys Gesicht leuchtet auf. „Vielen Dank.“
Ich bedeute ihr, dass sie vorangehen soll.
Sie geht voran und wackelt dabei mit dem Hintern, der in knappen Shorts steckt. Ihre langen Beine werden noch von den Cowboystiefeln betont, die sie trägt. Wie ich schon gestern Abend bemerkte, ist sie durchaus nicht unattraktiv, aber ich finde sie einfach nicht anziehend. Es hat nichts mit ihrem Aussehen zu tun, sondern damit, dass es für mich mit ihr einfach nicht funktionieren würde.
Sie präsentiert mir ihre Titten quasi auf einem Silbertablett, doch ich bin nicht interessiert. In meinem Leben war nichts einfach, und ich erwarte von Frauen auch nicht, dass sie es mir leichtmachen.
Der Umkleideraum ist größer, als ich gedacht habe. Es gibt vier verschieden geformte Spiegel an der Wand, und jeder Spiegel ist von Lampen umgeben. Die Tische sind mit Lotionen und Make-up bedeckt. Um die Rückenlehnen der Stühle sind farbige Federboas gewunden.
In einer Ecke des Raums sind Spinde. Aber richtige Umkleidekabinen gibt es nicht. Die Mädchen haben keine Privatsphäre, wenn sie nach ihrer Tanznummer ihre Kostüme ausziehen. Es ist ein Gemeinschaftsraum, in dem man sein Schamgefühl nicht schützen kann.
So ähnlich wie die Duschen im Gefängnis.
„Es sind diese Birnen“, sagt Tawny und unterbricht damit meine Gedanken. Als sie mir eine Schachtel mit Glühbirnen reicht, sehe ich, wo einige Lampen an den Spiegeln durchgebrannt sind.
Ich greife nach der Schachtel, wobei ich darauf achte, dass sich unsere Finger nicht berühren, und gehe zum ersten Spiegel hinüber. Ich sehe Tawnys Spiegelbild, als ich den Strom abschalte und die Birne herausdrehe. Sie ist alles andere als schüchtern, denn sie starrt mich offen an.
„Dein Name ist also Bull?“, fragt sie, denn so hat Lotus mich gerufen.
Ich nicke bestätigend.
„Bist du hier geboren worden, Bull?“ Mein Name tropft wie Honig von ihrer Zunge.
„Ja, traurigerweise“, erwidere ich und ersetze die Birne. Jetzt sind es nur noch fünf.
„Ich auch. Ich habe immer gedacht, dass ich für Größeres bestimmt bin, aber ich bin immer noch hier.“ Sie breitet die Arme weit aus. „Ich habe versucht, zum College zu gehen, aber das war nichts für mich. Das Strippen sollte nur eine vorübergehende Sache sein. Aber drei Jahre später mache ich es immer noch.“
„Es ist nichts falsch daran, eine Stripperin zu sein“, sage ich und werfe ihr im Spiegel einen kurzen Blick zu. „Die Mistkerle denken, dass sie am längeren Hebel sitzen. Aber du bist nicht diejenige, die mit Bargeld nach ihnen wirft.“
„So habe ich das noch nie gesehen“, meint sie nachdenklich.
„Jetzt kannst du es.“ Ich gehe zum nächsten Spiegel und drehe die Birne heraus. Als ich nach dem Ersatz greife, spüre und rieche ich Tawny hinter mir. Ich drehe mich um und greife rechtzeitig nach ihrem Handgelenk, um sie davon abzuhalten, mich zu berühren.
Sie verzieht die Lippen zu einem frechen Grinsen. Sie denkt, dass das ein Spiel ist, aber das ist es nicht. „Wow, du hast die Reflexe eines Superhelden. Verschweigst du mir etwas?“, neckt sie und klimpert mit den Wimpern. „Mit diesen Muskeln könntest du leicht Superman sein.“
Sie beugt sich vor, zu dicht, aber ich weiche nicht zurück. „Ich bin in dieser Geschichte nicht der Held, Tawny.“
„Du willst nicht mein weißer Ritter sein?“, fragt sie sarkastisch. Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, bis sie es mir erklärt. „Jemand, der denkt, er kann eine Tänzerin vor einem Leben als Stripperin retten.“
„Das bin ich ganz bestimmt nicht.“ Ich lache.
„Was bist du dann?“, fragt sie und streckt die Brust heraus. Ihre Titten sind nur Zentimeter von mir entfernt, was bedeutet, dass sie mir viel zu nah sind.
Ich verstärke den Griff um ihr Handgelenk und neige mein Gesicht zu ihrem. Sie atmet scharf ein und gräbt ihre ebenmäßigen weißen Zähne in ihre Unterlippe. „Ich bin der böse Bube“, antworte ich gefährlich tief.
Ich versuche nicht, melodramatisch zu sein. Es ist die Wahrheit. Aber meine Worte scheinen sie nur noch mehr zu erregen.
Ihre Pupillen weiten sich, und ihre Wangen röten sich lüstern. „Ich stehe auf böse Jungs“, murmelt sie und atmet tief durch.
Meine Dämonen drängen an die Oberfläche und wollen ihr zeigen, wie böse ich tatsächlich sein kann. Aber ich dränge sie in die Tiefe zurück. Man scheißt nicht, wo man schläft. „Tu dir selbst einen Gefallen … lass es, mich zu mögen.“
Sie befeuchtet ihre Lippen und will etwas sagen, doch dann höre ich eine vertraute Stimme und wende meine Aufmerksamkeit der Tür zu. Als ich sehe, wer eintritt, stürmen Erinnerungen unserer letzten Begegnung auf mich ein, und ich drücke unabsichtlich Tawnys Handgelenk.
Tiger hält ihr Handy ans Ohr und spricht fröhlich mit der Person am anderen Ende. „Wir sehen uns später. Ich liebe dich, Baby.“ Als sie uns sieht, bleibt sie wie angewurzelt stehen, und ihr Lächeln weicht einer ausdruckslosen Miene. Sie ist offensichtlich von der Situation verwirrt.
Ich lasse Tawny sofort los, weil wir erhitzt aussehen müssen, nur ist es nicht auf die Art, die Tiger vermutet. Als sie sich wieder fasst, schüttelt sie den Kopf, als wollte sie den Nebel vertreiben.
„Oh, tut mir leid. Ich wusste nicht, dass jemand hier ist. Ich will nur meine Handtasche holen. Ich habe sie gestern Abend vergessen. Ich bin sofort wieder weg“, sagt sie atemlos.
Tawny bleibt dicht bei mir und scheint schadenfroh zu sein. Ich trete sofort drei Schritte zurück.
Tiger geht an uns vorbei und auf die Spinde zu. Sie dreht die Nummernscheibe, was unvorsichtig ist, weil ich jetzt die Kombination ihres Zahlenschlosses kenne.
1021.
Ich frage mich, welche Bedeutung die Zahl hat? Vielleicht ihr Geburtstag? Oder vielleicht der Geburtstag der Person, des Babys, der sie gerade gesagt hat, dass sie sie liebt?
Wieso ist das wichtig? Ich muss aufhören, mich für sie zu interessieren.
Ich drehe mich schnell um und tausche die letzten Glühbirnen an den Spiegeln aus, während Tawny sich setzt und eine Zigarette anzündet. Die Mädchen unterhalten sich nicht, was mich vermuten lässt, dass sie einander nicht mögen. Als die Spindtür zuschlägt, sehe ich in den Spiegel und frage mich, was los ist.
Tiger dreht mir den Rücken zu, also nutze ich die Gelegenheit, um sie unbeobachtet zu mustern. Sie trägt eine Yogahose, ein ausgeleiertes T-Shirt und heißgeliebte Chucks. Ihr langes Haar hat sie zu einem Knoten auf ihrem Kopf geschlungen. Als sie sich umdreht, sehe ich, dass sie kaum Make-up aufgelegt hat, was mir gefällt.
Am Abend zuvor hatte ich den unerklärlichen Drang, den roten Lippenstift von ihrem Mund zu wischen. Ich hatte jedoch keine Probleme, sie zu küssen, während der Lippenstift auf ihrem Mund war. Mein Schwanz zuckt bei der Erinnerung daran. Aber diese Erinnerung wird schnell von Schmerz und Blut verdrängt, und wie ich sie verderben wollte, sie beschmutzen, damit ich nicht der Einzige bin, der durch einen Makel auf der Seele gezeichnet ist.
Sie begegnet meinem Blick im Spiegel, aber nur für eine Sekunde, dann wende ich mich schnell wieder dem Wechseln der Glühbirnen zu. Ich muss vorsichtiger sein. Sie ist wie ein Gift, was nur zu Ärger führen wird – für sie.
„Bis dann“, ruft sie. Es ist offensichtlich, dass sie auf eine Antwort hofft.
Tawny bläst als Reaktion einen Rauchring, während ich sie einfach ignoriere. Sie seufzt, bevor sie durch die Tür verschwindet.
Nach einem kurzen Schweigen sagt Tawny selbstgefällig: „Du hast keine Scherze gemacht. Du bist wirklich der böse Junge.“
Zur Hölle, das bin ich.
Ich habe Tiger einen Gefallen getan. Sie weiß es nur noch nicht. Jetzt kann sie nach Hause zu ihrem Baby gehen, wo sie sicher ist, denn ich würde nur ihre ganze Welt zum Einsturz bringen.