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Kapitel 4 Cody
Оглавление„Bist du sicher, dass wir hier sein sollten?“, fragt mein bester Freund Gary Buchanan. Wir bleiben tief geduckt hinter den Bäumen.
„Ja. Jetzt hör auf, so ein Weichei zu sein und lass uns gehen.“
Gary hat recht. Wir sollten nicht hier sein. Ich müsste längst zu Hause sein, aber was meine Eltern nicht wissen, regt sie auch nicht auf.
Wir kriechen auf das glühend heiße Lagerfeuer zu und bleiben dabei tief unten, denn für zwei rotznasige Kinder wie uns ist hier betreten verboten.
Die Titans, das Football-Team meines Bruders, haben dank Damian, der in den letzten drei Spielsekunden einen Touchdown gemacht hat, das Finale gewonnen. Mein Bruder, der Held unserer Heimatstadt, hat das Spiel gerettet, was keine Überraschung ist. Um das zu feiern, haben sich alle beim Pinnacle Point versammelt, ein örtlicher Treff für Schüler im letzten Highschool-Jahr.
Die Party ist in vollem Gang. Das Bier fließt in Strömen, und Damian lockt die Mädchen in Scharen an. Er ist jedoch nicht an ihnen interessiert, weil er seit zwei Jahren mit seiner Freundin Lyndsay zusammen ist. Es ist wirklich abstoßend, wie sie sich anschmachten, als wären sie bekloppt. Aber was weiß ich schon von Liebe? Ich habe noch nie ein Mädchen geküsst.
Gary und ich waren zu sehr damit beschäftigt, auf unseren Geländefahrrädern zu fahren, um Mädchen Aufmerksamkeit zu schenken. Doch das änderte sich, als Damian mich heute Abend zu diesem dämlichen Footballspiel mitzerrte und ich eine brünette Cheerleaderin mit einem wunderschönen Lächeln sah.
Ich kenne ihren Namen nicht, und deswegen bin ich hier. Ich will ihn herausfinden. Damian hat mich vor den Cheerleadern gewarnt, und er hatte recht. Ich könnte ihn jederzeit fragen, wer sie ist, aber ich will es selbst herausfinden. Ich habe immer im Schatten meines Bruders gelebt, was mich zuvor nie gestört hat, aber allein herauszubekommen, wer dieses mysteriöse Mädchen ist, fühlt sich wie ein Schritt Richtung Mann an.
Ich weiß, dass das verdammt lahm ist, aber es wäre noch erbärmlicher, wenn mein älterer Bruder mich meiner Traumfrau vorstellen würde.
Mit dem Gedanken daran krieche ich weiter, und wir betrachten die Szene, die sich vor uns auftut. Leute sitzen um das Feuer herum und küssen sich, andere tanzen und lachen und haben viel Spaß. Ich sehe mich um und hoffe, meine Cheerleaderin zu entdecken. Und ich schaffe es.
„Da ist sie!“, zische ich und stoße Gary meinen Ellbogen in die Rippen.
Er schreit auf und schiebt sich von mir weg. „Ja, na und? Was willst du tun? Du kannst nicht mit ihr reden. Deine Eltern geben dir eine Woche Hausarrest, wenn sie rausfinden, dass du hier bist. Du solltest bei mir zu Hause schlafen.“
Er hat recht.
Meine Eltern sind ziemlich streng zu mir, weil ich nicht so ein Goldjunge wie Damian bin. Ich tue nicht, was man mir sagt. Ich glaube, man könnte mich das schwarze Schaf oder den Rebellen der Familie nennen, aber das ist mir egal. Damian würde mich nicht verpetzen, aber ich weiß, dass er mir Schuldgefühle einreden würde, weil ich unseren Eltern nicht gehorche. Seine Aufrichtigkeit würde auf mich abfärben und schließlich würde ich nachgeben und ihnen erzählen, was ich getan habe.
Daher versteht es sich von selbst, dass er mich nicht sehen darf.
Die Cheerleaderin trägt noch ihre Uniform und unterhält sich mit einer Gruppe Mädchen. Ich nehme meinen Mut zusammen und gehe zu ihr hinüber. Gary bleibt zurück und steht Schmiere. Damian ist am anderen Ende des Geländes, also bin ich für den Moment wohl sicher.
Ich weiß nicht, wie man so etwas macht und beschließe daher, mir eine Scheibe von meinem Bruder abzuschneiden und einen seiner Sprüche zu verwenden. Ich bleibe ein kleines Stück von ihr entfernt stehen, und sie dreht sich um und sieht mich mit großen blauen Augen an.
„Hallo, Hübsche“, sage ich selbstbewusst und lächele.
Ihre Freundinnen grinsen und dämpfen ihr Lachen hinter ihren Händen.
„Hi“, erwidert sie schließlich und trinkt einen Schluck aus einem blauen Becher.
„Ich habe dich heute Abend beim Cheerleading gesehen. Beim Spiel“, füge ich blöd hinzu, denn wo sonst würde sie Cheerleading machen?
Aber ich bleibe cool.
„Oh, toll.“ Ich sollte den Hinweis verstehen, kann aber nicht. Ich will derjenige sein, der erfolgreich ist.
„Gibst du mir deine Nummer?“
Ihre Freundinnen lachen laut, und Gary stöhnt, was mir sagt, dass dies als der schlechteste Anmachversuch in die Geschichte eingehen wird.
Ich sollte mich verziehen, kann aber nicht. „Ich heiße Cody. Cody Bishop.“
Sie hören plötzlich auf zu kichern und stehen mit offenen Mündern da. „Ist dein Bruder Damian Bishop?“, fragt eins der Mädchen.
Gottverdammt.
Das ist nicht das, was ich wollte. Ich wollte es allein schaffen, nicht weil Damian mein Bruder ist. Doch ich nicke trotzdem.
Die Cheerleaderin, deren Namen ich nicht einmal kenne, lächelt und sieht über meine Schulter. „Gib mir dein Telefon.“
„Sonya!“, schilt eine ihre Freundinnen sie und kichert.
„Er ist zu jung.“
Ihr Name. Endlich. Sonya, meine Königin.
Ich suche in meiner Jeans nach meinem Handy und gebe es ihr. Sie nimmt es mit einem schiefen Grinsen. Als sie ihre Nummer eingibt, kann ich mein Glück kaum fassen. Ihre Freundinnen starren sie mit großen Augen an, während ich mich wie Herkules fühle.
Aber nur bis Sonya mir mein Handy zurückgibt und sagt: „Kannst du meine Nummer deinem Bruder geben?“
Ich schnappe wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft und fühle mich plötzlich, als hätte sie mir in die Eier getreten. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also nicke ich wie ein Weichei. „Klar.“
„Danke, Cody.“ Sonya beugt sich vor und küsst mich auf die Wange. Der Kuss ist keusch. Es ist offensichtlich, dass sie Mitleid mit mir hat, denn in Damian Bishops Schatten zu leben, ist, als würde man von der Sonne überstrahlt werden.
Sie tritt schnell von mir zurück und schreit auf. Ich habe keine Ahnung, warum, bis jemand nach meinem Oberarm greift und mich herumreißt. Er ragt über mir auf und hebt mich mit Leichtigkeit hoch, sodass ich auf seiner Augenhöhe bin.
„Lass mich runter, du Scheißkerl!“, fluche ich und versuche, mich zu befreien.
Als Reaktion lacht er nur. „Was machst du hier, Kleiner? Müsstest du nicht längst im Bett sein?“
„Fick dich!“ Ich spucke ihm ins Gesicht, was den gewünschten Effekt hat, denn er lässt mich auf die Füße fallen. Sofort ramme ich ihm mein Knie in die Eier. Er röchelt, klappt zusammen, und ich schlage ihm mit der Faust ins Gesicht. Ich bin plötzlich so wütend.
Ich bin vielleicht dünn, dafür aber rauflustig, und ich weiß, wie man kämpft. Damian würde das ausdiskutieren, aber ich bin nicht der verfluchte Damian – ich bin nicht so perfekt wie er.
Die Versager-Freunde des Kerls kommen angerannt, die Fäuste erhoben, bereit, sich zu schlagen. Gary ist keine Hilfe, denn er versteckt sich hinter den Mädchen. Sie sind in der Überzahl, vier gegen einen, aber ich fühle mich plötzlich so lebendig. Das ist mein Kampf, meiner, nicht Damians.
Und das treibt mich an, sodass ich einem der Blödmänner mit aller Kraft ins Gesicht schlage. Er fällt mit einem dumpfen Knall um. Von einer Sekunde auf die andere bin ich in einem Schauer von Fäusten und greife alles an, was mir in die Quere kommt. Pures Adrenalin treibt mich an, und ich ignoriere die Schreie um mich herum. Es ist das absolute Chaos.
Gerade als ich einem Arschloch mein Knie ins Gesicht ramme, höre ich eine Flasche splittern und sehe das gezackte Ende auf mich zukommen. Ich springe zurück und hebe die Arme. Der Kerl, dem ich in die Eier getreten habe, will sich an mir rächen. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, als er mich umkreist.
„Du kämpfst außerhalb deiner Liga, meinst du nicht? Bist hinter dem hübschesten Mädchen hier her.“ Der Schwachkopf ist ohne Zweifel der Anführer. Er hat seelenlose schwarze Augen, Augen, die ich nie vergessen werde. Außerdem hat er ein kleines, blaues Hai-Tattoo auf dem Hals.
„Lass ihn in Ruhe!“, schreit jemand. Ich glaube, dass es Sonya ist.
Diese Arschlöcher gehen nicht in unsere Schule. Ich würde sie erkennen, wenn es so wäre. Ich begreife, dass ich mich in ganz große Scheiße geritten habe, und jetzt, wo das Adrenalin abklingt, bekomme ich Angst. Gerade als der Bastard ausholt, wird er mit brutaler Kraft zur Seite geschleudert.
Ich drehe den Kopf und sehe den wütenden Damian, der bereit ist, es mit jedem aufzunehmen. „Legt euch mit jemandem an, der so groß ist wie ihr, ihr verfluchtes Pack!“, brüllt er und breitet die Arme wie ein verdammter Superheld aus.
Die Kerle rennen auf ihn zu und können ein paar Faustschläge austeilen, bevor Damian sie wie Ameisen zur Seite schleudert. Ich beobachte ihn mit großen Augen, denn ich kann nicht fassen, dass mein Bruder es mit ihnen aufnimmt und gewinnt. Ich habe geholfen, aber er lässt meinen Versuch lächerlich erscheinen.
„Friss Dreck, du Arschloch!“, schreie ich aus sicherer Entfernung und feuere meinen Bruder an.
Als die vier Trottel begreifen, dass sie verloren haben, huschen sie mit dem Schwanz zwischen den Beinen davon, wie Feiglinge. Ich habe meine erste Schlägerei gewonnen. Na ja, irgendwie.
Damian dreht sich mit diesem Großer-Bruder-Blick zu mir um. „Nach Hause. Sofort.“
„Ach, komm schon, Bro. Lass uns deinen Sieg mit einem Bier feiern.“
Sonya kichert, was mich denken lässt, dass ich vielleicht eine kleine Chance habe. Aber als Damian sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund wischt und schwankt, wird mir klar, dass wir beide nach Hause müssen. „Okay. Aber du kommst mit.“
Ich erwarte, dass er protestiert, doch er nickt erschöpft. Morgen wird er definitiv ein Veilchen haben.
Lyndsay bietet an, uns zu begleiten, aber Damian schüttelt den Kopf. „Du bleibst, Baby. Alle deine Freundinnen sind hier. Ruf mich an, wenn du zu Hause bist.“
„Bist du sicher?“, fragt sie und kaut auf der Unterlippe.
Das ist typisch Damian. Er denkt immer an andere.
„Ja. Außerdem muss ich den Kleinen nach Hause bringen. Er sieht mich demonstrativ an, und ich erwidere den Blick mit großen Augen. Er hat gerade meine Chancen bei Sonya ruiniert. Niemand will sich mit einem „Kleinen“ treffen.
Damian und Lyndsay küssen sich, und ich täusche Würgelaute vor.
Sonya lächelt mich an und flüstert: „Ruf mich an.“ Vielleicht habe ich falsch gelegen. Es scheint so, als würde dieser Abend gerade zum Besten meines Lebens werden.
Damian zerzaust mir das Haar, und dann gehen wir zusammen langsam den Hügel hinauf zu der Stelle, wo er sein Auto geparkt hat. Er ist unsicher auf den Füßen, was zeigt, dass er Schmerzen hat, aber er sagt kein Wort.
„Soll ich fahren?“, biete ich an. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem er mich davor bewahrt hat, zu Hackfleisch verarbeitet zu werden.
Damian greift in die Tasche seiner Schuljacke und holt den Schlüssel hervor. „Sag es nicht Mom“, zieht er mich auf, und ich lächele.
Das Gelände ist dicht mit Bäumen bestanden, und auch wenn es eine Abkürzung ist, wäre es wohl einfach gewesen, wenn wir auf dem Weg geblieben wären. Wir gehen langsam, während Damian versucht, wieder zu Atem zu kommen.
„Du stehst also auf Sonya Teller, was?“
Als ich nicht antworte, stupst er mich spielerisch in die Rippen. „Ich habe es dir gesagt – Cheerleader.“
Ich werde nie erfahren, was er noch sagen wollte, denn in der einen Sekunde steht er neben mir, und in der nächsten schwebe ich in der Luft.
Ich trete sofort um mich, aber es ist sinnlos. Irgendein Arschloch hat seine Arme um meine Mitte geschlungen und hält mich fest, während drei seiner Freunde zwischen den Bäumen hervorkommen und Damian angreifen.
„Nein!“, schreie ich und versuche, mich zu befreien, doch es ist zwecklos. Der Kerl hält mich zu fest. Ich rieche Bier und Gras in seinem stinkenden Atem. „Lass mich los.“
„Sorry, kann ich nicht. Es ist Zeit, dass du ein Mann wirst.“
Ich begreife, dass die Bastarde die vier sind, die uns vorhin angegriffen haben. Aber im Gegensatz zu vorhin haben sie einen verletzten Damian überrumpelt. Sie stürzen sich auf ihn, treten ihn in die Rippen, ins Gesicht, den Bauch – wo immer sie können. Er versucht, sie abzuwehren, aber einer stößt ihm das Knie so hart auf die Nase, dass sie unter dem Aufprall bricht.
Er fällt auf den Rücken und schnappt keuchend nach Luft. Er ist wirklich schwer verletzt. Ich sehe hilflos zu, unfähig, irgendetwas zu tun, während sie meinen Bruder bewusstlos schlagen, und ich nichts weiter machen kann, als mich zu winden.
Der Anführer lacht, als Damian erfolglos versucht, ihn abzuwehren. „Jetzt bist du nicht mehr so taff, was, Quarterback?“
„Lasst ihn in Ruhe!“, schreie ich und schlage wild auf den Mann ein, der mich an seinen Brustkorb gedrückt hält. Er ist ein großer, starker Scheißkerl, der um die hundert Pfund mehr wiegt als ich.
Damian stöhnt und gräbt die Finger in die Erde bei dem Versuch, von seinen drei Angreifern wegzukriechen. Der Anblick bringt mich um, weil er so schwach aussieht. Aber sie gönnen ihm keine Gnade, so wie er es bei ihnen gemacht hat. Der Anführer stellt sich vor ihn, zieht den Reißverschluss seiner schwarzen Jeans hinunter und pisst auf Damians Kopf.
„Du verfluchtes Arschloch! Hör auf!“ Ich trete um mich, bin mordlustig.
Einer stellt seinen Stiefel auf Damians Kreuz, um ihn davon abzuhalten, sich zu bewegen, während ein anderer auf die Knie geht, Damians Handgelenk mit einem Knacken zurückbiegt und ihm den Meisterschaftsring vom Finger reißt. Es ist nicht genug, dass sie ihn erniedrigen und brechen, sie bestehlen ihn auch noch.
Sie lachen auf Kosten meines Bruders hysterisch. Drei gegen einen ist wohl kaum fair, aber an dieser Situation ist gar nichts fair.
„Danke für den Ring“, spottet der Kerl, der ihn Damian abgenommen hat und streift den Ring über seinen Mittelfinger. „Mir gefällt deine Jacke. Ich wollte schon immer Quarterback sein. Aber man sagte mir, ich sei zu klein. Jetzt bin ich nicht so klein, was, Arschloch?“
„Zieh ihn hoch“, befiehlt der Anführer dem Kerl, der Damian zu Boden drückt. Er gehorcht, reißt an Damians Haar und zerrt ihn in einen unnatürlichen Winkel. Damian stöhnt. Er ist mit Blut und Pisse bedeckt.
Nachdem er seinen Reißverschluss zugezogen hat, tritt der Anführer hinter ihn und reißt ihm die Jacke herunter. Dann wirft er sie dem Arschloch zu, das Damians Ring gestohlen hat.
Nachdem sie ihn bestohlen und zusammengeschlagen haben, werden sie uns ja wohl in Ruhe lassen. Aber das tun sie nicht. Der Anführer schlägt Damian so hart ins Gesicht, dass ich einen seiner Zähne durch die Luft fliegen und im Dreck landen sehe.
„Nein!“, schreie ich immer wieder und versuche verzweifelt, mich zu befreien. Das Arschloch, das mich festhält, verstärkt seinen Griff nur noch und lacht, während er zusieht, wie seine Freunde meinen Bruder zusammenschlagen.
Der Dieb und der Leitwolf wechseln sich ab, Damian ins Gesicht zu boxen, bis ihm das Kinn auf die Brust sackt. Blut sickert aus seinem Mund und färbt die Erde rot. Das Mondlicht fällt auf etwas Glänzendes – Damians Sankt Christophorus Medaillon.
Er nimmt es nie ab. Er nennt es seinen Glücksbringer. Doch jetzt ist es nichts weiter als noch etwas, das sie stehlen können. Der Anführer zerrt es von seinem schlaffen Hals und zerreißt dabei die Kette. Er nickt seinem Freund zu, der Damian festhält, und der lässt ihn in den Dreck fallen.
Er bleibt röchelnd liegen.
Bei diesem Anblick drehe ich durch. Damian ist wegen mir verletzt worden … und ich weigere mich, diese Tatsache zu akzeptieren.
Etwas unglaublich Wildes überwältigt mich, und ich werfe den Kopf zurück, knalle ihn ins Gesicht des Blödmanns. Er stößt ein schmerzerfülltes Keuchen aus und lässt mich fallen. Ich rappele mich hoch, meine Beine fühlen sich wie nutzloses Gummi an, doch endlich bin ich auf den Füßen und renne zu Damian.
„Nein, Kleiner … nicht“, warnt er mich atemlos und streckt seine gebrochene Hand aus, doch ich höre nicht auf ihn. Es ist Zeit, dass ich ihn rette. Ich bin so erpicht darauf, zu ihm zu kommen, dass ich es nicht merke, bis es zu spät ist.
Wie aus dem Nirgendwo stürzt sich jemand mit einem Stein in der Hand auf mich, bereit, mein erbärmliches Leben ein für alle Mal zu beenden. Ich habe keine Zeit, ihn abzuwehren. Ich bin umkreist, in die Ecke gedrängt. Ich wappne mich für den Tod, fühle aber nichts. Vielleicht bin ich schon tot.
Als nichts passiert, öffne ich langsam die Augen und finde mich in derselben Position wie vorher, doch ich verstehe nicht, was ich da sehe. Der Anführer steht regungslos vor mir, den Stein in der Hand, Blut tropft von seinen Fingern. Seine Lippen sind zu einem fiesen Grinsen verzogen, und er starrt zu Boden.
Ich folge seinem Blick und sehe … oh Gott, nein, bitte nicht.
Es gibt die Ruhe vor dem Sturm, eine Ruhe, die es mir ermöglicht, einen Anblick zu ertragen, den mein Hirn nicht verarbeiten will, denn das darf einfach nicht sein. Vor mir liegt mein Bruder, aber etwas ist absolut nicht in Ordnung. Ein markerschütternder Schrei entringt sich meiner Brust, und das ist der Weckruf, den ich gebraucht habe. Er setzt den Anfang vom Ende in Bewegung.
„Damian?“, sage ich, weil ich nicht glauben kann, was ich sehe. Doch als hellrotes Blut den Boden unter ihm befleckt, weiß ich, dass es wahr ist.
„Oh, mein Gott!“ Der Dreck fliegt, als ich zu ihm renne und dabei die vier Arschlöcher aus dem Weg schiebe. Ich sinke auf die Knie, ziehe ihn an meine Brust, und mein Magen verkrampft sich, als ich merke, wie schlaff sein Körper ist. „Damian, hörst du mich?“
Seine Augen blinzeln schnell, aber er sagt nichts. Offenbar hat er einen Schock erlitten.
„Jemand muss den Notruf wählen!“, schreie ich so laut, dass meine Stimmbänder wehtun. „Bitte!“ Ich habe in dem Durcheinander mein Handy verloren.
Ich streiche ihm das blonde Haar aus der Stirn und ziehe meine Hand in Hellrot getaucht zurück. Ich verstehe nicht, warum. Ich ziehe ihn eng an mich, aber mein weißes T-Shirt ist plötzlich blutrot. Ich hebe ihn sanft an, und mir wird übel, als ich das klaffende Loch in seinem Hinterkopf sehe. Ein Loch, das der Dreckskerl hineingeschlagen hat, der die Waffe immer noch in der Hand hält. Ich begegne seinem toten Blick und schwöre mir hier und jetzt, dass ich ihn finden und dafür sorgen werde, dass er dasselbe Schicksal erleidet. „Glaubst du immer noch, dass du besser als ich bist, Hübscher?“, knurrt er und spuckt auf mich und meinen Bruder. Die letzte Beleidigung, bevor er den Stein einem seiner Freunde zuwirft.
Der Dreckskerl, der meinen Bruder wie einen Hund zu Boden gedrückt hat, hält den Stein mit großen Augen. Er scheint wie in einem Nebel gefangen zu sein.
„Bitte“, bettele ich. „Ruft einen Rettungswagen. Mein Bruder stirbt. Bitte helft ihm.“
Jetzt, wo ihm der Ernst ihrer Tat klar wird, scheint er schockiert zu sein. „Jaws?“, sagt er schließlich.
Aber Jaws, der Anführer, schüttelt den Kopf. Sein Tattoo ergibt jetzt einen Sinn. „Willst du ins Gefängnis? Wirklich? Dann nur zu, ruf die verdammte Polizei. Erzähl ihnen, was du getan hast.“
Jaws greift in seine Tasche und hält ihm sein Handy hin. „Dann ist dein Leben zu Ende, genau wie seins.“ Er sieht voller Hass auf Damian hinunter.
Ich blicke zwischen ihnen hin und her, flehe sie an, Gnade zu zeigen, aber letztlich siegt immer die Angst.
Der Feigling verschwindet in der Nacht, lässt den Ort seiner Tat hinter sich, lässt meinen Bruder sterben. Bald folgen ihm die anderen, Jaws ist der Letzte, der geht.
Seine Abschiedsworte verändern mich für immer, denn er hat recht. „Das ist deine Schuld, Junge.“ Er verschwindet als freier Mann in der Dunkelheit, obwohl er einen Mord begangen hat.
Ich kann ihn nicht verfolgen. Ich bin hilflos, oder eher nutzlos, denn das ist meine Schuld.
„Kommt zurück! Ich werde euch finden, ihr Scheißkerle! Ich bringe euch um. Das schwöre ich! Ihr seid schon alle tot!“ Spucke bedeckt mein Kinn, ich schaukele meinen Bruder in den Armen, ziehe ihn an meine Brust. „Damian, es tut mir so leid. Bitte stirb nicht.“
Meine Tränen tropfen auf Damians Wangen, während ich ihn fest umarme. Ich blicke in den sternenlosen Himmel hinauf, schreie das Universum an, bettele, dass jemand Gnade mit meinem Bruder hat, weil er es nicht verdient, zu sterben. Wenn jemand verdient, zu sterben, dann ich.
Wenn ich ihm nur nicht gefolgt wäre, wenn ich nur bei Gary geblieben wäre, dann wäre das alles nicht passiert.
„Es tut mir leid“, wiederhole ich immer wieder und schaukele meinen röchelnden Bruder. Ich bin mit seinem Blut bedeckt. Es ist klebrig und warm, und mir wird davon übel.
Ich versuche, die Blutung aus seinem Hinterkopf zu stoppen, indem ich meine Hand auf die klaffende Wunde lege, aber ich spüre nur Matsch. Mir wird klar, dass dieser Matsch sein Gehirn ist. Dieser Bastard hat ihm den Schädel eingeschlagen.
„Ich verspreche dir, dass ich brav sein werde. Nur stirb bitte nicht“, bettele ich Damian an und sehe ihm in die Augen. „Ich liebe dich, Bro. Verlass mich nicht. Bitte, bitte, verlass mich nicht.“
Seine Silberkette liegt ein Stück entfernt. Die Feiglinge haben sie fallenlassen, als sie geflohen sind. Ich strecke einen Arm aus und greife danach. Ich kann jetzt alles Glück brauchen, das ich finden kann.
Mein Bruder wird nicht sterben. Er ist stark. Ein verdammter Superheld. Das sieht man daran, was er getan hat. Obwohl sie ihn so zusammengeschlagen haben, fand er die Kraft, sich aufzurichten, um mich zu beschützen. Wenn er nicht eingegriffen, sich vor mich gestellt und den Schlag abgefangen hätte, der für mich bestimmt war, dann würde jetzt ich auf dem kalten Boden liegen und verbluten. Jemand wie Damian stirbt nicht, nicht mit siebzehn, nicht, wenn sein ganzes Leben noch vor ihm liegt. So grausam kann das Leben nicht sein, oder?
Als ich jedoch Lyndsay einen hysterischen Klagelaut ausstoßen höre, begreife ich, dass das Leben tatsächlich so grausam ist. Es hat mir meinen Bruder genommen. Es hat mir den einen Menschen genommen, der es nicht verdient hat, zu sterben.
Ich senke langsam den Blick und sehe in die leblosen Augen meines Bruders, denn er ist tot … tot … wegen mir.
Ich schnelle hoch, bin schweißbedeckt.
Ich taste verzweifelt nach der Nachttischlampe, schalte sie an und atme erleichtert auf, als mir klar wird, wo ich bin. Es war nur ein Traum oder, genauer gesagt, der Albtraum, der mich seit vierzehn Jahren quält.
Ich streiche über die kurzen Stoppeln auf meinem Kopf, werfe die Laken zur Seite und setze mich auf die Bettkante. Ich lege die Hände um mein Gesicht, senke den Kopf und atme tief durch. Damians Medaillon brennt auf meiner Haut.
Mit Damians Tod begann der Niedergang meiner Familie.
Als die Sanitäter eintrafen, bestätigten sie, was ich bereits wusste. Damians Todesursache war stumpfe Gewalteinwirkung auf seinen Kopf – was nichts anderes hieß, als dass ein verfluchter Stein seinen Schädel wie eine Melone aufplatzen lassen hatte.
Die Polizei kam kurz darauf, nahm von allen die Aussagen auf, was aber keine Hilfe war, da niemand den Mord gesehen hatte. Außerdem gerieten sie in Panik.
Einige kannten die Kerle, die in die Party reingeplatzt waren, aber niemand war bereit, sie zu verraten. Die Mordwaffe hätte jeder der hundert Steine sein können, die dort herumlagen. Und ohne Beweise oder zuverlässige Zeugenaussagen, und da ein Verbrechen, wie es an meinem Bruder begangen wurde, in Detroit jeden Tag passierte, blieb der Fall ungelöst.
Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen, das heißt, niemand wurde für den Mord an meinem Bruder bestraft. Wo blieb da die Gerechtigkeit? Ich erzählte der Polizei immer wieder, wie die Täter aussahen, aber ohne einen Namen – und der Spitzname Jaws reichte nicht – und ohne Spuren, war Damian nur eine weitere Nummer in der Statistik.
Die Polizisten sahen in mir nur ein weiteres nutzloses Balg.
Meine Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch, während mein Vater keine Gefühle mehr zuließ. Sie sagten mir, dass es okay und nicht meine Schuld sei, aber als man meinen Bruder in sein Grab senkte – seine Leiche lag in einem weißen Sarg – war es klar, dass sie wünschten, sie würden mich begraben, nicht meinen Bruder.
Danach waren Mom und Dad nie wieder dieselben. Sie schienen einander zu hassen und sich gegenseitig die Schuld an Damians Tod zu geben, dabei hätten sie mich beschuldigen sollen. Doch das taten sie nicht. Sie machten etwas Schlimmeres. Sie vergaßen, dass es mich gab.
Doch das trieb mich nur an, das zu tun, was die Polizei nicht tat. Ich würde diese Arschlöcher finden und sie dafür bezahlen lassen.
Die spärlichen Informationen, die ich hatte, besagten, dass sie zu einer Gang gehörten. Also durchstreifte ich die Straßen und hielt nach ihnen Ausschau. Aber ich war ein Außenseiter, ein privilegiertes weißes Kind, dass da war, wo es nicht hingehörte. Monatelang suchte ich nach ihnen, doch niemand redete mit mir. Es war, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Verzweifelt und voller Schuldgefühle begann ich, Drogen zu nehmen, Alkohol zu trinken und mich mit Mädchen herumzutreiben – alles, um meinen Schmerz zu betäuben. Ich schmiss die Schule und ließ mich auf die falschen Leute ein, die genauso verkorkst waren wie ich. Ich bedeckte meinen Körper mit Tattoos und Piercings, weil der Schmerz mich etwas fühlen ließ. Dennoch war ich innerlich tot.
Ich wollte die Sünden auf meiner Haut darstellen, damit jeder sehen konnte, was ich getan hatte. Ich zog aus, gammelte überall herum und interessierte mich nicht wirklich dafür, ob ich lebte oder starb. Ich war so verdammt allein, aber ich verdiente es. Damian würde immer allein sein, also schwor ich mir, es auch zu sein.
Zwei verfluchte Jahre war ich kaum am Leben, glitt ins Leben hinein und hinaus, als wäre ich ein Fremder in meiner eigenen Haut. Ich hatte meine Eltern monatelang nicht gesehen, und auch wenn sie vorgaben, mich zu vermissen, war klar, dass ich sie nur an das erinnerte, was sie verloren hatten. Als ich ging, fragten sie nie, ob ich zurückkommen würde.
Eines Nachts war ich unterwegs, um etwas Gras zu kaufen, als sich meine Nackenhärchen aufrichteten. Ich wusste nicht, warum, aber als ich über die Schulter sah, war es, als würde ich nach zwei Jahren zum ersten Mal wieder zum Leben erwachen.
Ich sah ihn. Das rückgratlose Arschloch, das am Tod meines Bruders beteiligt gewesen war. Ich würde ihn nie vergessen – sein Gesicht hatte sich in meine Seele eingebrannt. Ich hatte ihn um Hilfe gebeten, und er war weggerannt. Er hatte eine Chance gehabt, sich reinzuwaschen, aber jetzt hatte er dieses Glück nicht mehr. Vielleicht hatte er meinen Bruder nicht geschlagen, aber er war an seinem Tod beteiligt gewesen.
Ich erinnerte mich an meinen Schwur, ihn umzubringen und wie die Sanitäter mir die Leiche meines Bruders aus den Armen zogen, und das belebte mich mit einem Feuer, das ich seit Ewigkeiten nicht mehr gespürt hatte. Ich war siebzehn und kurz davor, offiziell als Erwachsener zu gelten. Doch ich war schon lange vor meinem achtzehnten Geburtstag erwachsen.
Ich wusste nicht, wie ich die ständige Trauer loswerden sollte. Ich wusste nicht, wie ich damit fertig werden sollte, bis ich ihn sah.
In diesem Moment wusste ich, was ich tun musste.
Ich glaubte, dass Auge um Auge alles besser machen würde. Ich würde die Ehe meiner Eltern retten und meinen Bruder rächen. Wenn ich dieses Arschloch tötete, würde alles wieder wie vorher werden, glaubte ich. Ich war wie besessen und machte es mir zur Aufgabe, alles über einen der Männer, die meinen Bruder getötet hatten, herauszufinden.
Er hatte die Nachtschicht in einem 7-Eleven Supermarkt, was perfekt war. Ich konnte meine Überwachung in den Schatten durchführen, wohin ich gehörte. Zwei Wochen lang stalkte ich ihn, und als ich bereit war, kaufte ich auf der Straße eine Waffe, damit man sie nicht zu mir zurückverfolgen konnte.
Ich war nicht high oder betrunken, als ich in der Gasse hinter dem Laden lauerte. Ich war ruhig. Ich wartete darauf, dass er den Müll rausbrachte, was er jede Nacht um zwei Uhr tat. Als sich die Hintertür öffnete und er mit dem schwarzen Müllsack über der Schulter herauskam, begriff ich, dass meine Zeit jetzt gekommen war, der Moment, um Damian zu rächen.
Ich trat aus den Schatten, zog die Waffe aus der Tasche und zielte. Auf seinem Namensschild stand Lachlan. Zuerst war er verwirrt, aber als er mich sah, wusste er es. Er wusste, dass sein Tag gekommen war.
Der Müllsack fiel zu Boden, und er bettelte um sein Leben. Er fiel auf die Knie und bat mich für das, was er getan hatte, um Vergebung. Er sagte, es wäre ein Unfall gewesen, dass er nicht vorgehabt hätte, meinen Bruder zu verletzen, doch es war zu spät. Seine Entschuldigung bedeutete mir nichts.
Er hatte zwei Jahre gelebt, die Damian nicht gehabt hatte. Es war Zeit.
Ich fragte ihn, wo Jaws ist, aber er bestritt, zu wissen, wo er war. Das beschleunigte nur das Unvermeidliche, denn ich wusste, dass er log. Ich spannte die Waffe, legte den Finger auf den Abzug, aber als er zu schluchzen begann und sich in die Hose pisste, bat mich eine Stimme, die ich seit Ewigkeiten nicht gehört hatte, es nicht zu tun. Das würde ihn nicht zurückbringen, sondern alles nur noch schlimmer machen. Aber was konnte schlimmer sein, als mein Leben ohne meinen Bruder zu verbringen?
Doch die Stimme gehörte meinem Bruder und es war, als ob der Anblick seines Mörders ihn irgendwie wieder zum Leben erweckt hätte.
Die Stimme sagte mir, ich solle Lachlan vergeben, denn Damian hätte es getan. Er hätte seinen Tod akzeptiert und nun wäre es an mir, dasselbe zu tun.
Jeder Zentimeter meines Körpers wollte Rache nehmen, verlangte verzweifelt nach Blutvergießen und Vergeltung. Doch als ich in Lachlans Augen sah, wurde mir klar, dass ich nicht besser als er wäre, wenn ich ihm das Leben nahm. Ich fühlte mich so verdammt verloren, wusste aber, dass ich kein Mörder war.
Wenn ich das tat, würde es kein Zurück und kein Morgen mehr geben. Und wieder retteten mich Damians weise Worte.
Ich hatte kaum den Finger vom Abzug genommen, da fasste Lachlan mit einem Grinsen in seine Tasche. Sofort überfielen mich Visionen von Blut, Damians warmes, dickes Blut, und mein paranoider Geist sah mich in einem Grab neben dem meines Bruders. Ich würde nicht noch einmal zögern.
Ich zielte und drückte völlig gefühllos ab. Es war das erste Mal, dass ich eine Waffe abfeuerte, ein perfekter Volltreffer mitten in seine Brust. Lachlan blinzelte noch einmal, bevor er mit einem dumpfen Geräusch vornüber fiel. In der ausgestreckten Hand hielt er ein Samtkästchen, in dem sich, wie ich später feststellte, ein Verlobungsring befand.
Ich hatte ihn erschossen, weil ich dachte, dass er nach einer Waffe griff, aber in Wirklichkeit wollte er mir danken, weil ich sein Leben verschont hatte, denn er hatte dieses Leben zusammen mit jemand Besonderem geplant. Doch das ruinierte ich in dem Moment, als ich ihn kaltblütig erschoss.
In der Nacht hörte ich zum ersten und einzigen Mal Damians Stimme, ein sicheres Zeichen dafür, dass er mich nicht mehr als seinen Bruder ansah. In der Nacht starb auch Cody Bishop, und Bullseye wurde geboren.