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V. Schlussbemerkung

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Die Normenkontrolle in ihren unterschiedlichen Formen bildet nach wie vor die Kernkompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit auch im europäischen Rechtsraum. Sie wird in unterschiedlichen Formen praktiziert, wobei die konkrete Normenkontrolle den kleinsten gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Systeme darstellt. Ein Gericht, das eine Kompetenz zumindest zur inzidenten konkreten Normenkontrolle nicht besitzt, kann weder im engeren noch im weiteren Sinne als Verfassungsgericht qualifiziert werden.

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Das Organstreitverfahren ist demgegenüber in den meisten Ländern des europäischen Rechtsraums nur von untergeordneter Bedeutung. Obwohl in den letzten Jahrzehnten mehr Staaten dieses Verfahren in ihre Verfassungen oder zumindest Verfassungsgerichtsgesetze aufgenommen haben, ist seine Normierung in den meisten Fällen knapp und fragmentarisch. Dieser zurückhaltenden Regulierung entspricht die sehr begrenzte Relevanz des Organstreitverfahrens in der verfassungsgerichtlichen Praxis. Nur in zwei Ländern des europäischen Rechtsraums ist dieses Verfahren näher entfaltet und zum Schutz hochrangiger Verfassungsgüter (Schutz der Integrität der rechtsprechenden Gewalt, demokratischer Minderheitenschutz) effektiv eingesetzt worden.

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Während Verfassungsgerichte im Organstreitverfahren durchweg und im Normenkontrollverfahren überwiegend exklusive Zuständigkeiten ausüben, teilt die Verfassungsgerichtsbarkeit die Aufgabe eines wirksamen Individualrechtsschutzes mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit bzw. der Fachgerichtsbarkeit. Der Grundrechtsschutz überformt nicht nur in Deutschland den klassischen Individualrechtsschutz, der den Gerichten im europäischen Rechtsraum schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt ist, und lässt deren zentrale Rolle bei der Durchsetzung der verfassungsrechtlichen Grundrechte als Kernstück der verfassungsmäßigen Ordnung im juristischen Alltag hervortreten. Das Verfassungsprozessrecht hinkt dieser Entwicklung allerdings zum Teil noch hinterher. Besonders deutlich ist dies in Ländern, in denen die Verfassungsgerichtsbarkeit vor dem Aufschwung des verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutzes eingeführt wurde, wie in Italien und Frankreich. Wichtige Funktionen des Individualbeschwerdeverfahrens, insbesondere der verfassungsgerichtliche Schutz vor Grundrechtsverletzungen unmittelbar durch Gesetz, werden in diesen Ländern im Rahmen ursprünglich stärker objektivrechtlich konzipierter Verfahren, namentlich der konkreten Normenkontrolle wahrgenommen. In einem Kontext, in dem der Grundrechtsschutz immer stärker als Kernaufgabe der gesamten Gerichtsbarkeit begriffen wird, wandelt sich die Funktion des Verfassungsgerichts von einer Beschwerde- zu einer Aufsichtsinstanz über die ordentlichen Gerichte bzw. Fachgerichte, die diesen Schutz im Alltag primär gewährleisten müssen. Dementsprechend kommt der Urteilsverfassungsbeschwerde als Instrument zur Steuerung der Grundrechtsinterpretation durch die Fachgerichte heute eine zentrale Bedeutung zu. In vielen Ländern ist sie aber entweder im Verfassungsgerichtsgesetz gar nicht vorgesehen oder führt in der Praxis nur ein Schattendasein. Denn selbst dort, wo die Urteilsverfassungsbeschwerde gesetzlich geregelt ist, sehen die Verfassungsgerichte im Hinblick auf eine latente oder offene Rivalität mit den Fachgerichten und deren hierarchischer Spitze nicht selten von einer aktiven Wahrnehmung dieser Kompetenz ab.

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