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Harlekin im Regen

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Regina saß im Schlafzimmer auf dem Fellhocker und war ganz vertieft in ihr Spiegelbild, so dass sie alles, was sie umgab, nicht mehr wahrzunehmen schien. Machte sie sich zum Ausgehen fertig?

Ihre Tochter Beatrix lehnte lässig am Türrahmen. Sie fühlte sich so gut wie lange nicht. Zum ersten Mal trug sie ihr neues Kleid, das seidig glänzende, das mit der großen Schleife im Rücken. Sie konnte, wenn sie wollte, viel schneller als ihre Mama angezogen sein. Und heute sowieso, schließlich wollten sie ihren 10. Geburtstag feiern. Gemeinsam. So war es besprochen. Bea konnte sich aber gar nicht so sicher sein, ob ihr Vorhaben auch in die Tat umgesetzt wird. Mal sagte ihre Mutter so, mal wieder anders.

Regina löste ihren Blick vom Spiegel, stand langsam auf, ging zum Schrank und nahm sich neue Strümpfe heraus. Selbst bei diesen paar Schritten schien sie auf ihre Haltung zu achten: sie ging kerzengerade, das Kinn angehoben, die Brust raus, den Bauch rein. Eben wie eine Königin. Bea musste ein Kichern unterdrücken, als sie daran dachte, wie stolz die Mutter ihr erklärt hatte: "Regina ist Lateinisch und heißt Königin!"

Während diese ebenso hoheitsvoll ihren Platz vor dem Spiegel wieder einnahm, trällerte sie ein Liedchen vor sich hin, das Beatrix noch nie leiden mochte. Es stammte aus Mamas Lieblings-CD. Aber diese sogenannten "Küchenlieder" taten Beas Ohren fast weh. Übrigens sang ihre königliche Mutter in der Küche ebenso so selten wie sie dort kochte.

„Sabiiiinchen warrr ein Frrrauenzimmerrr...“ schnarrte sie und es klang, als versuchte eine heisere Krähe zu singen. Doch Bea wollte das aufkommende Unbehagen nicht zulassen.

Nicht heute! Nicht an ihrem Ehrentag!

Sie redete sich ein, dass sich das blöde Lied ja trotz (oder vielleicht sogar wegen?) des rauen Tons ja auch irgendwie lustig anhören würde. Ihr war mit einem Mal so, als schliche sich die Freude zurück in ihr Herz. Vielleicht feiern sie diesen Geburtstag ja doch noch gemeinsam ... Kurz zuvor hatte Mama zwar noch etwas anderes angedeutet, aber das musste, so Beas Erfahrungen, nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben. Schließlich war der Satz "Denn erstens kommt es anders - und zweitens als man denkt!" einer von Mutters Lieblingssprüchen. Wenn Bea auch sonst nicht so begeistert von solchen Voraussagen war, so hoffte sie diesmal doch, dass es wahr werden würde.

Als sie sich ausmalte, wie sie gemeinsam mit ihrer Mutter in ein Taxi kletterte, machte ihr Herz ein paar Vorfreudenhüpfer. Regina würde den Namen eines feinen Restaurants als Ziel angeben, ein königliches, versteht sich. Bea würde auf keinen Fall wieder nur Pommes mit Ketchup oder Mayo bestellen. Auch, wenn es ihr vielleicht sogar am besten geschmeckt hätte. An diesem Tag sollte es etwas Besonderes sein. So war ihr Plan.

Was machte denn Regina jetzt? Sie rollte erst den einen, dann den anderen Strumpf mit beiden Händen vorsichtig über ihre Beine und reckte diese nacheinander in die Höhe.

Beatrix konnte nicht anders als ihre Mama zu bewundern. Sie ist wirklich schön wie eine Königin, dachte sie. Aber als sie bemerkte, wie die Königin immer wieder nur sich selbst im Spiegel anlächelte, spürte sie einen dumpfen Schmerz im Bauch. Ihr Kopf sank entmutigt auf die Brust. Deshalb blieben ihr auch Reginas Blicke verborgen. Die Mutter hatte ihre Tochter im Spiegel entdeckt und betrachtete sie prüfend.

Beatrix atmete tief durch, um wenigstens das Bauchweh zu verscheuchen. Es wäre wohl besser, das Zimmer zu verlassen. Sie zuckte deshalb heftig zusammen, als die Mutter sie plötzlich doch noch ansprach: „He, Beatrix, was schaust du so bedröppelt? Kopf hoch, du bekommst bestimmt auch eines Tages so schöne lange Beine wie ich! Die Männer werden verrückt nach dir sein!“

Regina zwinkerte ihrer Tochter verschwörerisch zu und lächelte auf eine Art, die Bea als unangenehm empfand. Nicht nur deshalb unterließ sie ein Zurückzwinkern. Und sie lächelte auch nicht. Sie wollte ihrer Mutter nichts vorgaukeln. Sie hätte das als unehrlich empfunden. Ihre Ehrlichkeit ging aber auch nicht so weit, ganz offen zu sagen, dass ihr bei solchen Reden immer speiübel wurde.

Und überhaupt: Männer! Kennt sie denn welche? Nein, eigentlich kennt Beatrix bis jetzt (außer den Lehrern und ein paar Nachbarn) nur Jungs. Die sind ja wirklich manchmal zu blöd. Jedenfalls die aus ihrer Klasse. Mit denen wollte sie lieber nichts zu tun haben. Ach, was soll´s.

Beatrix hob den Kopf und versuchte, ihrer Mutter in die Augen zu schauen. Das Unbehagen verflog so schnell wie es gekommen war. Richtige Märchenaugen hat sie, dachte die Tochter, so dunkel und doch klar, das Weiße ganz weiß, wie bei meiner Puppe Anna, von dunklen Wimpern umsäumt. Bea hatte diese Puppe schon vor langer Zeit in irgendeine Kiste gesteckt, aber an die Wimpern konnte sie sich noch bestens erinnern.

„Die sind sogar bei deiner Mutter echt“, hatte ihre Freundin Conny oft genug gelästert. "Aber alles andere?“

Klar. So ganz Unrecht hatte Conny wohl nicht. Auch Beatrix hatte die kleinen Näpfchen und Tiegelchen mit Farbe, Pinseln und Stiften längst entdeckt. Ihr war auch nicht entgangen, dass ihre Mutter ungeschminkt so gut wie nie aus dem Haus ging.

„Ja, Mama“, sagte Beatrix jetzt schnell, als der eben noch verschwörerische Blick vorwurfsvoll zu werden drohte.

„Ja, vielleicht“, wiederholte sie sicherheitshalber noch einmal, öffnete den Mund ein wenig schief, so dass links ihre Zahnspange hervor blitzte.

Ihre Mutter schien mit der kargen Antwort ebenso wie mit dem schiefen Lächeln ihrer Tochter zufrieden zu sein. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt schon wieder ihrem eigenen Spiegelbild.

Beatrix drehte sich auf dem Absatz um und schlenderte durch die Wohnung.

Auf dem Teppichboden lag ein Häufchen Unterwäsche, an der Tür stieß sie sich den Fuß an einer leeren Flasche, die sich schaukelnd zu drehen begann, als sie ihr einen leichten Tritt versetzte. Neben dem leeren Aschenbecher lagen vertrocknete Apfelsinenschalen. Anscheinend bemerkte sie heute mehr und andere Dinge als sonst.

Im Bad duftete es nach Parfüm.

„Schanel Numero fünf“, hatte Conny verächtlich durch die Zähne genuschelt und gegrinst, „wenn sich deine Mutter noch so teures Zeug leisten kann, dann könnt ihr wohl so arm nicht sein!“

Der Freundin war es meistens egal, ob ihre Worte jemandem weh taten oder nicht.

In den Ruf der Armut waren Beatrix und ihre Mutter gekommen, weil es sich in der Schule schnell herumgesprochen hatte, dass Regina Riedel „allein erziehend“ und „auch noch arbeitslos“ war. Wenigstens fragte nach dem Vater niemand. Bea konnte sich sowieso nicht erinnern, ihn jemals gesehen zu haben. Ihrer Freundin hatte sie irgendwann das Foto von einem Tierfilmer vor die Nase gehalten.

"Er arbeitet in Afrika", hatte sie stolz verkündet.

Aber was tat Conny? Nicht etwa, dass sie vor Staunen Mund und Nase aufgesperrt hätte. Nein, sie verdrehte die Augen und begann leise zu kichern, Dann nickte sie, verzog abschätzig den Mund und zischte leise: "Aha, Afrika …"

Es muss wohl nicht extra erwähnt werden, dass sie Bea kein Wort glaubte, sondern einfach nur losstiefelte und die Tür zuknallte.

An dem Tag nahm sich Beatrix vor, ihrer Freundin überhaupt nichts mehr zu erzählen. Jedenfalls nichts Wichtiges.

Auch ihr allergrößtes Geheimnis würde sie für sich behalten. Was ging es denn Conny auch an, dass Regina Riedel in Wahrheit doch manchmal arbeitete. Meist vormittags. Wegen der Schule, hatte sie gesagt. Doch auch abends war sie schon unterwegs gewesen, hin und wieder klingelte das Telefon sogar nachts. In dem Falle war sie lange Zeit nie aus dem Haus gegangen, ohne sich von Beatrix zu verabschieden.

„Ich muss noch mal los, Kleines, schlafe schön!“

Die geflüsterten Worte das Streicheln und der Kuss auf die Wange waren manchmal bis in Beas Träume vorgedrungen. Aber ehrlich gesagt: Dieses schöne Ritual war schon lange nicht mehr vorgekommen.

Mit einem Mal fühlte sich Beatrix ganz verloren. Am liebsten hätte sie laut losgeheult, aber dazu war sie wohl doch schon zu groß. Mit klopfendem Herzen und wieder stärker werdendem Bauchweh zog sie sich auf ihre „Insel“ zurück. Im Kinderzimmer setzte sie sich aufs Bett, hüllte sich in ihre riesige blaue Decke mit den unzähligen Sternen ein, zog die Beine an die Brust, umschlang ihre Knie und ließ ihren Kopf darauf sinken. Doch das herbei gewünschte kuschelige Gefühl der Geborgenheit wollte sich diesmal einfach nicht einstellen. Nicht einmal dann, als sie die Augen ganz fest schloss.

Was war das? Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Sie hob den Kopf und lauschte, aber nichts rührte sich mehr. War etwa eine Tür ins Schloss gefallen? Sie lauschte noch angestrengter, aber alles blieb still. Da ließ eine unbestimmte Ahnung sie erschauern …

Heftig warf sie den blauen Sternenhimmel weit von sich, sprang auf und stolperte atemlos ins Schlafzimmer. Der Fellhocker vor dem Spiegel war leer. Nirgends mehr eine Spur von Regina, der Königin.

Als Beatrix mit gesenktem Kopf an der Flurgarderobe vorbei schlich, entdeckte sie den Zettel: Wollte dich auf deiner Insel nicht stören, bin bald zurück, mein Kleines, mach´ es dir gemütlich! Mama.

Hatte denn ihre Mutter überhaupt nach ihr gesehen? Bea konnte sich nicht erinnern. Wütend zerknüllte sie das Blatt Papier in ihrer heißen Hand.

„Von wegen Abendessen in einem guten Restaurant! Träum weiter Baby!" Bea hatte laut gedacht und erschrak über den rauen, höhnischen Klang ihrer sonst viel zu leisen Stimme. Wie die Werner, dachte sie müde. Wenn diese Lehrerin nämlich ihre Schülerin beim Träumen erwischte, dann schleuderte sie der Übeltäterin auch solche Worte von oben herab an den Kopf: „Schlaf ruhig weiter, du wirst schon sehen, wie dein Zeugnis beim Abschluss glänzen wird!“

Beatrix stieß mit dem Fuß nun absichtlich und vor allem heftig gegen die Flasche im Wohnzimmer.

„Gemütlich!“ Das Wort fuhr ihr böse durch die Zahnspange. Mit dem Fußtritt und dem langsamen Austrudeln der Flasche schien ihre Wut jedoch immer mehr in sich zusammenzufallen. Denn jetzt verspürte sie etwas ganz anderes: Hunger.

Im Kühlschrank fand sie eine Fischbüchse und zwei Flaschen Sekt, im Brotkasten noch ein paar Scheiben vom Vortag, mit leicht nach oben gebogenem Rand.

Ungeduldig kramte sie im Küchenschrank nach dem Büchsenöffner.

„Wo ist denn nur dieses vermaledeite Ding?“

Das komische Wort hatte ihre Großmutter oft gebraucht. Sie war im vorigen Jahr gestorben, aber deren altmodische Wörter lebten in Beatrix fort. Im vorigen Jahr erst? Bea kam es so vor, als läge die schöne Zeit mit Oma Gisela schon viel länger zurück. Aber sie vermisste sie noch immer: Ihre spröde und gleichzeitig liebevolle Art, ihre coolen Sprüche, ihr großes Herz und die kleinen Ohren, die nichts so gut konnten wie Zuhören. Bea hatte keine Scheu, ihr alles zu erzählen. Einen besseren Kummerkasten als Oma gab es auf der ganzen Welt nicht.

Ganz hinten im Schubfach stießen ihre Finger schließlich auf etwas Kühles, Hartes, Glattes. Der Büchsenöffner? Nein, der hätte sich anders angefühlt. Beatrix erschrak.

Fast hätte sie ihr Fundstück vergessen. Nun fiel ihr wieder ein, dass sie das perlmuttbesetzte Ding schon vor langer Zeit dort versteckt hatte.

„Ist ja man bloß´ n Feuerzeug“, hatte Conny mit spöttisch herab gezogenen Mundwinkeln den Fund verhöhnt. Was weißt du schon, hatte Beatrix damals gedacht, aber laut und schnippisch entgegnet: „Na klar, was dachtest du denn?“

Sie wusste selbst nicht, wozu sie jene Feuerzeugpistole überhaupt aufbewahrt hatte.

„Ach, da ist ja endlich das vermaledeite Ding!“

Der Büchsenöffner war gefunden.

Die Pistole sogleich vergessen.

Wie hatte die Mutter geschrieben? Mach´ es dir gemütlich!

Das wollte sie nun tun, aber nicht mit schmutzigen Händen. „Nach dem Stuhlgang – vor dem Essen...“ Na, lassen wir das, der Spruch hatte sie schließlich schon im Kindergarten genervt.

Nachdem der duftende Schaum von den Händen gespült war, betrachtete sich Beatrix im Spiegel. Aufmerksamer und viel länger als sonst.

Ihre Finger machten sich unterdessen an ihren unzähligen Zöpfen zu schaffen. Langsam begann sie das mühsame Geflecht zu lösen, die eingeflochtenen bunten Bänder schwebten unbeachtet zu Boden. Doch das offene Haar, durch die vielen kleinen Zöpfchen zu winzigen Wellen geformt, gefiel ihr nicht. Sie nahm die Bürste und begann es Strähne für Strähne zu bearbeiten, bis glänzende Lichter in ihrer dunklen Löwenmähne tanzten. Auf der Konsole, vor dem Spiegel lagen, wie immer, ein paar von Mutters Schminkutensilien. Mit dem Augenbrauenstift zog Beatrix ihre Brauen nach, doch die schwarzen Striche gerieten zu hohen, eckigen Winkeln. Dessen ungeachtet tupfte sie sich noch etwas helle Farbe auf die Augenlider, ein wenig mehr rote auf die Wangen. Die Augen wurden mit schwarzem Kajal umrandet. Nein, das sah zu traurig aus, also noch ein paar Strahlen rings um Augen. Jetzt fehlte nur noch ein knallroter, herzförmiger Mund. Als der geschafft war, tupfte sie noch ein paar blaue Punkte senkrecht von den Augen bis zu den Kiefernknochen. So? Fragend schaute sie ihr Spiegelbild an.

Keine Frage. Ein Harlekin hatte die Aufgabe, Menschen zum Lachen zu bringen. Aber der, der ihr aus dem Spiegel entgegensah, würde das wohl nicht wirklich schaffen. Dafür sah er viel zu traurig aus. Bea hätte den Gesichtsausdruck durchaus noch ändern können, die blauen Punkte abwischen, die wie Tränen über ihre Wangen zu rinnen schienen, den Mundwinkeln einen kühnen Schwung nach oben verpassen. Aber sie tat nichts dergleichen. Sollte ihr Gesicht ruhig so bleiben wie es war. Der Ausdruck gab ihre Stimmung ziemlich präzise wieder.

Das Harlekingesicht erinnerte sie an ihre abgegriffene Handpuppe, den einst so fröhlichen Kasper. Seine Schminke hatte bei einem Ausflug im Regen das Laufen gelernt. Als sie das Malheur damals der Mutter gezeigte hatte, schenkte diese dem unansehnlich gewordenen Spielzeug nur einen flüchtigen Blick, ein Achselzucken und ein paar lapidare Worte.

„So kann er wenigstens seine Tränen verstecken ...“

Das sollte wohl ein Trost sein, aber Beatrix fühlte sich keineswegs getröstet. Sie hatte weder die Worte noch das anschließende merkwürdige Lachen verstanden. Wenn Beatrix daran dachte, klang es ihr heute noch unheimlich in den Ohren.

Dafür, dass der Kasper kurz danach wieder schön aussah, hatten Bea und Oma Gisela heimlich gesorgt.

Plötzlich kam ihr eine Idee.

Schnell lief Bea ins Kinderzimmer, nahm den Kasper aus der Spielzeugkiste, kehrte eilig in die Küche zurück und steckte das Feuerzeug in den Umhang der Handpuppe.

Ihr Gesicht hellte sich auf.

He, das könnte vielleicht ein gutes und dazu noch originell verpacktes Geschenk abgeben! Wenn schon nicht für die Mutter, dachte sie, denn die rauchte schon seit einem ganzen Jahr nicht mehr, dann vielleicht für den Vater?! Irgendwann musste er ja mal wieder heimkommen aus Afrika.

Für wen sonst ließ Regina wohl den leeren Aschenbecher immer noch auf dem Tisch stehen? Was für eine tollkühne Vermutung!

Der Hunger war nicht nur eine Vermutung, denn er brachte sich mit unüberhörbarem Magenknurren in Erinnerung. Fischbüchse, Brot und Sektflasche waren zum Glück auch nicht nur Vermutungen.

Wie stand es gleich noch mal auf dem Zettel? Mach´ es dir gemütlich!

Mit jedem Bissen und jedem Schluck aus der Flasche, Beatrix verzichtet der Einfachheit halber auf ein Glas, schien jene Aufforderung ihren bitteren Beigeschmack zu verlieren. Doch irgendwie wurde es ihr immer seltsamer zumute. Die Wände dehnten sich, der ganze Raum drehte sich und veränderte sein Aussehen.

Die bunten Pillen! Ganz flüchtig nur streifte sie dieser Gedanke.

„Nimm nur, ausnahmsweise, zur Feier des Tages. Sie machen happy!“

So hatte sich die Mutter am Nachmittag gönnerhaft gegeben. Natürlich weiß Beatrix, dass happy das englische Wort für glücklich ist. Trotzdem hatte sie die runden Dinger nur widerstrebend geschluckt.

Durch die Fenster drang bläuliches Licht, wieder dehnten sich die Wände, das Mädchen glaubte zu schweben. Sie schloss die Augen, tastete ängstlich nach dem Harlekin – das Geschenk war noch da. Für wen auch immer. Kurz vor dem Einschlafen spürte sie noch, wie sich ein warmes Glücksgefühl in ihrem Körper ausbreitete.

Plötzlich erwachte Beatrix auf dem Sofa. Schlaftrunken schaute sie sich um. Nichts war zu sehen oder zu hören, was sie geweckt haben könnte. Plötzlich hörte sie doch wieder etwas. Das Geräusch schien jedoch nicht aus ihrem Traum zu stammen. Sie griff nach der Handpuppe, fühlte erleichtert die Pistole im Inneren.

Ihr Puls raste, sie stand vorsichtig auf. Ihre Füße verhedderten sich in achtlos hingeworfenen Strümpfen, doch Bea fand erstaunlich schnell ihr Gleichgewicht wieder. Das Geräusch ihrer Schritte wurde vom dicken Teppich verschluckt.

An der Schlafzimmertür krümmte sich ihr Zeigefinger um den Abzug. Das Pistolenfeuerzeug im Harlekin ist auf zwei nackte Gestalten im Bett gerichtet.

„He, Beatrix, was soll das? Warum läufst du mitten in der Nacht mit dem Kasper herum?“

Die Fragen der Mutter klangen eher erstaunt als ärgerlich.

Ob Regina, die Königin, sonst noch irgendetwas fragte oder sagte, konnte Beatrix schon nicht mehr hören, denn sie rannte nach dem Knall mit samt ihrem Harlekin die Treppe hinunter, riss die Tür auf und stolperte ins Freie..

Auf der Straße empfing sie ein feuchtkalter Wind.

In diesem Moment begann es zu regnen.

Beatrix drückte ihren Harlekin verzweifelt an die Brust, legte den Kopf in den Nacken und reckte ihr Gesicht den kühlenden Tropfen entgegen …

***

Harlekin im Regen

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