Читать книгу Wenn´s schneiet rote Rosen ... - Monika Kunze - Страница 4
Schmerzliche Wunden
ОглавлениеDavon, dass seit damals wirklich eine sehr lange Zeit vergangen sein musste, legte vor allem auch das Gesicht der Landschaft selbst ein beredtes Zeugnis ab. Wie hatte es sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert! Unglaublich!
Als sie sich damals mit Jean an demselben Ort getroffen hatte, gab es da nur ein riesiges Loch, aus dem die Lausitzer Braunkohle gekratzt wurde. Eine schmerzliche Wunde für die Landschaft und oft auch für die Menschen. Ihre Dörfer mussten der Braunkohle weichen, sie verloren ihr Zuhause. Auch, wenn sich die meisten in ihr Schicksal fügten und sich anderswo ein neues Zuhause schufen, blieb der Schmerz noch jahrelang in ihren Augen sichtbar. Anne hatte es später bemerkt und ihren Fotos eingefangen. Dass es hier jemals einen See geben würde, glaubte wohl in jenen Jahren niemand so recht. Sie, die junge Frau aus der DDR und er, der junge Mann aus Marseille, jedenfalls auch nicht.
Wegen ihrer schmerzlichen Erinnerung an Jean war Anne in all den Jahren nur ein einziges Mal hier gewesen. Das musste zu der Zeit gewesen sein, als man gerade begonnen hatte, den See zu fluten.
Staunend und auch ein bisschen erwartungsvoll hatte sie eines Tages ganz allein an dem noch nicht einmal richtig verfestigten (und deshalb auch verbotenen) Ufer gestanden wie einst mit Jean am Tagebaurand. Sie hatte sich umgeschaut und tief in sich hinein gelauscht. Aber nichts hatte sich in ihrem Inneren geregt. So jedenfalls hatte sie es sich selbst eingeredet. Heute wusste sie, dass sie sich damals selbst etwas vorgemacht hatte. Sie wollte diese uralte Sehnsucht nicht zulassen, sie schien ihr zu nichts nütze. Sie wollte sich nie wieder so durcheinanderbringen lassen wie nach der Trennung von Jean. Außerdem hatten Freunde, Familie, Lehrer und spätere Kollegen weder Kraft noch Mühe gescheut, ihr diesen Unsinn auszureden. Bis sie irgendwann wohl auch selbst ihr tiefes Gefühl für die unsinnige Schwärmerei eines unreifen Mädchens gehalten hatte.
Nach dieser Einsicht wollte sie sich keine Schwäche mehr erlauben, denn seit jenem Tag ahnte sie nicht mehr nur, dass sie vergeblich warten würde. Sie wusste es - oder glaubte es wenigstens zu wissen.
So war sie damals nach Hause gegangen und hatte sich unter der heißen Dusche ihren tiefen Schmerz, ihre Hoffnung und wohl auch ihre Sehnsucht endgültig abgespült.
Danach hatte es Anne tatsächlich nicht mehr über sich gebracht, zum See fahren. Bis heute.