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AUTO(R) – ERFAHRUNGEN (1)
ОглавлениеAls der Autor das Verlagsgebäude betritt kommt es ihm noch düsterer vor als sonst. Das kann aber auch an dem verdrückten Licht über der Stadt liegen, denkt er, das ihm wie das Gesicht einer unausgeschlafenen Sonne vorkommt. Und an dem Gefühl, beobachtet zu werden, das ihn seit Tagen quält. Kaum hat er auf der Treppe – der Aufzug ist wieder mal defekt – sein Stockwerk erreicht, kommt der Bürobote Carlos aus seiner offenen, fensterlosen Kammer und sagt:
»Der Chef ist auf hundertachtzig, du sollst sofort kommen.«
Den Autor trifft das nicht ganz unerwartet und er zieht wie in Kafkas Welt durch die schmutzigen Korridore. Doch vor den fünf Männern im Chefzimmer verschwinden solche Vergleiche schnell. Drei davon sind Redakteure in der Einheitskluft der herrschenden Partei: militärähnliche Blousons, die Hosen in Schaftstiefel gesteckt und schwarze Hemden mit Anstecknadeln. Den Vierten, undefinierbar blond und korrekt wie Schaufensterpuppen ausstaffiert, kennt er nicht. Umso besser Kaminski, den Chefredakteur seit neuestem. Der kommt sofort zur Sache:
»Deine letzten Artikel« – er schwenkt dabei ein paar Druckseiten und stiert dem Autor ins Gesicht – »haben nicht nur bei der Regierung Anstoß erregt. Offenbar glaubst du, dass unsere Regeln hier für dich nicht gelten. Dein elitäres Geschwafel kann höchstens die Auflage senken. Ich kapiere sowieso nicht« – dabei blickt er die drei Redakteure so verachtungsvoll an, wie ihm das möglich ist – »wie diese Beiträge trotz unserer Kontrollen überhaupt gedruckt werden konnten. Was hast du dazu zu sagen?«
Der Autor sieht an Kaminski vorbei und schweigt.
»Antworte gefälligst!«
Der Ton wird schärfer und ist sich seiner Macht ganz sicher.
»Du warst mal ein ganz guter Journalist. Wenn du aber glaubst, diese Schmarotzer an unserer Kultur in Schutz nehmen zu müssen, ist es aus zwischen uns.« »Wir haben Informationen darüber«, sagt leicht schleppend der undurchsichtige Blonde, »dass Sie sich im Ausland mit Schriftstellern und Künstlern getroffen haben, denen wir die Aufenthaltserlaubnis bei uns entzogen hatten. Das sieht nicht gerade nach nationalbewusstem Handeln aus.«
Der Autor findet seinen Verdacht bestätigt. Wahrscheinlich hat man nicht nur ihn überwacht, sondern auch Freunde und Verwandte. Er blickt dem dicklichen mit modischer Kurzhaarfrisur und Lederjacke auf jugendlich getrimmten Chef auf die grelle Krawatte.
»Mich interessierten einfach ihre neuen Arbeiten. Wenn ich kritisch darüber berichten soll, muss ich mich erstmal informieren. Die Leute wollen wissen, was die schreiben oder malen – und nicht, was sie darüber denken sollen. Außerdem war die Reise ja genehmigt.«
Der Disput ging weiter, und auch die drei uniformen Redakteure konnten noch ihre Anmerkungen loswerden. Am Ende stand – Kaminskis Ton war eine Mischung aus Häme und Arroganz – eine ‚letzte Warnung‘ und seine Aufforderung, die ‚neue Kulturpolitik im Land‘ aktiv zu vertreten. Grußloser Abschied. Zurück an seinem Schreibtisch fällt ihm die erste Begegnung ein: als Redakteur beim ‚Express‘ wollte Kaminski sein Urteil über einen Fortsetzungsroman hören. Der Autor, Aushilfslektor in einem kleinen Verlag, war schon damals von seinen plumpen Sprüchen angewidert. Ganz zu schweigen davon, wie der auf einer Party Lea angemacht hatte. Kaminski nahm nie etwas in die Hand, was ihm keinen Profit brachte. Und weil Opportunisten immer siegen, hatte ihn das Militär nach der politischen Säuberung der ‚Express‘-Redaktion prompt zum Chefredakteur bestellt.
Der Autor starrt auf die marionettenähnliche Straßenwelt. Leben heißt nur noch funktionieren in Technokultur: maschinenähnliche Bewegungen zwischen Krisen und Ängsten, die du mitmachen musst. Ihm fallen Verena und Reinhart ein; nach der Trennung hat sie sich offenbar dem Militärregime angepasst und Reinhart, den Sohn, in die Jugendorganisation der Partei geschickt. Seitdem hat er keinen Kontakt mehr zu ihm. Wieder umschließt ihn der Trennungsschmerz wie plötzliche Nacht. Ich arbeite für die Verblendung von Leuten und verschwinde dabei selbst, denkt er. Und: vielleicht ist Schweigen Notwehr. Doch diesen Staat kannst du mit Schweigen nicht ändern. Dieser Staat will funktionstüchtige, mit Nationalfarben angestrichene Roboter. Der Autor wirft die Brille auf den Tisch, nimmt ein Blatt Papier und schreibt darauf das Wort ‚Szenenwechsel‘.
Den vielleicht naiven Beschluss, von nun an subversiv – und, wo nötig, auch konspirativ – zu arbeiten, versucht er gleich am anderen Tag umzusetzen. Man hat ihn angewiesen, zur Steigerung des Fremdenverkehrs über eine Touristenenklave mit öden Zweckbauten und Hochhäusern positiv zu berichten und er greift dabei auf Gespräche zurück, die er ein paar Wochen vorher dort mit Gästen geführt hat. Da wurde Wassermangel zu bestimmten Tageszeiten (der Druck reichte für die Hochhäuser nicht aus) ebenso beklagt wie das unsaubere Meer; die Abwässer strömten ungeklärt hinein. Und es gab noch ganz andere Stimmen – zum Beispiel von einem Chemiearbeiter:
»Sie haben mich hierher auf Urlaub abkommandiert; ich selber hätte mir das gar nicht leisten können. Die Häuser sind wohl nicht ausgebucht. Kaum war ich da, wurde mein Asthma schlimmer und der Hautausschlag auch. Der Arzt meinte bloß, ich soll nicht so zimperlich sein und verschrieb mir Salbe.«
»Hat sich das dann gebessert?«
»Nee. Einer, den ich beim Arzt traf, hat mir erzählt, das käme vom Asbest, den sie hier überall benutzt haben. Vielleicht auch vom Fleisch aus der Abdeckerei.« »Und? Habt ihr euch beschwert?«
»Wo denn? Wer das dem Hauskontrolleur oder der Strandaufsicht sagt, fliegt sofort raus und sein Resturlaub wird gestrichen. Das ist schon ein paarmal passiert – also halten alle den Mund.«
Oder eine Stenotypistin:
»Es hieß, wir kriegen ein paar Tage Urlaub mehr, wenn wir herfahren und auch der Pfarrer meinte, das sei gut für unser Land, wenn wir so dem Tourismus helfen.«
»Und warum mussten Sie allein fahren, ohne Ihren Mann?«
»Mein Mann ist arbeitslos, deshalb durfte er nicht mit. Als wir den Pfarrer gebeten haben, uns zu helfen, hat er bloß gemeint, es sei wichtiger, sich Arbeit zu suchen, als faul am Strand zu liegen. Wichtiger für die ganze Nation. Aber er wusste auch nicht, wo mein Mann Arbeit findet.«
Der Autor benutzt diese Aussagen vorsichtig, um so ein paar unschuldige Seitenhiebe auf Staatsreligion und Wirtschaftsmisere zu landen und lässt beiläufig den Mangel an Kultur spüren. Denn die nach gleichem Schema eingerichteten Restaurants beispielsweise haben alle den Charme von Industriekantinen und im einzigen Kino laufen die Filme, die jeder längst schon Zuhause gesehen hat. So kunstvoll er das auch konstruiert zu haben meint – der Bericht verschwindet in der Ablage. Kaminski lässt ihn nicht einmal mehr rufen, sondern verfügt Schreibverbot und Versetzung in den Korrektoren-Job. Und weil das Regime auf seine Dienste verzichtet, wird sein ohnehin dürftiges Gehalt halbiert.
Der Autor träumt. Ein zerbrechlich aussehender Mond durchschneidet die Nacht, Vogelkonzerte verhallen. Aus dem Nichts erscheint eine feenähnliche Gestalt in rotem Kleid, das wie eine Fahne um sie gewickelt ist, vor leuchtender Ebene. Als er auf sie zugeht, sieht sie ihn an, wie ihn einst seine Schullehrerin ansah:
»Du bist nur noch Gast in deinem Leben. Und deine ganzen Zweifel ändern sowieso nichts.«
»Und was soll ich tun? Zum Märtyrer werden? Der Staat hat tausend Ohren.«
»Du verlierst die Zukunft, wenn du sie nicht änderst.« In diesem Augenblick zieht eine Wolke vor den Mond – nein: es ist das Gebirge, das näher kommt und mit seinen Steilwänden das Mondlicht wegschiebt. Vor die Feengestalt sind schwarzgekleidete Soldaten gerückt: eine linkische Drohung. Noch im Fliehen sieht er, wie sich das strahlende Gesicht der Fee in Blitze verwandelt; die Soldaten taumeln zu Boden.
Schweißgebadet wacht er auf. Er liegt auf dem Bett seiner Mansarde und kommt erst langsam zu sich. Auf dem Boden findet er ein Stück Zeitung, in dem vom Überfall auf ein Munitionslager der Armee die Rede ist. Zwar wurde der Angriff natürlich abgewehrt; zugleich warnt man aber vor Terrorakten mit Beute-Sprengstoff. Wenig später geht er zwischen anderen durch den Staub der Militärlaster, die in Kolonnen vorbeidonnern. Er sieht fahrige Bewegungen, spürt die sinnlose Eile und merkt, dass er davon angesteckt wird. Trotz des nationalen Feiertags ist das kleine Theater geschlossen, auch der Bühneneingang, und jemand hat den Spielplan heruntergerissen. An der schrägen Ecke sieht er unbewegliche Gestalten im einzigen dort geparkten Auto. Der Autor macht kehrt; sein Schritt wird schneller.
Als er das Haus in der Heldengasse (früher hieß sie Gershom-Weg) erreicht, zuckt er zusammen, denn da marschiert gerade eine Polizeistreife vorbei. Nadia, die Freundin und Regisseurin, ist allein und wirkt deprimiert; ihr Haar mit den grauen Strähnen hängt ins Gesicht. Als er sie umarmen will, wehrt sie ab und sagt: »Sie haben verlangt, das Stück abzusetzen, weil es das ‚Nationalbewusstsein untergräbt.‘ Sie wollen es nicht verbieten, um den ausländischen Beobachtern kein neues Beispiel für Zensur zu geben. Aber sie haben damit gedroht, uns alle Gelder zu streichen und uns ‚einer nützlicheren Arbeit zuzuführen‘, wie sie das nennen.«
Nach einer langen Pause und zwischen zwei tiefen Zügen an seiner Zigarette sagt der Autor müde: »Was können wir überhaupt noch machen? Mich haben sie aus der Redaktion geschmissen und zu den sowieso überzähligen Korrektoren abgeschoben; was anderes fiel ihnen nicht ein. Außerdem stehen wir wohl schon unter Beobachtung.«
»Wir haben keine andere Wahl«, antwortet sie, »und keine Partei und keinen Radiosender und keine Zeitung. Uns bleiben vielleicht noch Flugblätter.« »Und wer sollte die verteilen?«
»Wir.«
Er grübelt. Ist das der Untergang auf Raten, wie er ihn schon lange kommen sah? Das Ende seiner Arbeit als Zeitzeuge? Jedenfalls gibt es nur die Alternative, den Kopf wegzustecken und dahinzuleben wie die meisten. Schließlich zwingt er sich zum Schreiben, die Feengestalt immer noch vor Augen.
Das Flugblatt wird zu einer Anklageschrift, die nichts mehr verschleiert; auch auf seinen sonst immer gegenwärtigen Spott verzichtet der Autor. Nationalismus, der Kultur ebenso zerstört wie jedes offene Miteinander, ist eine Form gewaltsamen Untergangs, und über diesen Tod kann man nicht spotten. Mit grauen Augen zündet er sich eine Zigarette an der anderen an. Weil das Theater geschlossen ist und überdies bewacht wird, haben Nadia und er keinen Zugang zum Kopierer und müssen den Text immer neu mit Durchschlägen auf der alten Schreibmaschine schreiben. Das dauert bis zum Morgengrauen und lässt keinen Raum für Zärtlichkeit.
Im Trubel des Mittagsverkehrs und unterm Schutz der weißglühenden Sonne werfen sie das Flugblatt in die Briefkästen von Zeitungsredaktionen, Radiosendern, der Journalistenvereine und Theater, von Museen und Konzertdirektionen. Zunächst scheint alles gut zu gehen. Aber als sie sich in ein Café setzen, um auszuruhen, erscheint eine Streife der Sonderpolizei, verlangt ihre Ausweise und fordert sie auf, mitzukommen. Nadias Wunsch, auf die Toilette zu gehen, wird barsch abgelehnt.
Schon im Auto werden sie getrennt, durch Gänge geschleift, die das Grauen kanalisieren und finden sich in schmutzstarrenden Einzelzellen ohne Fenster wieder. Dem Autor wird alles außer der Unterhose abgenommen und er schweigt, ebenso wie seine Wärter. Er glaubt in fernen, langgezogenen Schreien die Stimme von Nadia zu erkennen und verliert jedes Zeitgefühl. Zwar hört er Schritte und den Mechanismus der Sichtklappen an der Tür, doch er bleibt allein, kann im grellen Licht der Neonröhren und immer wieder vom Lautsprecher aufgescheucht nicht schlafen. So hockt er in einer Ecke, versucht Gedankenspiele, Zahlenkombinationen, um nicht durchzudrehen. Als er wieder die mit Zahnprothesen oder Fingernägeln in die Wand gekratzten Inschriften zu entziffern versucht – man hat ihm auch die Brille gestohlen – reißt ein Wächter die Tür auf und brüllt: »Mitkommen!« Der Autor schwankt vor Schwäche, sein Hals wie geschwollen vor Trockenheit. Und weil er haltsuchend den Uniformierten berührt, wird er zurückgestoßen, schlägt mit dem Kopf auf den schmutzübersäten Steinboden und verliert die Besinnung.
Beim Aufwachen findet er sich in einem kahlen Raum, an Füßen und Händen über einer mit stinkender Brühe gefüllten Badewanne aufgehängt. Um ihn herum stehen vier Männer mit Kapuze, die ihn durch ihre Sehschlitze anstarren:
»Das Schwein kommt ja zu sich,« hört er einen sagen, »da müssen wir wohl nachhelfen.«
Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen und ohne Erinnerung daran, ob er trotz seiner feuertrockenen Kehle geredet hat, wird der Autor wieder in die Jauche getaucht. Atemlos geht er unter und verliert erneut das Bewusstsein. Doch vor seinen Augen geht plötzlich eine andere Wirklichkeit auf. In moosgrüner Landschaft sitzt er am Fluss und vor ihm zappelt ein einzelner, grobknochiger Fisch im Netz.
»Jetzt bist du einer von uns,« versteht er und erkennt die Stimme von Reinhart, »gefangen! Gefangen!« Aus dem Baum, unter dem er sitzt, tönt dies ‚gefangen‘ wie ein Echo. Er greift nach einem Ast, will ihn zu sich herabziehen, verliert dabei aber das Gleichgewicht und stürzt ins Unendliche.
Zeitlos später liegt er wieder in der Zelle. Kopf, Armgelenke und Beine schmerzen; die Hände sind blutverkrustet. Als er über den Kopf streicht, merkt er, dass man ihm die Haare abgeschnitten hat und dass Schorf die Wunden bedeckt. Er stößt auf einen Napf mit Flüssigkeit – Suppe? Schmutziges Wasser? Jedenfalls trinkt er gierig und fragt sich, was mit ihm geschah. Verhöre, Folter – hat er geredet? Vielleicht andere belastet? Nadia? Es ist alles wie ausgelöscht; hätte er nicht diese Schmerzen, das Wundfieber – er spürte sich selbst nicht mehr, wäre bloß noch die eigene Vergangenheit. So schläft er wieder ein, trotz der Versuche, wach zu bleiben: auf der Flucht vor den Träumen vom Untergang.
Inzwischen schiebt man ihm einmal am Tag einen Blechnapf mit fader Suppe oder ausgelaugtem Kohl in die Zelle und er fühlt sich immer schwächer. Verhöre und Torturen haben zwar aufgehört – weil man ihn nicht mehr ernst nimmt? Weil er unter der Folter alles gesagt hat, was er denkt? Doch als man ihn eines Tages durch die Gänge zerrt, ein paar Türen aufreißt und wortlos ins Freie stößt, bricht er vor dem Gefängnistor bewusstlos zusammen. In seinem Kopf taucht wieder der Baum am Fluss mit dem Lachs auf; diesmal redet der Baum:
»Dein altes Leben ist vorbei. Verlass die Stadt, geh in die Wälder. Hör unser Echo und bezeuge deinen Tod.« Der Autor sieht sich nach dem Lachs um, entdeckt Raubvögel über sich und fragt fast stimmlos:
»Wo ist Nadia? Wohin haben sie sie gebracht? Gebt mir ein Zeichen!«
»Du bist allein«, raunt die Baumstimme wie ein Windstoß, »komm zu uns, leg Zeugnis ab wie Sisyphos.« »Ich bin am Ende,« hört er sich sagen, »ich will nicht mehr. Lasst mich untergehen.«
Wie aus weiter Ferne hört er eine unbarmherzige, fast schneidende Antwort:
»Du bist uns deinen Kampf schuldig und keine Flucht. Wir brauchen deine Stimme.«
Als der Autor zu sich kommt, liegt er neben der Gefängnismauer; ein Hund schnuppert an seinen Füßen. Mühsam klopft er den Staub ab und sucht den Weg zur Stadt. Unter einer Brücke kniet er sich in den Schlamm, um aus dem Rinnsal zu trinken und schläft trotz des Verkehrslärms über seinem Kopf ein. Erst gegen Ende der Nacht macht er sich wieder auf.
Später, nun schon in den Ausläufern der Berge, ziehen die demütigenden Stationen dieses Wegs noch einmal an ihm vorbei: An Nadias Türschild steht ein fremder Name und niemand öffnet. Als er beim Hauskontrolleur nach einem Schlüssel für seine Mansarde fragen will, stößt er auf ein neues Gesicht in der Uniform der Partei und macht kehrt – auch sein Name ist verschwunden. Die alte Frau im Lebensmittelladen erkennt ihn, gibt ihm Brot und Wurst, obwohl er nicht bezahlen kann – doch in ihren verschreckten Augen spiegelt sich sein Zustand. Weit außerhalb des Zentrums fahren Lastwagen voll grölender, fahnenschwingender Anhänger des Regimes an ihm vorbei; in einem von ihnen sieht er Reinhart. Für eine Sekunde treffen sich ihre Augen, doch der Sohn blickt über ihn weg, als gäbe es ihn gar nicht.
Schließlich landet er im Herbstsommerwald, in dem die Bäche ausgetrocknet sind und das Wild ihn beäugt. Melancholisch zieht er sein Fazit: »Die Sprache ist mein einziger Anzug.« Er schläft im Dickicht, Ameisen laufen über sein Gesicht, die Hände, und er filtert seinen Hunger durch Reste von Waldbeeren. Wozu das alles noch, fragt er sich müde. Nach Tagen und am Ende seiner Kräfte findet er den einsam gelegenen Bergbauernhof; das altersschwache Holzhaus widersteht kaum noch den Jahreszeiten. Die beiden Alten nehmen ihn freundlich auf und geben ihm die kleine Kammer unter dem Dach. Wie ein Toter schläft er ein.
Am anderen Morgen holt ihn der Bauer zur Heuernte; ein Wettersturz kündigt sich an. Zwar fühlt sich der Autor noch schwach, doch eine unerklärliche Energie scheint in ihm zu wachsen. Sein Land, die politische Welt, Unterdrückung und Folter verschwimmen vor der bewegungslos drückenden Hitze, die das Atmen erschwert. In großen Kiepen muss das getrocknete Gras der Berghänge zum Haus getragen und dort im Dachboden verstaut werden. Dabei sieht er, dass in dem kleinen Anbau eine magere Kuh und zwei Ziegen leben. Mit äußerster Anstrengung steigt er die Hänge auf und ab; nicht selten zucken Sterne vor seinen Augen und er muss sich hinsetzten, um wieder Kraft zu sammeln.
So vergeht der Tag und am Abend, als schon das Gewittergrollen zu hören ist, zwingt er sich zum Essen – trotz Übelkeit und Kopfschmerzen vor Schwäche. Die Gastgeber bleiben wortkarg, fragen ihn nicht aus und scheinen zufrieden. Beim Löffeln aus dem Suppentopf in der Tischmitte tropfen dem alten Bauern die Reste aus dem Bart, seine rechte Hand hat nur noch drei Finger. Und seine Frau – das müde gewordene Gesicht noch faltiger als der Rock und die Schürze – schlürft so laut, dass beide sein Angebot, gegen Kost und Logis eine Weile zu helfen, zunächst nicht verstehen. Doch dann stimmen sie zu. Seinen ohnmächtigen Schlaf können dann selbst Donnerschläge nicht aufbrechen und auch die Träume vergehen spurlos. Als er im Frühdämmern erwacht, rauscht draußen der Regen und so schläft er weiter, unendlich lange, wie es ihm vorkommt.
Aber mit der Rückkehr seiner Kraft erwachen auch wieder die Gedanken an das Andere: Zensur, Unterdrückung in der Redaktion, Überwachung. Was dann folgte: die vergebliche Flugblattaktion, Nadias Schreie und die Folter im Gefängnis scheint ihm so konsequent wie bitter als Zerstörung seines früheren Lebens. Denn obwohl er an der Quelle saß und genug Informationen über das Regime und die Dialektik seiner Vernichtungsstrategien hatte, machte er sich Illusionen über Möglichkeiten des individuellen Widerstands. Doch diese Einsicht ändert nun nichts mehr. Unter allerhand Gerümpel findet der Autor Packpapier und bittet den Bauern um Bleistift und Kerze. So hockt er – kein Nachtmensch zwar, aber irgendwie zeitlos diesmal – auf der alten Matratze und skizziert seinen ausweglosen Dialog mit der Realität.
Dabei rechnet er auch mit der Staatskirche ab. Vermutlich könnte sich ja das Regime ohne die religiösen Bauchredner nicht lange halten: sie machen dem Volk weis, von den Göttern auserwählt zu sein und schon deshalb über das Pack der Ausländer und Andersgläubigen zu triumphieren. Ist Glauben an Gott, an Götter überhaupt ein Ausweg? Oder die weltabgewandte Lyrik des Eremiten? Soll er das Schreiben, vielleicht sogar das Denken aufgeben, um irgendwo unbehelligt zu leben – und sei es in dieser Kate im Gebirge? Soll er in ein anderes Land gehen, dessen Sprache er nicht beherrscht? Auch das wäre gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Schreiben.
Vor seinen Augen flimmern die Utopien einer besseren Welt, wie sie Philosophen, Theologen, Dichter und manchmal auch Sozialwissenschaftler ausgemalt haben – Bilder, die keine grausame Praxis zu ändern vermochten. Und es erscheinen Revolutionäre, die solche Änderungen erzwingen wollten und sich – wie die Tupamaros – in jahrelangen Kämpfen aufgerieben haben. Denn auch sie konnten weder kollektiven Egoismus, noch die – von Machthabern aller Schattierungen gezüchtete – Dummheit der Massen aufbrechen; wie im antiken Bild des Sisyphos fielen diese Bewegungen schließlich immer wieder in sich zusammen. Soll man also resignieren?
Der Autor fasst einen Entschluss. Noch in dieser Nacht beginnt er mit dem Erzählen einer Geschichte wie der eigenen: von Illusionen, Erfolgen, Niederlagen – und von der so unerklärlichen wie zähen Kraft zum Weitermachen. Wie bei Sisyphos in der Antike. Wie Sisyphos: eine Überlebensfrage.