Читать книгу Artur Lanz - Monika Maron - Страница 5

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In der Woche darauf begann ich tatsächlich, mich mit dem Kindheitstrauma meines neuen Freundes zu beschäftigen. Ich besorgte mir allerlei Literatur, darunter das Buch über die Artusrunde einer preisgekrönten Jugendbuchautorin, von dem ich mir einen verständlichen und trotzdem seriösen Überblick versprach, außerdem ein paar Abhandlungen über den Helden im Allgemeinen und das Postheroische in unserer Zeit, das sich mir in der zerrissenen Seele von Artur Lanz zu offenbaren schien. Und natürlich hatte ich meine Hoffnung, dabei einen lohnenden Stoff für eine Erzählung, vielleicht sogar einen Roman zu finden, nicht aufgegeben, wobei mich die schamlose Ausbeutung fremder Biographien zwar immer noch genierte, aber nicht davon abhielt, mich wie ein Vampir in ihnen festzubeißen. Und in Herrn Lanz glaubte ich ein lohnendes Opfer gefunden zu haben.

Am Sonnabend war ich bei Bergmanns eingeladen, eine kleine Runde, Adam hatte gekocht, geschmorten Ochsenschwanz und eine Himbeertarte zum Dessert. Adam hatte ich Anfang der neunziger Jahre in der Evangelischen Akademie Tutzing bei einer Tagung über die Rezeption der Weimarer Klassik in der DDR kennengelernt. Wir waren uns darin einig, dass die sozialistische Verehrung der Klassik vor allem der Ablehnung der Moderne entsprungen war. Ich erklärte Adam, dass das größte Problem in der Unbildung der regierenden Arbeiter und Bauern bestand. Sie hatten Angst vor Kafka, weil sie ihn nicht verstanden oder befürchteten, ihn nicht zu verstehen. Schiller und Goethe zu verehren, brauchte keinen Mut, ob man sie verstand oder nicht. Wir waren einander sympathisch und wohnten beide in Berlin. Kurz darauf lud Adam mich zu einer größeren Runde ein, zu der damals schon die Zeisigs und die Müller-Hermsdorfs gehörten. Damals glaubte ich, Adam führe mich der Runde als seine ostdeutsche Trophäe vor. Vielleicht war es auch so, aber mit den Jahren wurden wir Freunde, und unsere verschiedenen Jugenderfahrungen waren oft ähnlicher, als wir angenommen hatten.

Adam bewohnte eine Wilmersdorfer Siebenzimmerwohnung, in der er schon mit seiner ersten Frau gewohnt hatte und in der wir nun in dem Berliner Zimmer, einem großen Durchgangszimmer, das den vorderen, repräsentativen Teil der Wohnung vom Küchen- und Wirtschaftstrakt trennte, um den runden Esstisch herum saßen.

Das Ehepaar Müller-Hermsdorf, er ein ehemaliger, inzwischen auch emeritierter Kollege von Adam, seine Frau Psychologin, Wolf und Ulrike Zeisig, beide Künstler, Penelope Niemann, ehemalige Hamburger Kultursenatorin, und Eva, Adams zweite Frau, die zwanzig Jahre jünger war als er und eigentlich Gudrun hieß, von ihm aber in der Zeit ihrer ersten Verliebtheit, die erst fünfzehn Jahre zurücklag, in Eva umgetauft worden war. Als sie sich kennenlernten, war Eva Pressereferentin irgendeiner Berliner Kulturbehörde, seit Adams Pensionierung arbeitete sie nicht mehr, sondern reiste mit ihm zu Vorträgen und Kongressen rund um die Welt.

Es war mir ein Rätsel, wie Adam die Auswahl seiner Gäste traf. Fast immer, wenn er mich einlud, fand ich mich in einer Gesellschaft, der ich lieber ferngeblieben wäre. Entweder entledigte er sich so einiger unliebsamer Verpflichtungen, zu denen auch ich gehörte. Oder er lud mich in diese triste Runde, weil er hoffte, dass ich, wenn ich mich hinreichend gelangweilt hätte, irgendeinen Streit provozieren würde, der durch die Anwesenheit von Penelope Niemann sowieso unvermeidbar war. Noch nie hatten wir gemeinsam an einem Tisch gesessen, ohne uns zu streiten. Ihren rätselhaften Aufstieg in allerlei kulturelle Beiräte und Vorstände bis zur Kultursenatorin verdankte Penelope, die weder Philosophie noch Kunst oder Germanistik, sondern Soziologie studiert hatte, vor allem dem Umstand, dass sie eine Frau war und diese biologische Tatsache seit ihrer Studienzeit als politische Waffe temperamentvoll geschwungen und durch einen exzentrischen Kleidungsstil unübersehbar in Szene gesetzt hatte. Wenn es um die Besetzung eines Gremiums ging, in dem eine feministische und andere fortschrittsverheißende Stimme gebraucht wurde, musste einem einfach Penelopes farbenprächtige Erscheinung einfallen. Obwohl sie die sechzig inzwischen auch schon überschritten hatte, stürmte sie auch an diesem Abend atemlos in den Raum, als hätte sie es nur mit Mühe von einem letzten wichtigen Termin hierher geschafft, küsste Adam, umarmte Eva, drückte Hände und ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer auf den Stuhl neben mir fallen, fügte sich aber schnell der routinierten Heiterkeit der Runde, die man dem Gastgeber schuldig zu sein glaubte. Die Zeisigs berichteten von einer gemeinsamen Ausstellung in einer kleinen hessischen Stadt, deren Namen ich noch nie gehört hatte, Müller-Hermsdorf erzählte Adam vom sensationellen posthumen Erfolg eines ehemals gemeinsamen Kollegen, Frau Müller-Hermsdorf klagte über das Hüftleiden ihres Hundes, was Anlass bot, über die gelungene Hüftoperation eines mir unbekannten Mannes zu sprechen, Eva schwärmte von dem wunderbaren Blick aufs Meer von ihrer Ferienwohnung auf Sizilien. Und Segesta und Selinunte natürlich, auch beim dritten Mal großartig, fügte Adam hinzu. Zwischendurch wurde einhellig der geschmorte Ochsenschwanz gelobt.

Und du, Charlotte, was treibst du so, fragte Adam, dem wohl aufgefallen war, dass ich mich an dem Gespräch bis dahin nicht beteiligt hatte.

Das Übliche, sagte ich, lesen und nachdenken.

Ich überlegte noch, ob es sich lohnte, in dieser Runde über Heldentum zu diskutieren, als Adam wissen wollte, worüber ich denn nachdächte. Um Zeit zu gewinnen, steckte ich mir ein Stück Himbeertarte in den Mund, sagte es dann aber doch: Über Helden, ich denke über Helden nach.

Penelope: Ach, du lieber Gott!

Frau Müller-Hermsdorf: Wenn schon, dann Heldinnen.

Ulrike Zeisig: Bei Helden denke ich sofort an Krieg.

Eva: Ich sehe gerne Filme, in denen normale Familienväter plötzlich zu Helden werden, um ihre Familie zu retten. Das sind allerdings immer amerikanische Familienväter.

Als Erster der anwesenden Männer äußerte sich Müller-Hermsdorf mit einer seinem Fachgebiet angemessenen Frage. Ob mich das Thema eher historisch oder bezüglich der Gegenwart interessiere? Und Adam wollte wissen, wie ich ausgerechnet in unserer postheroischen Gesellschaft auf dieses Thema käme.

Wolf Zeisig warf einen fragenden Blick auf seine Frau und schwieg. Adam und Ulrike Zeisig, die damals noch Ulrike Siebenthal hieß, kannten sich seit ihrer Studienzeit und hatten ein paar Jahre in derselben Wohngemeinschaft gelebt, bis Ulrike Wolf Zeisig kennenlernte und sich doch für ein Leben zu zweit entschied. Adam erzählte, dass ihre männlichen Mitbewohner von ihr damals nur als der »schönen Ulrike« gesprochen hätten: Der Staubsauger ist noch von der schönen Ulrike, oder weißt du noch, wie die schöne Ulrike den Kartoffelsalat gemacht hat. Wie schön Ulrike vor fünfzig Jahren gewesen sein muss, ließ sich heute noch ahnen. Sie war von schmaler Gestalt mit immer noch anmutigen Bewegungen, die blauen Augen ein wenig verträumt, nur die Lippen schmaler und von Fältchen umgeben, das braune, inzwischen gewiss gefärbte Haar lose im Nacken geknotet. Sie war sich sehr ähnlich geblieben, eben nur älter.

Unglücklich das Land, das Helden nötig hat, sagte Ulrike leise und nahm einen kleinen Schluck aus ihrem Glas. Wolf Zeisig nickte, fügte ein bedenkliches Tja … hinzu, und Penelope versagte sich nicht, ihre Bildung zu beweisen: Jaa, der alte Brecht …

Auf die defätistischen Bemerkungen der Frauen zu antworten, war sinnlos. Die Männer fragten wenigstens.

Ich sagte, dass eine zufällige Begegnung mich inspiriert habe, darüber nachzudenken, warum Helden so in Verruf geraten und überhaupt nur noch als Helden, am besten Heldinnen des Alltags zu ehren seien, und ob mit den Helden auch die Sehnsucht nach ihnen verloren sei.

Diese Helden hätten nun wirklich genug Unheil in der Geschichte angerichtet, rief Penelope mit routinierter Empörung in der Stimme und stellte ihr Glas dabei mit Schwung auf den Tisch, so dass der Wein fast überschwappte.

Nein, Penelope, mischte sich Ulrike Zeisig ein, das sei doch zu einfach. Was ist mit Stauffenberg oder Bonhoeffer, sind das etwa keine Helden?

Penelope war so schnell nicht zu beeindrucken. Die hätte es gar nicht gebraucht, wenn es die verdammten Nazihelden nicht gegeben hätte.

So ging es eine Weile hin und her, bis Adam versuchte, die Diskussion in ernsthaftere Bahnen zu lenken.

Wir alle, wie wir hier sitzen, sagte er, sind noch im Krieg oder in der Nachkriegszeit geboren und haben unser halbes Leben damit verbracht, die Folgen des Krieges zu erdulden oder aufzuarbeiten. Wir sind sozusagen gebrannte Kinder und haben in diesem Sinne unsere eigenen Kinder erzogen. So ist es allen Deutschen, allen Europäern ergangen. Wir sind die Antikriegs-, Antiatom-, Antikolonial-, die antifaschistische Generation, die außerdem zu wenig Kinder in die Welt gesetzt hat. Wir sind eine durch und durch pazifizierte Gesellschaft, für die allein der Gedanke, das Leben einer Idee oder dem Vaterland zu opfern, eine Zumutung ist.

Adam sah uns, während er sprach, nicht an, sondern richtete seine Augen starr auf den Teller vor ihm, und ich befürchtete, er verwechselte allmählich den runden Esstisch mit einem Hörsaal und uns mit seinen Studenten.

Das war bisher ja auch nicht nötig, unterbrach ich ihn.

Penelope reagierte sofort: Was heißt bisher?

Das heißt, dass es so nicht bleiben muss, sagte ich.

Nun ja, sagte Adam, nichts bleibt, wie es ist. Und das prognostizierte Ende der Geschichte war natürlich großer Humbug. Ohne Frage befindet sich die westliche Welt in einer krisenhaften Situation, allein die demographische Entwicklung gibt Anlass zur Sorge.

Müller-Hermsdorf warf noch die Stichworte China, Indien und Amerika in die Runde, und seine Frau, die Psychologin, bezweifelte, dass die Deutschen im Fall einer ernsthaften Bedrohung der Situation mental gewachsen seien, nachdem wir uns über drei Generationen die Aggressionen erfolgreich abtrainiert hätten.

Penelope verkündete, sie sei jedenfalls sehr froh, in einem unaggressiven, nicht von Testosteron beherrschten Land zu leben, worauf ich mich nicht beherrschen konnte und das Wort, das bisher alle vermieden hatten, als Brandbeschleuniger in das bislang nur glimmende Feuer warf.

Warum sie dann den Einzug des Islam in Deutschland so wohlwollend kommentiere, wie ich ihren öffentlichen Äußerungen habe entnehmen können.

Penelope riss es fast von ihrem Stuhl, sie lenkte den Reflex aber schnell auf ihre Hände, mit denen sie scharf und hörbar auf die Tischplatte schlug. Nie, niemals habe sie den Islam verteidigt, immer nur die Muslime, die Menschen, die ein verdammtes Recht auf unsere Hilfe hätten, egal woher sie kämen und woran sie glaubten. Wir haben diese Menschen jahrhundertelang unterdrückt und ausgebeutet und müssten uns dem von uns angerichteten Unheil eben stellen.

Herr und Frau Zeisig wechselten einen kurzen Blick, Müller-Hermsdorf pickte die letzten Krümel von seiner Tarte auf, Adam atmete tief ein, als wollte er zu einer kleinen Rede ansetzen, sagte aber nichts. Es war für einen Augenblick zu still.

Und was ist mit dem Testosteron, fragte ich.

Eva, die etwas nervös zwischen Küche und Esszimmer hin- und hergelaufen war, verhinderte nun entschlossen jede Antwort, indem sie in einem Ton, mit dem Mütter ihre verschlafenen Kinder morgens zum Frühstück locken, fragte, ob jemand Kaffee, Likör oder einen Schnaps wünsche. Grappa, Framboise, William Christ Birne, Calvados, Whisky, alles da.

Adam ergriff die Gelegenheit, uns ins andere Zimmer zu bitten, wo wir bequemer sitzen könnten. Eva, nachdem sie die gewünschten Getränke serviert hatte, schob eine CD ein, Satie ertönte harmlos und beruhigend im Hintergrund. Der Rest des Abends verlief friedlich.

Artur Lanz

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