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Schon in den letzten Maitagen spitzte sich die Lage zu. Das erfuhr ich von Frau Wedemeyer, die ich traf, als sie mit einer jungen Frau und deren kleinen Tochter vor dem Nachbarhaus stand und in offensichtlicher Erregung etwas besprach, das nur der Sängerin gelten konnte, die ausnahmsweise stumm auf ihrem Balkon stand und von den Frauen hin und wieder mit einem verstohlenen Blick bedacht wurde. Eigentlich hatte ich mich an dem Gespräch nur mit einem freundlichen Gruß beteiligen wollen, aber Frau Wedemeyer bestand darauf, mich in die neuesten Ereignisse einzuweihen. Lotta, die fünfjährige Tochter der jungen Frau, die sich mir als Frau Ahrend vorstellte, hatte ihrer Mutter auf der Straße unbedingt ein Lied vorsingen wollen, das sie gerade im Kindergarten gelernt hatte, worauf die Sängerin, die das wohl als Parodie ihres eigenen Gesangs verstanden hatte, das erschrockene Kind unflätig beschimpft und der Mutter, als sie ihre Tochter verteidigte, das Wort Arschloch hinterhergebrüllt hatte.

Lotta habe sich bis zum Abend nicht von dem Schock erholt und fürchte sich seitdem, überhaupt auf die Straße zu gehen, sagte Frau Wedemeyer, während Frau Ahrend ihre Rede mit bekümmertem Kopfnicken begleitete und Lotta, an das Bein ihrer Mutter geklammert, mit traurigen Blicken auf Frau Wedemeyer und mich ihre Verstörtheit demonstrierte.

Nun vergreift sie sich schon an den Kindern, sagte Frau Wedemeyer. Sie selbst sei an die Pöbeleien wegen ihres Hundes ja gewöhnt, und der Hund verstünde Gott sei Dank nichts von dem Unflat.

Ich hatte auf dem Rückweg vom Einkauf gerade über die seltsame Prager Sitte nachgedacht, seine Gegner einfach aus dem Fenster zu werfen. So hatten schon die Hussitenkriege begonnen. Und obwohl die zwei königlichen katholischen Statthalter und ein Kanzleisekretär, die 1618 von empörten Protestanten aus einem Fenster der Prager Burg geworfen wurden, den Sturz aus siebzehn Metern Höhe überlebt hatten, löste dieses Ereignis einen Krieg aus, auf den alle gewartet hatten und der dreißig Jahre dauern sollte. Zum letzten Mal bedienten sich die Kommunisten dieser besonderen Art der Kriegsführung, als der Ministerpräsident Klement Gottwald seinen Außenminister Jan Masaryk aus dem Fenster werfen ließ, allerdings nicht tapfer und bekennend wie die Hussiten und Protestanten, sondern als Selbstmord getarnt, was erst nach sechsundfünfzig Jahren und dem Ende der kommunistischen Diktatur aufgeklärt werden konnte, obwohl schon vorher niemand an den Selbstmord geglaubt hatte.

Mit diesen Gedanken war ich gerade befasst, als ich, die schwere Einkaufstasche über der Schulter, auf Frau Wedemeyer, Frau Ahrend und Lotta traf.

Das sei wirklich unschön für das Kind, sagte ich, aber wir könnten die Frau schließlich nicht vom Balkon werfen.

Die beiden Frauen, die von meiner Beschäftigung mit solcherart Konfliktlösungen nichts wissen konnten, waren über meinen gewalttätigen, wenn auch gleichzeitig verworfenen Vorschlag sichtlich erschrocken, vielleicht auch nur, weil ihnen dieser oder ein ähnlicher Gedanke als Wunsch selbst schon durch den Kopf gespukt war.

Frau Ahrend drückte ihr Kind fester an sich, und Frau Wedemeyer sagte: Um Gottes willen, wer denkt denn an so was.

Ich hatte keine Lust, sie über die spontane Kopplung der Prager Fensterstürze mit unserer Sängerin in meinem Kopf aufzuklären, strich Lotta kurz übers Haar, sagte noch etwas Tröstliches, sie müsse keine Angst haben, wir würden schon auf sie aufpassen oder Ähnliches, und verabschiedete mich.

In den folgenden Tagen versuchte ich, die anschwellende Erregung von mir fernzuhalten. Aber unsere Straße war zu kurz und zu schmal, der Hall zwischen den engstehenden Häuserfronten zu effektiv, als dass ich den lautstark ausgefochtenen Kampf zwischen der einmütigen Anwohnerschaft und der Sängerin hätte überhören können. Hin und wieder trieb mich auch die Neugier auf den Balkon, um zu prüfen, aus welchen Fenstern der Protest gerade kam oder wer mit wem auf der Straße konferierte, zumal der Dreißigjährige Krieg mir immer noch als undurchdringliches Gestrüpp von Herrschaftsgelüsten, wechselnden Bündnissen vermischt mit religiösem Eifer oder auch nur Kalkül erschien, und die verbindende Nervenfaser, nach der ich suchte, bislang unauffindbar war, was mich anfällig machte für Ablenkungen. Ich las abwechselnd in den Büchern, die ich bestellt hatte, und anderen, die Freunde mir empfohlen hatten, und war inzwischen von dem Ehrgeiz gepackt, wenigstens zu verstehen, warum es zu diesem Krieg überhaupt gekommen war. Für die Erfüllung meines Auftrags, mich »auf das große Ganze zu konzentrieren«, war das eher hinderlich. Das Vettern-Schwieger- und Schwagergespinst und die daraus folgenden Erbansprüche der europäischen Fürsten- und Königshäuser, die Wittelsbacher und die Habsburger, Maximilian, Ferdinand, Sigismund und Wolfgang-Wilhelm, dazu Frankreich, Spanien und der ganze Rest hafteten in meinem Hirn genau so lange, wie ich darüber las, und verfielen Minuten später zu unstrukturiertem Wissensmüll.

Hinter den geschlossenen Fenstern leuchtete ein schöner, blauer Sommer, dessen Duft mir nicht einmal vergönnt war. Sooft eine nicht mehr gewohnte Stille mich ermutigte, die Balkontür zu öffnen, verging höchstens eine Viertelstunde, bis die Freude durch das mutwillige Geplärre der Sängerin ihr Ende fand. Aber auch hinter geschlossener Tür, wenn die Töne nur als dünnes, mitunter versiegendes Rinnsal durch die Mauern drangen, okkupierten sie meine Aufmerksamkeit, so wie ich das Tropfen eines nachlässig verschlossenen Wasserhahns, wenn ich es erst einmal wahrgenommen hatte, auch in einem entfernten Zimmer noch als unerträglich störend empfand. Sogar wenn sie nicht sang, störte sie mich, weil ich dann darauf wartete, dass sie gleich singen würde, oder weil ich darüber nachdachte, warum sie gerade jetzt nicht sang. Manchmal ging ich auf den Balkon, um nachzusehen, ob sie auf ihrem Balkon stand oder ob ihre Balkontür offen oder geschlossen war. Oder ich dachte darüber nach, warum sie überhaupt beschlossen hatte, ihre Mitmenschen mit ihrem Gesang zu tyrannisieren und damit deren Hass auf sich zu ziehen, der sie wiederum zu unflätigen Wutausbrüchen hinriss. Vielleicht ging es ihr ja vor allem um diese Wutausbrüche, vielleicht wollte sie gehasst werden, damit sie einen Grund hatte, diese dreckigen Wörter rauszubrüllen. Aber hätte sie dafür singen müssen? Nein, erst kam der Gesang, danach die Wut. Wahrscheinlich wollte sie Sängerin werden, ein Mädchen, das den Gesang liebte, davon träumte, auf einer Bühne zu stehen wie jetzt auf dem Balkon, die Arme gen Himmel zu strecken, die Hände gegen die Brust zu pressen, sich vor einem jubelnden Publikum zu verbeugen. Als Kind durfte sie zu Weihnachtsfeiern und Geburtstagen singen. Du wirst einmal eine berühmte Sängerin, hat sicher jemand zu ihr gesagt. Ein Onkel hat vielleicht ihren Gesang aufgenommen. Sie hörte sich singen. Sie fand ihre Stimme schön und träumte weiter. Sie sang im Chor, aber nie ein Solo. Sie fiel durch Aufnahmeprüfungen, alle. Sie wurde Garderobiere an der Oper, aber hörte nicht auf zu träumen, bis sie verrückt war. Und nun sang sie auf ihrem Balkon, um es der Welt zu beweisen, und war wütend. Aus enttäuschter Liebe wird gemordet, aus enttäuschter Selbstliebe wohl auch. Später traf ich sie einmal auf der Straße, als sie, mit einem turbanähnlichen Kopfschmuck, knielangen Hosen und einem afrikanisch anmutenden Obergewand bekleidet ein Fahrrad bestieg. Sie hatte Beine wie ein Mann, muskulöse, derbe Waden, grobknochige Fesseln und für eine Frau auffallend große Füße, was meine Mutmaßungen über ihre Biographie noch einmal beflügelte. Was, wenn sie ein Mann war, der davon träumte, eine Sängerin zu sein? Vielleicht darum ihre besonders unschöne, dafür aber kräftige Stimme, die ordinären Wutausbrüche, die sie in einer Stimmlage, die keinem Geschlecht zugeordnet werden konnte, durch die Straße grölte. Wenn es sich tatsächlich so verhielte – ein Mann, der eine Sängerin sein wollte –, dann steckte sie in einem Verhängnis, aus dem es kein Entrinnen gab, an dem man nur verrückt werden konnte.

Der Dreißigjährige Krieg war so fern, die Sängerin aber so nah, dass ich immer wieder verführt war, ihr eine Biographie und Motive zu erfinden, statt mich auf die Arbeit zu konzentrieren, der ich immerhin diesen selten schönen Sommer opferte. Die Tage vergingen, und ich suchte immer noch planlos mal in diesem, mal in jenem Buch nach einer Figur oder einem Ereignis, das gleichermaßen exemplarisch und überschaubar war und meinem Aufsatz als Zentrum hätte dienen können, von dem sich allerlei Gedanken ableiten ließen, die genauere Geschichtskenntnis nicht voraussetzten. Nach zwei Wochen gab ich auf. Ich musste die Sängerin aus meinem Leben verbannen, was nur möglich war, indem ich mich ihr entzog. Nachts sang sie nicht. Spätestens um acht Uhr zog sie sich in ihre Wohnung zurück und ließ sich vor morgens um neun nicht wieder auf dem Balkon blicken. Diese dreizehn Stunden könnten mir gehören, wenn ich es schaffte, den Tag zur Nacht zu machen und die Nacht zum Tag. Ich zwang mich, nachts wach zu bleiben, auch wenn ich zu müde war, um einen klaren Gedanken zu fassen. Aber schon nach drei oder vier Nächten gelang es mir, am Tag wenigstens fünf oder sechs Stunden zu schlafen. In der übrigen Zeit verließ ich möglichst das Haus, ging spazieren oder erledigte Dinge, die ich mir schon lange vorgenommen hatte, die Prophylaxe beim Zahnarzt, ein Termin beim Steuerberater. Zweimal ging ich ins Kino. Am späten Nachmittag schlief ich noch einmal für ein bis zwei Stunden und begann, wenn es draußen endlich still war, mit der Arbeit. Ich entschied mich für ein Buch über den Dreißigjährigen Krieg von Cicely Veronica Wedgwood, das mir bisher am verständlichsten erschien. Außerdem hatte ich gelesen, dass Sebastian Haffner es als die immer noch beste Monographie zu diesem Thema bezeichnet hatte, obwohl es schon 1938 erschienen und seine Verfasserin damals gerade einmal achtundzwanzig Jahre alt war.

Die Nächte waren mild. Durch die geöffnete Balkontür strömte beruhigende Stille. Draußen ruhte die Stadt wie ein riesiges träumendes, im Schlaf mal zuckendes, mal schnaufendes Tier. Allmählich wurde ich heimisch in meiner nächtlichen Einsamkeit, obwohl ich bis dahin von mir behauptet hatte, überhaupt nur am Tag, am besten vormittags arbeiten zu können. Aber nun war es, als könnte ich durch das lautlose Dunkel, das alles umher seiner Gegenwärtigkeit entkleidete, einen Pfad durch die Zeit finden, der mir an den Tagen zuvor verborgen geblieben war.

Munin oder Chaos im Kopf

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