Читать книгу Munin oder Chaos im Kopf - Monika Maron - Страница 5
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ОглавлениеRückblickend kann ich sagen, dass der Terror der Sängerin für mich sogar ein Glück war. Meinem Rückzug in die Nacht verdankte ich nicht nur jene Ruhe und Abgeschiedenheit von der Welt der sich selbst überholenden Neuigkeiten, sondern sie bescherte mir auch eine unglaubliche, beglückende Begegnung, eine sonderbare Freundschaft, obwohl ich nicht weiß, ob das Wort Freundschaft in diesem Fall wirklich angebracht ist.
Es gab Nächte, in denen ich den Zweck meiner Lektüre für Stunden vergaß und meine Gedanken unbekümmert schweben ließ. Die Nacht verführt zu Allerweltsgedanken. Über mir der Himmel, ein sternenloser Großstadthimmel, darunter wir in wechselnden Kostümen. Vor vierhundert Jahren gab es das Wort Lichtverschmutzung noch nicht. Die Sterne strahlten noch überall, und im Himmel wohnte noch Gott. Aber was waren vierhundert Jahre? Fünf Menschenleben von achtzig Jahren aneinandergereiht, oder acht Leben, die so lang waren wie meins, achtmal fünfzig Jahre. Über den Umweg solcher Banalitäten näherte ich mich dem nahezu unergründlichen Gegenstand meiner Lektüre, der mich, je mehr ich las, wirklich zu interessieren begann, was mich an der Erfüllung meiner eigentlichen Aufgabe eher hinderte. Ich vertiefte mich zunächst in die Vorkriegszeit, die mir interessanter erschien als das Kriegsgetümmel. Natürlich hatte ich auch vorher schon über die kleine Eiszeit, irgendwann auch Grimmelshausens Simplicissimus gelesen, wenn auch nicht ganz, ich wusste so gut über Galilei Bescheid wie jemand, der fünf- oder sechsmal den Brecht’schen Galilei im Theater gesehen hat. Sicher hatte ich auch früher schon davon gehört und dann vergessen, dass sich die Bevölkerung in den deutschen Landen zwischen 1550 und 1618 fast verdoppelt hatte. Weil sie hier relativ liberale Bedingungen fanden, waren nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 Protestanten in großen Scharen eingewandert. Doppelt so viele Menschen mussten ernährt werden, während strenge Winter, Stürme, Überschwemmungen, Kälteeinbrüche im Mai die Ernten verdarben, das Wintergetreide unter Schneemassen verfaulen und Brunnen unter Eiskrusten verdorren ließen. Vielleicht faszinierte mich die Vorkriegszeit vor allem, weil sie sich bei unscharfer Betrachtung als grobe Vorlage für die Gegenwart darstellte, und sich in Begriffen beschreiben ließ, die ich täglich in den Zeitungen lesen konnte: Klimawandel, Wassermangel, Hunger, Verdoppelung der Bevölkerung in fünfzig oder sogar dreißig Jahren, und die Religionen, natürlich die Religionen. Aber diesmal nicht in Europa, sondern in Afrika und Asien, auch nicht wegen der Kälte, sondern wegen drohender Wärme, vor allem aber wegen der dort schon tobenden Kriege.
Auch Erzählungen meiner Gewährsfrau Cicely Veronica Wedgwood, die ich inzwischen der Einfachheit halber für mich nur noch Cicely nannte, ließen sich, wenn man die Parallelen suchte, wie eine direkte Spur in unseren Alltag deuten. Schilderungen aus der Zeit vor Ausbruch des Krieges könnten, tauschte man die Akteure aus, so ähnlich auch heute zu vermelden sein.
»Die Calvinisten forderten alle wahren Gläubigen zur Gewalt auf und fanden besonderen Gefallen an den mehr blutrünstigen Psalmen. Aber auch die Katholiken und Lutheraner waren nicht frei von Schuld, und Gewalt galt überall als Beweis wahren Glaubens. Die Lutheraner griffen die Calvinisten in den Straßen Berlins an; katholische Priester in Bayern gingen bewaffnet, um sich verteidigen zu können; in Dresden hielt der Mob das Leichenbegängnis eines italienischen Katholiken auf und riss den Leichnam in Stücke; in den Straßen von Frankfurt am Main kam es zu einer Prügelei zwischen einem protestantischen Pastor und einem katholischen Priester …«
So zitierte Cicely den Historiker Johannes Janssen. Es prügelten sich heute in Frankfurt zwar nicht Pastoren und Priester, und in Dresden wurden auch nicht Leichen in Stücke gerissen. (Ich versuchte mir vorzustellen, wie man mit bloßen Händen ohne Zuhilfenahme von Werkzeug oder Zähnen eine Leiche in Stücke reißen konnte.) Aber es flogen auf den Straßen seit einiger Zeit beunruhigend oft Fäuste, Steine und Brandkörper, wenn es um religiöse oder politische Glaubensfragen ging. Sogar die Jesuiten, die sich verkleidet in die Gottesdienste der Calvinisten geschlichen und die Gebetsbücher der Gläubigen listig gegen die eigenen Breviere vertauscht hatten, fanden heutige Nachahmer, seit die Salafisten, zwar eher offensiv als listig, ihren Koran auf offener Straße an das christliche oder atheistische Volk verteilten. Aus evolutionärer Sicht bedeuteten vierhundert Jahre eben nichts.
Die erzwungene nächtliche Isolation erinnerte mich an die heroische Einsamkeitsschwelgerei meiner Jugend, ein Zustand zwischen Absturz und Höhenflug, Auserwähltheit und Mikrobenhaftigkeit, nächtliche Spaziergänge, am liebsten bei Vollmond, mit dem ich vertrauliche Gespräche führte, bei denen ich allerdings auch den Part des Mondes übernahm. Noch heute konnte ich manchmal nicht widerstehen, wenn er mich so ansah, als blicke er nur auf mich. Dann konnte es passieren, dass ich murmelte: Na, da bist du ja wieder, seine Antwort ersparte ich mir inzwischen. Auch das Pendel zwischen Auserwähltheit und Mikrobenhaftigkeit schlug nur noch nach einer Seite aus. Einzigartig an mir waren nur meine Fingerabdrücke, das war eine so realistische wie befreiende Einsicht, die ich mir zu meinem fünfzigsten Geburtstag zugemutet hatte und die mich jetzt auf seltsame Weise mit diesem fernen Jahrhundert verband; ich nichts als eines dieser vor mir gestorbenen und nach mir sterbenden namenlosen Wesen, die die Erde bevölkerten und wie Tiere aufeinander losgingen, wenn das Futter knapp wurde. Die Nacht verführt eben zu Allerweltsgedanken. Außerdem sprach ich kaum noch mit anderen Menschen, weil ich am Tag schlief und nachts niemanden anrufen konnte und weil die meisten Menschen, die ich hätte sprechen wollen, ohnehin verreist waren.
Am Morgen war es schön. Zwischen vier und fünf Uhr, wenn die Sonne schon wärmte und der Alltag wieder Gestalt annahm, tauchte ich etwas benommen aus meiner Zwischenwelt auf, kochte Kaffee und ein Ei, belegte ein Toastbrot mit Käse, ein zweites mit Schinken, schob eine CD in den Player, meistens Mozart oder Schubert, und deckte mir den Tisch für ein entspannendes Frühstück vor dem Schlaf. In unserer Straße war es fast noch so still wie in der Nacht, auch die Sängerin schlief. Ich wunderte mich, wie allein die Helligkeit nicht nur meine Gedanken, sondern auch meinen Gemütszustand veränderte. Ich fühlte mich nicht mehr als eins der Abermillionen namenlosen Geschöpfe, die vergingen wie sie gekommen waren, sondern ich war eben Mina Wolf, benannt nach der italienischen Schlagersängerin Mina, eigentlich Anna Maria Mazzini, deren Lied Heißer Sand zur Ehehymne meiner Eltern geworden war. Als Verlobte hatten sie 1960 eine Woche in Bari verbracht. Ein Jahr später wurde in Berlin die Mauer gebaut. Im Refrain von Minas Lied war ihre Sehnsucht nach der Welt und der ersten Zeit ihrer Liebe für den Rest ihres Lebens aufgehoben.
Heißer Sand und ein verlorenes Land
Und ein Leben in Gefahr.
Heißer Sand und die Erinnerung daran,
Dass es einmal schöner war.
Darum hieß ich Mina, Mina Wolf, die morgens früh um fünf auf dem Balkon überlegte, dass sie unbedingt Milch, Brot und Zigaretten kaufen und endlich die zehn Euro Strafgebühr für falsches Parken überweisen musste.
In die ersten Julitage fielen zwei Ereignisse, die eigentlich zu unbedeutend waren, um als Ereignis bezeichnet zu werden. Ihre Bedeutung entfaltete sich erst im Fortgang des Geschehens. Zuerst fehlte auf geheimnisvolle Weise eine Scheibe Schinken auf meinem Toastbrot. An diesem Morgen war ich zu müde, um das zweite Toastbrot zu essen und auch, um den Frühstückstisch auf dem Balkon abzuräumen. Als ich gegen Mittag aufstand, war die Schinkenscheibe verschwunden, und das Brot lag zerbröselt auf dem Teller. Offensichtlich hatte sich ein Tier darüber hergemacht, ich dachte an Mäuse oder Ratten, vielleicht auch Vögel. An den folgenden Tagen bereitete ich drei Toastbrote, zwei für mich und eins für den unbekannten Gast. Immer war der Schinken verschwunden, das Brot zerbröselt, einmal fand sich neben dem Tischbein ein weißer Vogelschiss wie sonst auf meinem Auto. Es konnte also nur eine der Krähen gewesen sein, die tagsüber in den Bäumen der Umgebung hausten. In den folgenden Tagen sparte ich das Brot, an dem die vermutete Krähe ohnehin wenig Geschmack gefunden hatte, und legte nur einige Stücke Wurst oder Schinken auf den Tisch, die regelmäßig verschwunden waren, wenn ich aufstand. An einem Nachmittag, ich war gerade von einem längeren Spaziergang zurückgekommen, hatte mir einen Kaffee mit Milchschaum bereitet und mich mit der Zeitung ins Balkonzimmer gesetzt, als ich durch die geschlossene Tür sah, wie ein schwarzgrau gefiederter Vogel sich auf dem Tisch niederließ und mit kleinen ruckartigen Bewegungen seines Kopfes kontrollierte, ob sich das Speiseangebot erneuert hatte. Etwas an dieser Krähe war seltsam. Sie hockte wie eine brütende Glucke auf dem Tisch statt auf zwei Beinen zu stehen wie ihre Artgenossen, denen ich zwar nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt, aber doch ein Bild von ihnen im Kopf hatte. Eine Weile saß sie so auf meinem Tisch, als erwarte sie etwas, dann hob sie ihren Körper von der Tischplatte, und ich verstand, warum sie so eigenartig darauf gehockt hatte. Ihr fehlte ein Fuß. Wie ein Stöckchen ragte das Bein aus dem Gefieder, die Kralle musste ihr bei einem Unfall oder in einem Kampf abhandengekommen sein. Mein Erstaunen hatte mich wohl zu einer unbedacht heftigen Bewegung veranlasst, die die Krähe trotz der geschlossenen Balkontür erschreckte und sie davonflattern ließ.
Das war das erste der beiden folgenreichen Ereignisse, die sich, obwohl gänzlich verschieden, auf überraschende Weise ergänzten und sogar meiner Arbeit zu unerwarteten Impulsen verhalfen.
Das zweite Ereignis kündigte sich in einem Brief an, den ich eines Nachmittags im Briefkasten fand. Er war unfrankiert, auf dem Umschlag stand nur mein Name: Frau Wolf, keine Adresse, was darauf schließen ließ, dass ihn jemand aus meinem Haus oder aus der Nachbarschaft eingeworfen hatte, ein unbehaglicher Gedanke. Ich überlegte, ob mich vielleicht jemand beobachtet hat, als ich vor einer Woche beim Einparken das Nummernschild des hinter mir stehenden Autos touchiert hatte, oder ob jemand sich beschweren könnte, weil ich meine einfüßige Krähe fütterte, andere mögliche Vergehen fielen mir nicht ein. Aber der Brief war mit »Liebe Frau Wolf« überschrieben, unterschrieben von Frau Wedemeyer und bot auf den ersten Blick keinen Grund zur Beunruhigung. Frau Wedemeyer lud mich im Namen anderer Bewohner unserer Straße – es folgten sechs Namen, mit denen ich außer Lottas Mutter keine Personen verbinden konnte – zu einem Treffen am kommenden Sonnabend um sechzehn Uhr im Biergarten des Restaurants »Kaskade« ein, um »über Maßnahmen zur Herstellung des allgemeinen Friedens und Deeskalation der gegenwärtigen Lage in unserer Straße« zu beraten.
Es konnte nur um die Sängerin gehen, etwas anderes hatte bis dahin den Frieden in unserer Straße nicht ernsthaft gefährdet. Durch mein nächtliches Exil hatte ich offenbar verschlafen, dass der Kampf zwischen der Sängerin und den übrigen Bewohnern der Straße sich dermaßen ausgeweitet haben musste, dass man nun sogar kollektive Aktionen in Betracht zog.
Eigentlich hatte ich wenig Lust, mich an diesem Kampf zu beteiligen. Ich war froh, dass es mir gelungen war, mich dem ganzen Theater zu entziehen, statt meine Nerven an einer verrückten Person zu verschleißen. Andererseits würde auch ich demnächst, wenn ich den Dreißigjährigen Krieg hinter mich gebracht hätte, wieder ein in Tag und Nacht geordnetes Leben führen müssen, das dem Rhythmus meiner Auftraggeber in den Redaktionen und Studios angepasst war. Außerdem war ich neugierig zu erfahren, was in den Tagen meiner Absenz eigentlich geschehen war, das Frau Wedemeyer zu so staatsmännischen Formulierungen wie »Herstellung des allgemeinen Friedens und Deeskalation der gegenwärtigen Lage« veranlasste.
Die »Kaskade« war ein bescheidenes Restaurant, das sich auf seiner Werbetafel mit bürgerlichem Mittagstisch empfahl. Nur sein Biergarten war im Sommer ein beliebter Treffpunkt in unserer an gastronomischen Attraktionen armen Gegend. Seit ich hier wohnte, hatte es unzählige Versuche gegeben, Gaststätten der einen oder anderen Art zu etablieren, schwäbische, mexikanische, asiatische, italienische, griechische, indische Küche, mal in gehobener Preisklasse, mal am unteren Ende der Skala. Aber die Bewohner unseres Viertels, in dem außer prachtvollen Häusern aus der Gründerzeit ganze Straßenzüge armseliger Nachkriegsbauten standen, konnten sich auf keine Gastlichkeit einigen, die allen gerecht geworden wäre. Und so hatten sich einzig ein karger vietnamesischer Laden, in dem die Angestellten der Umgebung mittags ihre Nudelsuppe schlürften, und eben die »Kaskade« mit dem bürgerlichen Mittagstisch gehalten.
Die Bezeichnung Biergarten verdankte das vielleicht dreißig Quadratmeter große Areal mit acht Tischen den halbhohen Lorbeer- und Oleanderbäumchen in hübschen Holzkübeln, die es zum Gehweg hin begrenzten. Außerdem boten die Hecken der benachbarten Vorgärten, die in unserer Gegend sehr großzügig angelegt waren, eine den Namen rechtfertigende Anmutung. Die Gruppe um Frau Wedemeyer hatte sich an zwei zusammengestellten Tischen in der hinteren Ecke versammelt, vier Frauen und zwei Männer, von denen mir einige vertraut waren, unter ihnen die großgewachsene blonde Frau, vielleicht in meinem Alter, mit der ich mich schon seit einigen Jahren grüßte, aber noch nie mit ihr gesprochen hatte, der ich aber, weil sie mir so außergewöhnlich vorkam, einen Beruf und auch eine Nationalität erfunden hatte. Sie war eine Klavierlehrerin und stammte aus Russland, jedenfalls in meiner Vorstellung. Warum ich sie für eine Russin hielt, kann ich nicht genau sagen. Vielleicht hatte ich eine Russin gekannt, die ähnlich aussah und sich als Prototyp in meinem Gedächtnis eingenistet hatte. Vielleicht erinnerte sie mich auch nur an das signierte Porträtfoto der Eiskunstläuferin Ljudmila Beloussowa, das meine Mutter in dem Fotoalbum aufbewahrte, in das sie auch die Bilder vom Bari-Urlaub geklebt hatte. Dass ich sie zur Klavierlehrerin ernannt hatte, lag an dem immergleichen versonnenen Ausdruck ihres Gesichts, als würde sie gerade an etwas Schönes, Fernes denken; und an ihrer Kleidung, die auf begrenzte Mittel, aber auf ein entschiedenes, keiner Mode unterworfenes Selbstbild deutete. Solange ich sie kannte, trug sie den selben schwarzen, formlosen Wintermantel, der bis zur halben Wade reichte wie auch alle ihre Röcke und Kleider. Eigentlich waren ihre Kleidungsstücke hässlich, aber sie sah nie hässlich aus. Das war das Besondere an ihr.
Frau Wedemeyer saß an der Stirnseite des Tischs und führte offenbar den Vorsitz der kleinen Versammlung, rechts von ihr Lottas Mutter, daneben ein junger Mann, den ich gelegentlich bei einem Spaziergang mit seinem dementen Vater gesehen hatte. Meistens aber fuhr seine Frau den Kranken in einem Rollstuhl durch die Straßen. Die beiden anderen, ein Ehepaar, kannte ich nicht, obwohl sie mir durch ihre für unsere Straße ungewöhnliche Eleganz eigentlich hätten auffallen müssen. Wahrscheinlich waren sie neue Eigentümer aus der Nummer vier, dem Haus, das vor einiger Zeit verkauft und in Eigentumswohnungen umgewandelt worden war. Ich zog einen freien Stuhl vom Nachbartisch und drängte mich zwischen Lottas Mutter und den Sohn des dementen Vaters. Frau Wedemeyer schlug vor, dass wir uns mit Namen und Beruf vorstellen sollten, was aber nur für mich und das zugezogene Ehepaar nötig war, da die Übrigen, wie sich herausstellte, einander gut kannten und sich sogar duzten.
Über Frau Wedemeyer erfuhr ich bei dieser Gelegenheit, dass sie mit Vornamen Ingeborg hieß und als Redaktionsassistentin im Berliner Büro der berühmtesten deutschen Tageszeitung arbeitete. Lottas Mutter hieß Anja Ahrend und war Krankenschwester. Zur Zeit aber nicht berufstätig, sagte sie, wegen Lotta, und wir sollten sie ruhig Anja nennen, sie sei das ohnehin so gewohnt. Der junge Mann neben mir stellte sich als Michael Hartmann vor. Von seiner Berufsbeschreibung merkte ich mir nur, dass er irgendwie mit digitalem Management zu tun hatte.
Und dann war meine russische Klavierlehrerin an der Reihe. Ihr Name sei Brigitte Baum, sagte sie, und sie arbeite im Lager eines Arzneimittelgroßhandels. Weder der Klang ihrer Stimme noch ihre Mimik ließen den Verdacht zu, sie könnte mit ihrem Namen oder ihrer Tätigkeit unzufrieden sein. Nur ich war enttäuscht, nicht nur weil ich mich geirrt hatte, aber mir war die Welt, eigentlich ja nur unsere Straße, schöner vorgekommen, als sie noch Russin und Klavierlehrerin war.
Das Ehepaar aus der Nummer vier stellte sich gegenseitig vor. Die Dame neben ihm sei Loretta Stadler, geborene Wienerin und begnadete Malerin, sagte er, und sie, als hätten sie diese Vorstellung schon öfter gegeben, fiel ein: Der Herr neben mir ist Lorenz von Wiesenberg, Architekt, derzeit mit einem attraktiven Projekt für Doha befasst.
Wahrscheinlich hielten die beiden es für bescheidener, so prahlerisch übereinander statt über sich selbst zu sprechen.
Wir bestellten unsere Getränke, Frau Wedemeyer ein Glas Prosecco, Herr Hartmann ein Pils, Anja Milchkaffee, Lorenz und Loretta Aperol Spritz, meine Klavierlehrerin, für mich blieb sie die Klavierlehrerin, Apfelsaftschorle und ich ein Hefeweizenbier.
Mit einem entschlossenen »Ja, also« ergriff Frau Wedemeyer das Wort. In den letzten Wochen und Tagen hätten sich die Klagen über den unerträglichen Gesang der Frau S. gehäuft, so dass sie zu der Auffassung gelangt sei, man müsse gemeinsam beraten, wie dieser Störung der öffentlichen Ordnung, denn um das handle es sich eindeutig, zu begegnen sei. Der Taxifahrer, der direkt unter Frau S. wohne und oft nachts fahre, demzufolge am Tag schlafen müsse, litte schon unter nervösen Störungen. Die Kinder, Frau Wedemeyer griff nach Anjas Hand, fürchteten sich vor den unberechenbaren Wutausbrüchen dieser Frau. Und schließlich sei es bezeichnend, dass kein Bewohner ihres Hauses, nicht ein einziger, bereit gewesen sei, an unserem Treffen teilzunehmen, aus Furcht, so müsse sie es sagen, aus Furcht. Der Versuch des Hausbesitzers, ihr die Wohnung zu kündigen, sei erfolglos geblieben, da die Frau ihre geistige Behinderung amtsärztlich bescheinigen könne, was eine derartige Maßnahme ausschließe.
Andererseits, sagte Frau Wedemeyer, könne auch der Taxifahrer gesundheitliche Schäden geltend machen, gewiss auch andere, wie Michael Hartmanns dementer Vater, der von Attacken heftiger Unruhe befallen werde, sobald ein Fenster geöffnet sei. Es könne doch nicht sein, dass ein einziger Mensch, nur weil er von Amts wegen verrückt ist, Hunderte andere Menschen tyrannisieren dürfe, sagte Frau Wedemeyer, deren Erregung sich mit jedem Satz gesteigert hatte. Ihr vom Eifer rotgeflecktes Gesicht leuchtete unter dem blonden Haar und über der roten Seidenbluse wie eine kleine, zuckende Flamme.
Wir fanden den Gesang bisher eigentlich ganz witzig, sagte Loretta in ihrem wienerischen Singsang, lenkte aber, als sie die strengen Blicke der anderen wahrnahm, schnell ein: Na, wir hören es ja erst seit ein paar Wochen. Wie lange geht das denn schon?
Zwei Jahre, sagte Frau Wedemeyer.
Zwei Jahre, flüsterte auch Herr Hartmann.
Loretta lächelte verständnisvoll und sagte, Lorenz und sie seien ja auch vor allem gekommen, weil sie gern ihre neuen Nachbarn kennenlernen wollten.
Viel mehr sagten die beiden an diesem Nachmittag nicht mehr.
Ich selbst trug zu einem befriedigenden Ausgang des Krisentreffens wenig bei und beließ es bei einigen unterstützenden Bemerkungen anderer Redebeiträge. Einige Stunden zuvor hatte ich gelesen, dass im Irak wieder einmal eine amerikanische Geisel von islamischen Terroristen enthauptet worden war. Neben dem Artikel war ein Foto des Getöteten zu sehen, ein vielleicht vierzigjähriger Mann, der selbstbewusst lächelnd in die Kamera schaut. Eine Nachricht, die in mir zwar immer noch Entsetzen auslöste, aber nie wieder den fassungslosen Unglauben, der mich gepackt hatte, als dieser Gruß aus der islamischen Hölle zum ersten Mal in unsere ahnungslose Welt geschickt wurde. Und nun saß ich in der »Kaskade« und sollte über Maßnahmen zur Herstellung des allgemeinen Friedens und Deeskalation der gegenwärtigen Lage in unserer Straße beraten. Wegen einer so armen, verwirrten Person wie der Sängerin, der zwar auch ich hin und wieder die Pest an den Hals wünschte, weil ich ihr mein gewohntes Leben opfern musste, was sich aber, wie ich inzwischen wusste, eher als unverhoffter Gewinn erweisen sollte.
Die restliche Stunde unserer Beratung erschöpfte sich vor allem in Klagen und Aufzählung der Unbilden, die wir alle kannten. Michael Hartmann versprach, den Justitiar seines Betriebs um Rat zu fragen, und Frau Wedemeyer schlug vor, unsere E-Mail-Adressen auszutauschen, um bis zu unserer nächsten Zusammenkunft in Kontakt zu bleiben. Ich nahm mir vor, auf keinen Fall an einem nächsten Treffen teilzunehmen.