Читать книгу Mein Chef und andere Hürden - Monika Starzengruber - Страница 2
ОглавлениеErklärung: Alle Personen, Namen und Geschehnisse, bzw. Anführungen und Erläuterungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder wirklichen Geschehnissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Der Einfachheit halber wird in dieser Geschichte der Beruf mit Verkäuferin und nicht, wie sonst üblich, mit VerkäuferIn betitelt. Diese Wahl hat nichts mit der Diskriminierung eines Geschlechtes zu tun.
Mein Chef
und ander Hürden
von Monika Starzengruber
Kapitel 1
„Süßer Apfel? Natürlich führen wir den, er heißt „Gala“. Sein weiches Fruchtfleisch ist ... optimal für die Dritten. Roter Apfel? Dann greifen Sie besser zur Sorte „Jonathan“. Schmeckt allerdings süßsauer. Dafür ersetzt sein knackiges Fruchtfleisch die Zahnbürste. Kukident? Finden Sie nächsten Gang hinten links im Regal. Welche Apfelsorte darf es jetzt sein? Oh, der ist ... ja angebissen ...“
„Will nen lila Apfel, Mama!“
„Lila Äpfel gibt es nicht, Schatz.“
„Aber lila Süßkartoffel und lila Paprika kann ich anbieten. Die neueste Züchtung, lila Radieschen, kommt demnächst ins Sortiment.“
Oh! – Die näselnde Stimme meines Chefs riss mich aus meinen Gedanken des vergangenen Arbeitsnachmittags. „Wir sind heute nicht zusammengekommen, um zu arbeiten ... äh, deshalb fasse ich mich kurz ...“
Inmitten meiner vier Arbeitskolleginnen am Tisch sitzend, fixierte ich ihn mit zusammengekniffenen Augen und dachte: Und dich pole ich noch um – ob du es willst oder nicht.
„Mein lieber Kollege, meine lieben Kolleginnen ...“
Mmh, natürlich. Den männlichen Kollegen erwähnte er zuerst, wir Frauen waren zweite Wahl. Warum redet er nicht weiter, fragte ich mich, während mich meine Kolleginnen betrachteten, als wüsste ich mehr. Die Mundwinkel nach unten ziehend zuckte ich die Schultern, was nicht gelogen war, und richtete meinen Blick in die Saalmitte, wo Dorner stand, unser Chef. Herausgeputzt im schwarzen Nadelstreif-Anzug. Glatt rasiert, mit Oberlippen Bärtchen, das an den Filmschauspieler Clark Gable aus den Fünfziger-Jahren erinnerte, mit Stoppelhaar-Frisur, exakt zwei cm kurz. Wie üblich sich als erhabenen Meister seiner unfähigen Gesellen aufspielend und wie üblich darauf ausgerichtet, im rücksichtslosen Meißeln an unserer Arbeitswelt sein Diplom erreichen zu wollen. Im Moment war es die Firmen-Weihnachtsfeier, die ihm Gelegenheit gab, daran zu üben.
„... danke für Ihr zahlreiches Erscheinen. Mit den ... äh ... drei Mitarbeitern, die sich entschuldigten, sind alle anwesend, somit ... äh, sind wir vollzählig.“ Sich gedankenvoll über sein Bärtchen streichend, sah er wie ein gesättigter Löwe in die Runde und setzte fort: „Wieder ist ein Jahr zu Ende gegangen, in dem wir alle Anforderungen, sowie ... äh ... Herausforderungen meisterten. Dank Ihrer hohen Einsatzbereitschaft und Leistung, äh ... ohne die dieses harte Jahr nie so erfolgreich abgeschlossen worden wäre ...“
Ich schüttelte den Kopf. Was redet er da? Hat er vergessen, was er noch gestern zu mir sagte?
„Frau Starz, wenn Sie nicht einmal eine frische Melone von einer faulen unterscheiden können, ... äh ... die nichts im Regal zu suchen hat, wie wollen Sie dann die Prüfung zum Bereichsleiter für Obst und Gemüse schaffen?“
Was für eine Frage. Als ob ich, eine blondierte, kinderlose Single-Frau von dreiunddreißig Jahren und pendelndem Gewicht ab siebzig Kilo, bei einer Größe von eins-sechzig ohne Stöckelschuhe, mit selbst erlernten, hausfraulichen Qualitäten, nicht wüsste, wie eine frische, knackige Zuckermelone auszusehen hatte, damit sie gekauft wurde. Wie dieses verschrumpelte Ding ins Regal gekommen war, wusste ich nicht.
Er fächerte mit der Hand herum, als wolle er etwas verscheuchen und zischte: „Der ausgelaufene Saft zieht schon die Mücken an.“
Peinlich berührt blickte ich mich um, während sich der drängende Wunsch in mir entfachte, contra zu geben. Kein Wunder, dass mir meine Zunge nicht gehorchen wollte, sämtliche Kunden blickten interessiert in unsere Richtung. Doch deren erweckte Neugier brachte mich nicht aus dem Konzept. Wir standen mitten im Verkaufsraum in der Obstabteilung, die Kolleginnen hatten jedes Wort mitgehört. Wie bitteschön sollte ich mich als neue Chefin der Obstabteilung bei meinen Mitarbeitern ernsthaft durchsetzen können, wenn er mich vor ihnen abkanzelte, wie ein Schulmädchen?
Zum Glück hielt ich die Bestellmappe in der Hand. Wirbelte damit hinter seinem Rücken ein paar Mal in der Luft herum und hoffte, dass die lieben Flügeltierchen so das Weite suchten. Um mich dann umzusehen und übertrieben harmlos zu fragen: „Wo sind denn hier Mücken?“
„... in diesem Sinne, äh ... lasst uns anstoßen auf ein weiteres, äh ... Jahr. Auf dass sie kommen mögen, die Pannen und Missgeschicke. Denn sie sind für uns Herausforderungen, an denen wir sowohl lernen, als auch wachsen.“
Dorners Worte klangen wie ein Gebet in meinen Ohren und ein „Amen“ hing in der Luft. Kein Gebet, dem ich mich anschließen konnte, denn ich hasste Pannen und Missgeschicke. Trotzdem hob ich, wie alle anderen, mein Glas, prostete den Kolleginnen am Tisch zu und nahm einen Mundvoll. Veronika, die mir gegenübersaß, folgte meinem Blick nach nebenan. „Der Fleischhacker schüttet wieder hinein heute, der hält sich mit Schlucken erst gar nicht auf“, meinte sie kopfschüttelnd. Womit sie das Glas Bier ansprach, das er in einem Zug ausgetrunken hatte. Verständlich, wenn man wusste, dass Alkoholgenuss für sie mit Selbstmord auf Raten gleichkam und sie uns deshalb mit Mineralwasser zuprostete. Diesen kleinbürgerlichen Snobismus sah man ihr auf den ersten Blick gar nicht an.
Hildtrud, die blondierte, vollschlanke Natur neben Veronika nahm es gelassen. Sie sonnte ein Alter, wo einen nichts mehr so schnell umhaute. Als Älteste in unserem fünfköpfigen Reigen durfte man jederzeit auf ihre Arbeitskraft zählen. Doch wehe, man schickte sie vorzeitig nach Hause, weil das Geschäft einmal nicht lief und eine hohe Personalbesetzung unnötig war. Dann kam der bockige Esel in ihr hervor. Sie sammelte die Überstunden, wie andere die Bierdeckel.
Silvana, unser Lehrling im dritten Lehrjahr, stellte für mich den Inbegriff einer bildhübschen, dunkelhaarigen sowie unkomplizierten jungen Dame aus Bosnien dar. Weitere Merkmale ihrer Person überlasse ich der Fantasie der Leser, sowie Leserinnen. Der Polin Janina verhalfen die Jahre in Österreich zu fließendem Deutsch mit reizendem Akzent. Sie war eine freundliche und verlässliche Kollegin, eine, die sich jeder wünschte. Aber das sollte ich erst im Lauf der Zeit bemerken. Zum Arbeitsreigen der Obst- und Gemüseabteilung zählte auch Veronika, eine junge Mutter, die wegen ihres Kindes nur samstags arbeiten konnte. Renate, eine fleißige, sehr sensible Halbtagskraft war in meinem Alter und besaß Mannequin-Figur. Beneidenswert. Seufz.
Als ich - „die Neue“ - zum Team stieß, erhoffte ich mir als Willkommen zumindest ein bedeutendes Lächeln. Stattdessen servierte man mir psychischen Stress stabil. Wie es in der Arbeitswelt halt so abläuft, wenn man beständigem Personal einen Firmenfremden vor die Nase setzt, obwohl man selbst mit dem frei gewordenen Job liebäugelt.
Weiß Gott, zu Anfang ruderte ich ohne Pause, um mich bei meinen Kolleginnen in der Obstabteilung durchsetzen zu können. War nur zu bestrebt, mir durch Fleiß und Können ihren Respekt zu verschaffen. Doch nachdem Dorner mich wegen der faulen Melone vor allen abgekanzelt hatte, rückte ich kilometerweit wieder davon ab. Gerade als ein Schimmerchen Erfolg am Horizont sichtbar geworden war, musste er seine nicht zu unterschätzende Macht demonstrieren und mir in Sekundenschnelle die von mir hart erarbeitete Anerkennung meiner Kolleginnen vernichten. Mit ein paar läppischen Worten eliminierte er Wochen der Anstrengung, die sich mit Lichtgeschwindigkeit in ihren Gehörgängen festfraßen und hochkarätige Schadenfreude auslösten.
Deshalb und nur deshalb hing er wie Blei an meinen Füßen, der vortägige Frust; ausgelöst durch Dorner, die faule Melone und den verräterischen Mücken.
Mein geschundenes Ego galt es aufzupäppeln. Was zöge meinen angeschlagenen Selbstwert besser aus Dorners Trampelzone, als ein Erfolgserlebnis, inmitten dieser steifen Arbeitsrivalen? Ohne lange zu fackeln rief ich „Damenwahl“ aus, schnappte mir Fleischhacker und legte mit ihm einen nicht mehr ganz so kontrollierten Boogie aufs Parkett. Kleiner Versuch meinerseits, den verkrampften Haufen von Bereichsleiterkonkurrenten aufzulockern. (Kennzahlen lügen nicht.) Zum Gaudium der einen und zum Staunen der anderen. Zur Kategorie der Erstaunten zählte auch Dorner, der mich, wie die meisten der Anwesenden, von meiner vergnüglichen Seite noch nicht kannte. Fast ununterbrochen lugte er nach mir, während der Rhythmus des Boogies mich in immer ausgelassenere Tanzgebärden verfrachtete. Von seinem „Interesse“ animiert, offerierte ich mich keuchend: „Nächster Boogie gefällig?“ Worauf er pikiert auf die andere Seite sah und tat, als höre und sehe er nichts. Meine temporeichen Bewegungen forderten ihren Tribut und ich rettete mich atemlos aber happy auf einem Stuhl, der gut ein paar Pinselstriche Leim vertragen hätte. Besser ein Streichholz, korrigierte ich, weil die Lehne aus der Verankerung riss als ich ihr meinen Rücken anvertraute und ich damit beinahe umgefallen wäre. Und während mein Gleichgewicht noch mit meiner Sitzgelegenheit kämpfte, überkam mich blitzartig ein nicht zu übersehendes Detail, das ich unbedingt an den Mann, besser, an die Frau bringen musste. Und es sprudelte aus mir heraus: „Ist euch Weiber aufgefallen, dass Fleischhacker der einzige Mann in unserer Truppe ist?“ Diese höchst denkwürdigen Worte garnierte ich stolz mit einen Schluck Wein. Besser mit drei oder vier. Alle waren so steif hier. Nur zögernd gönnerhaft gestand ich zu, dass die grauen Zellen meiner Kolleginnen meinen nicht hinterher hinkten, als sie lautstark vermeldeten: „Und Dorner?“
Demonstrativ schüttelte ich den Kopf, wobei vor meinen Augen eine „Karussellfahrt“ begann. „Der zählt nicht. Der ist ein Organ. Ein Überwachungsorgan.“
Am Tisch fingen sie zu kichern an, nur Veronika zischte: „Psst, nicht so laut, wenn er das hört.“
Gnädig nickte ich. Um dann mit verschwörerischer Miene, und vorgehaltener Hand zu flüstern: „Unser Leithund, sozusagen.“
Und als mir zur fortgeschrittenen Stunde danach war, einen unüberhörbaren Toast auf unseren Leithund auszurufen, wurden die ersten Stimmen nach einem Taxi vernehmbar. Für mich. Drin sitzend, auf dem Weg nach Hause, fiel mir ein altes Wienerlied ein. Promillebeladen im Fond lehnend ließ sich gut trällern: „Sag beim Abschied leise servus, nicht Lebwohl und nicht ade, diese Worte tun nur weh ...“
Immer wenn ich dem Bedürfnis nachkommen wollte zu schlafen, läutete verlässlich das Telefon. Na gut ..., fast immer. Zwischen Traum und Wirklichkeit schwebend gelang es mir, das in der Matratzenritze steckende Ding in die Finger zu bekommen, um dann schließlich noch ziemlich weggetreten zu hauchen: „Stören verboten.“
„Verena, bist du das?“
Unverkennbar Claudia, meine einzige Lieblingsschwester. Irrtum ausgeschlossen. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, doch mehr als ein Blinzeln wurde nicht daraus.
„Verena, sag doch was.“
„Hmm.“
„Verena, bist du dran?“
„Was willst du mitten in der Nacht“, stöhnte ich.
„Verena, hältst du den Hörer etwa wieder verkehrt rum?“
Immer dieses feldwebelhafte Verena! Ich konnte es nicht mehr hören! Jedermann nannte mich Rena, aber bei meiner Schwester musste es unbedingt Verena sein. Und bei jeder Gelegenheit ihr lehrreicher Spruch: „Schließlich steht Verena Starz in deinem Taufschein.“ Hätte ich sonst glatt vergessen.
Was sagte sie? Umständlich katapultierte ich den Hörer vor meine Augen. Tatsächlich - verkehrt - und drehte ihn um, sodass ich nun in die Sprechmuschel raunte: „Hoffe für dich, dass in deinem Haus der Blitz eingeschlagen hat oder so ähnlich.“ Anderen Falles würde ich sie für diese brutale Störung ebenso brutal ermorden.
„Verena, Schätzchen, diesmal kommst du mir mit keiner deiner Ausreden. Abends um sieben bist du da - okay? Es gibt Hühnchen mit viel Gemüse.“
Bei dem Wort Hühnchen, eine meiner Lieblingsspeisen, regte sich ... nichts in mir. Wunderte mich nicht. Im Moment hätte mich höchstens Kaffee beflügelt. Ich blinzelte abermals. Meine drückenden Lider besiegten schließlich meinen Willen und klappten endgültig zu. Wieder auf dem Turn ins Traumland lallte ich mit bleierner Zunge: „Bin eine Berufstätige Frau, falls dir das entgangen ist.“
„Heute nicht, falls dir das entgangen ist. Oder willst du neuerdings auch Sonntagmittag arbeiten.“
Ruckartig riss ich die Augen auf und schnellte in die Höhe. Sonntag? Du lieber Himmel, wo war der Samstag geblieben? Augenblicklich fiel mir alles wieder ein. Ich stöhnte. Dorner das Überwachungsorgan nebst Firmen-Weihnachtsfeier belegten unbarmherzig meine benebelten Sinne. Oh Gott, war das blöd gelaufen. Sehr blöd gelaufen. Zumindest wussten nun alle in der Firma, dass Rena Starz Spaß verstand. Hoffentlich Dorner auch! Der aufkommende düstere Gedanke auf Montag ließ sich nur mehr mit Gewalt verdrängen. Im selben Atemzug schoss es mir ein: „Ist das wieder einer deiner Kuppelversuche?“
„Papperlapapp! Du sollst etwas Anständiges in deinen Magen bekommen, weiter nichts.“
Stöhnend ließ ich mich rücklings auf die Matratze fallen und wälzte mich in eine angenehme Liegestellung, wobei mir das Telefon aus der Hand glitt. Dass es zu Boden fiel, bekam ich noch mit, war mir aber so was von Soße. Meine Lider wurden schwer und schwerer. Wohlig trug mich das Gefühl der einlullenden Entspannung fort … Als mich in diesem Nichtsdenken die Erinnerung plötzlich einholte, war es, als stünde ich unter Strom. Blitzartig durchfuhr es mich: Allmächtiger! Ob sie noch dran war? Ich stöhnte. Mich meinem Schicksal ergebend, streckte ich mich nach dem Plastikding, ergriff es ächzend, hielt es an mein Ohr und horchte hinein. Tut, tut, tut, tut. Aufgelegt. Auch gut. So war die ewige Debatte mir einen Mann suchen zu wollen, um mich mit ihm zu verheiraten, damit ich versorgt wäre, eben zu Ende, bevor sie begonnen hatte. Ein Los, das wohl auf jeden Single zukam, irgendwann. Mit einer Schwester an den Fersen, (ein paar Jährchen an Erfahrungen reicher, glücklich verheiratet - mit Kind) die die unumstößliche Meinung vertrat, die wahre Erfüllung fände man nur mit einem Mann auf diesem Planeten. Ein Urgesetz, das auch an mir nicht vorbei ginge, früher oder später, erklärte sie. Dabei probierte ich dieses Urgesetz vor Jahren schon mal aus und es war verdammt schief gelaufen. Falls es wirklich so etwas wie ein Urgesetz in dieser Richtung gäbe, war ich ein gebranntes Kind, mit Scheidung im Anhang und der weisen Einsicht, in Zukunft meine Finger davon zu lassen.
Lieber konzentrierte ich mich auf meine angehende Karriere. Wenn man bei zukünftigem Bereichsleiter für Obst und Gemüse im Lebensmittel-Supermarkt von angehender Karriere überhaupt reden durfte.
Den Hörer des Festnetztelefons auf die Gabel zurückgeworfen, drehte ich mich in eine gemütliche Lage und schloss die Augen. Mich drängte nichts aus dem Bett. Kein Besuch, kein Vorhaben, auch kein strahlender Sommertag. Es war Dezember. Väterchen Winter bescherte der Stadt Wels letzte Nacht eine zwanzig Zentimeter hohe Schneedecke. Höchstens ein Murmeltier, das genüsslich seinen Winterschlaf schlummerte, brachte es fertig, mich im Moment anzuturnen. In Richtung süße Träume. Mich tiefer in die Daunen kuschelnd stellte ich mich ganz auf Murmeltier im Winter ein. Kurz bevor ich endgültig wegdöste, riss mich das Telefon abermals aus meinem Wohlfühlprogramm. Nebenher es mich aufschreckte, zudem wurmte, entfachte es den dringenden Wunsch in mir, auf einer unbewohnten, weit entfernten Insel zu sein. Der Apparat läutete so hartnäckig, dass ich schließlich einsah, nicht ran gehen würde Claudia nicht davon abhalten, das Ding läuten zu lassen bis zum Nimmerleinstag. Denn dass sie es war, am anderen Ende der Leitung, darin bestand für mich kein Zweifel. Genervt riss ich den Hörer an mich und brüllte in die Muschel: „Okay, ich komme!“
„Wieso weißt du, dass ich dich einladen will, kannst du hellsehen? Und warum schreist du so?“
Eine Schrecksekunde brauchte ich schon, um meiner Verwirrung Herr zu werden und hervor zu stottern: „Mutter, du?“
„Ich wollte dich zum Mittagessen einladen, Liebes. Ja, ich weiß, es ist gleich ein Uhr und kurzfristig. Aber mir fallen heute zwei Gäste aus. Es wäre schade um das gute Essen. Lammbraten isst du doch so gern.“
„Mutter, ich kann heute nicht den Lückenbüßer spielen.“ Meine Lider ... blinzelten.
„Was heißt Lückenbüßer ... es kommen nette Leute, auch Willibald, erinnerst du dich an ihn?“
Lieber nicht. Aber nachdem sie von ihm gesprochen hatte, war es nur mehr ein Wunschdenken. Der gute Will - mein Sandkastengefährte aus Kindergartentagen und Völkerball Spielpartner in Teenie-Zeiten, mit abstehenden Ohren und Lispelzunge. Das Szenario ihn mir als erwachsenen Mann vorzustellen, ersparte ich mir. Wo in aller Welt hatte sie den aufgegabelt?
„Sag Will, ich wäre wild darauf, ihn zu treffen, nur bin ich leider nicht ganz momentan.“
„Nicht momentan? Was soll das heißen?“
Ja, was eigentlich. So genau wusste das keiner, wahrscheinlich nicht einmal Will selbst, der dieses Vokabular seinerzeit als Kind irgendwo aufgeschnappt und es dann ständig benutzt hatte. Bei jeder Gelegenheit, fast in jedem Satz. Was ihm den Spitznamen Momento-Will einbrachte. „Sag ihm das. Er kennt sich schon aus.“
„Soll das heißen, du kommst nicht?“
„Mir geht es heute nicht gut, Mutter.“
„Du kränkelst? Warst du beim Doktor?“
„Eine Mütze Schlaf tut es auch.“
„Wie immer treibst du Schindluder mit deiner Gesundheit, Rena. Geh zum Arzt, sonst tut es dir noch leid.“
Typisch Mutter. Die Sorge in Person zu mimen, ohne zu fragen, woran ich „erkrankt“ sei.
Im Hintergrund rief jemand: „Gerdi, wir warten auf dich!“
„Ich muss auflegen. Willst du bestimmt keinen Lammbraten?“
„N e i n.“
„Wie du magst.“
Aufgelegt. Entgeistert starrte ich auf den tutenden Hörer. Mein Zynismus ließ mich sagen: „Danke für die lieben Genesungswünsche“, und legte ebenfalls auf. Solchen Situationen ausgeliefert, steuerten meinen Gedanken automatisch hilfesuchend zu meinem Leitfaden fürs angenehme Dasein im Jetzt. Dem Buch mit dem Titel: Wünsche beim Universum bestellen. Darin stand, wie man Wünsche formulieren musste, um sie vom Universum auch richtig erfüllt zu bekommen. Stets positiv, nie negativ in der Aussage ausgedrückt. Und ich bestellte: „Universum, ich bestehe auf eine erholsame, schlafreiche Stunde.“ Mit Sicherheit würde nun Ruhe sein. Als esoterischer Anhänger überzeugte mich diese Methode voll und ganz, da sie bisher stets funktioniert hatte. Spätestens bei der Parkplatzsuche lieferte ich mich nach zwei Runden vergeblicher Suche diesem Ritual jedes Mal hingebungsvoll aus. Und es endete stets mit einem Spitzenparklatz. Unglaublich, aber wahr. Okay, manchmal mit vier Suchrunden zusätzlich.
Zufrieden rekelte ich mich in mein Kissen und stellte mich darauf ein, wieder in das Land der Träume zu segeln. Leider nicht, auf halbem Weg wieder umzukehren, weil irgendwo irgendwas immens schrillte. Schlaftrunken hob ich meinen Kopf, um mich zu orientieren, um herauszufinden, welcher Krach wo um mich wäre. Sekundenlang fehlte mir erst mal der Plan. Als sich mein benebeltes Denken stufenweise lichtete, ortete sich der Krach als „rufendes“ Telefon. Fauchend stülpte ich das Kissen über mein Gesicht, wobei mich die naive Hoffnung erfüllte, den nervigen Tönen so zu entkommen. Mit dem Resultat, dass kurz darauf jede einzelne meiner Nervenzellen K.O. gehend meinen Willen lähmten. Mit jeglichen Verwünschungen, die mir schlaftrunken in den Sinn kamen, grapschte ich nach dem misstönigen Ding.
„Verena, Schätzchen, bist du dran?“
Ich atmete durch.
„Verena, du kommst doch heute Abend?“
„Jaaa.“
Hörbares Rauschen und Knacksen. „Bist du verstimmt?“
Ich nickte. „Nööö.“
Kurze Stille. „Dann bis abends, okay?“
„Mhhh.“
Mich noch abmühend den Hörer zu bugsieren, wohin er gehörte, fiel mein Blick auf die Uhr und traute meinen Augen nicht. Waren wirklich erst zehn Minuten vergangen? Mit einem Schlag war ich hellwach. Wo war das zuverlässige Universum geblieben, das meine Wünsche erfüllte? Nach so einem Flop gab es nur eines für mich - mir den gesagten Wunsch ins Gedächtnis zu rufen. Wie war das? „Universum, ich bestehe auf eine erholsame, schlafreiche Stunde.“ Alles klar. Mein Fehler. Zu ungenau definiert. Es brauchte einen nochmaligen Start. „Universum, ich bestehe auf der Stelle, auf eine erholsame, schlafreiche Stunde.“ So ausgedrückt musste es funktionieren. Anderenfalls - nein, es gab kein anderenfalls. Zweifel verhinderten, dass das Universum zu einem durchkam. Positives Denken war unerlässlich. Gääähn. Na dann, gute Nacht.
Ein fünftüriger Schrank, vollgestopft mit Kleidern, war einem keine Hilfe. Nach meinem geruhsamen Nachmittag im Bett, übrigens, dafür vielen Dank, Universum, stand ich bereits eine Weile vor geöffneten Kastentüren und wurde nicht mit mir einig. Meine Entschlusskraft riss mich hin und her. Was ziehe ich an? Dabei war es nicht der Opernball, die Romy-Verleihung oder eine Gala, die auf mich warteten, sondern nur meine Schwester. Auf dem Bett türmten sich Blusen, Röcke und Hosen, die ich im Spiegelbild vor meinem Körper gehalten und danach beiseite geworfen hatte. Als es an der Wohnungstüre klingelte, kam das einer Erlösung gleich. Erstens war mir klar, wer klingelte, schon an der Art des Klingelns. Zweitens verstand sich für mich von selbst, dass endlich Hilfe für meine Outfitzweifel antanzte. Meistens zweifelten wir dann ja zu zweien ...
„Jaaa, ich komme!“
Elegant schwungvoll riss ich die Tür auf. Hielt das rote Etwas modellhaft vor meine Brust und sah der blondierten, mähnenartig hoch toupierten, beneidenswert jungen Simba, mit einem erwartungsvollen ‚geht das?‘, entgegen. Die fixierte sekundenlang die Bluse in meiner Hand, dann mich, rümpfte die Nase und schüttelte schließlich den Kopf. Hätte sie nicht zu tun brauchen. Verstand sich von selbst, dass dieser rote Fetzen längst in den gelben Sack gehörte. Ich wandte mich ab und eilte in mein Schlafgemach zurück, wo ein weiteres Textil samt Kleiderbügel auf dem Bett landete und ich rücklings oben drauf. Genervt krallten sich meine Finger in die verschiedenen Stoffe unter mir, während meine Stimme verschnupft plärrte: „Hab nichts anzuziehen.“
Simba - mir gefolgt - lehnte sich an den Türrahmen und sah sich interessiert, fast lauernd im Raum um. Wie ihr Namensvetter aus dem Film „Simba, der weiße Löwe“. Sie sagte nichts. Dafür verrieten ihre Gesichtszüge, dass sie das bunte Wäscheknäuel im Bett, davor, daneben und rundherum, alles andere als dekorativ fand. Letzten Endes gab sie von sich: „Du hast nichts anzuziehen?“ Kurze, demonstrative Pause und dann: „Das sehe ich.“
„Nur eine Frau versteht die Sorgen einer Frau“, überkam es mich sarkastisch, da ich von meiner Lieblingsnachbarin mehr Anteilnahme erwartet hätte. Jahrelang in einem Mietwohnblock in dritter Etage Tür an Tür mit ihr zu wohnen, bedeutete letztendlich auch ein bisschen seelenverwandt zu sein.
Anstatt vor Mitleid zu zerfließen, begab sich Simba ausdruckslos zum Schrank. Davor stehend machte sie zuerst Bewegungen, als wolle sie sich darin durchgraben. Schlussendlich verschob sie nur vereinzelt die Kleiderbügel.
Als wir uns vor Jahren zum ersten Mal im Treppenhaus begegneten, fielen mir gleich ihre hoch toupierte Haare auf und der besagte Film ein. Eine Mähne, wie ein Löwe, dachte ich staunend, da es heutzutage selten bis überhaupt nicht vorkam, auf jemanden zu treffen der sich das Haar auf diese Weise noch verfilzte. Es lag nicht im Trend. Ab da war sie für mich geboren, die „menschliche Löwin“ Namens Simba und aus ... oh ... Schande, wie hieß Simba mit wahrem Namen? Zuletzt gebrauchte ich ihren Namen vor ... ja, wie vielen Jahren? Trotz meines fieberhaften Grabens in meinem Denken regte sich in meiner Erinnerung nur gähnende Leere, die sich ausweitete wie ein schwarzes Loch, je tiefer ich grub. Kommt ihr Helferlein in meinen grauen Zellen, regt euch! Falls nicht blieb mir nur, diese Peinlichkeit als eines meiner bestgehütetsten Geheimnisse zu wahren. Ansonsten würde dies zur Blamage gegenüber meiner besten Freundin ausarten. Aaaah, ... Vicki Kamp hieß sie. Oder nicht? Unumgänglich, bei nächster Gelegenheit auf ihr Türschild zu sehen.
„Bequem soll es sein, knitterfrei und das Dekolleté nicht zu weit ausgeschnitten, bei der eisigen Kälte draußen“, legte ich fest, mit der Absicht ihren Maulwurftrip in meinem Kasten zu forcieren. Und um meinen inneren Kampf mit meinem lückenhaften Gedächtnis zu kaschieren.
„Das Kleid, das du dir ausmalst, muss erst genäht werden“, wusste Simba.
Trotz ihrer Löwenmähne, die etliches verdeckte, erkannte ich: „Du wühlst in der Freizeitecke.“ Mein Ton unterstrich, dass sie dort völlig umsonst suchte.
„Sonntag ist Freizeit“, konterte sie, ergriff einen Bügel und hielt ihn mir vor die Nase. Stretch-Jeans mit Schlabberbluse. Mein Adrenalinspiegel stieg. Hastig wuselte ich aus dem Bett zu ihr, wissend - das war es. Wenn mich schon Zweifel plagten, bezüglich meiner Aufmachung, sollten es wenigstens meine Lieblingssachen sein. Simba hatte Recht, wenn sie sagte: „Wieso du jedes Mal so ein Aufheben machst, wenn du ausgehst, ist mir schleierhaft. Am Ende ziehst du eh immer dasselbe an.“
Schon - aber - wie sollte ich das vorher wissen?
„Wofür diesmal der Aufwand?“
„Claudia hat mich zum Essen eingeladen.“
Kurzer, prüfender Blick und ein vielsagendes: „Aha.“
Vor dem Spiegel die umfangreiche Bluse an mir richtend, wehrte ich ab: „Nicht „aha“. Diesmal ist es keiner ihrer Kuppelversuche, hat sie extra betont.“
„So, so“, kam es spöttisch, als kaufe sie mir kein Wort ab. Folglich wechselte ich das Thema. „Und du? Erwartest du deinen verheirateten Sunnyboy Erik heute?“
„Wie eine Spinne ihr Opfer.“
Überrascht hielt ich in meiner Ankleidetechnik inne. „Was heißt das?“
„Dass heute die Entscheidung fällt.“
Ich war im Bilde. „Fünfzehn Jahre Ehe prägen einen Mann, ist dir das klar?“
„Klar wie Wasser.“
„Eine Fusion zwischen ihm und dir, mit zwei fast erwachsenen Kindern, willst du das wirklich?“
Sie antwortete mit bleiernem Schweigen.
Für mich stand fest: „Wahrscheinlich wendet er die Hinhaltetaktik an. Der richtige Moment sei noch nicht gekommen, um es zu beichten oder so.“
Simba seufzte. „Hast du noch ein paar solche Tiefschläge auf Lager? Die bauen nämlich ungemein auf, weißt du?“
Sie tat mir leid. „Simba, es sei dir von Herzen gegönnt, aber du glaubst doch nicht ernsthaft, dass er sich wirklich scheiden lässt?“
Den Hafen einer Ehe noch nie angesteuert, schien ihr Urvertrauen an die männliche Meute einem „jungfräulichen“ Lämmchen zu gleichen. Ich wollte ihre Gefühle nicht verletzen, indem ich ihr vor Augen hielt, es als Außenstehende geradezu höllisch mitzubekommen, dass er sie nur ausnutzte und dass sie das verdammt noch mal viel zu geduldig zuließ. Aber was konnte man von einer Malerin, die größtenteils von dem Erbe ihrer wohlhabenden Eltern lebte, anderes erwarten. Simba entwickelte sich in den vergangenen Jahren zu einer echten Freundin. Doch die Sphären, in denen sie sich als Künstlerin bewegte, waren mir als arbeitende Genesis manchmal zu hoch. Vielleicht ein Punkt um anzusetzen und dazuzulernen?
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Der prüfende Blick meiner Schwester, beim Entree, gab mir das Gefühl, sowohl mit dem Lippenstift die Konturen verfehlt, als auch vergessen zu haben nach dem nachmittäglichen Relaxen im Bett meine blondierten Struwwelpeter-Zotteln in Ordnung zu bringen. Am Ende ihrer Beschau kam sie zu dem für mich aufbauenden Schluss: „Du siehst verknittert aus. Als hättest du die Nacht durchgemacht.“
Ihre Worte lösten einen Schluckeffekt in mir aus. Schluck. Ich dachte an die zurückliegende Firmen-Weihnachtsfeier, die sich zwar nur bis Mitternacht ausgedehnt hatte, jedoch mit viel zu vielen Promille. Gut, akzeptiert. Denn so falsch tippte sie nicht, mit der Einschätzung meiner Person. Reiner Großmut, zu dem mir meine esoterischen Kenntnisse verholfen hatten, die lehrten, aus allem nur das Positive heraus zu hören.
Im Esszimmer angekommen umarmte mich Schwager Bernd mit brüderlichem Kuss. Einen guten Geschmack besaß sie, meine Schwester, was Männer anging, das musste ihr der Neid lassen. Bernd überragte mich um eine halbe Kopflänge, außerdem war er sehr schlank. Warum kam ich mir neben ihm eigentlich immer dicker vor, als ich wirklich war? Seine grauen Schläfen machten ihn unheimlich interessant, während ihn seine vollen Lippen sinnlich wirken ließen. Als Notar mit eigener Kanzlei sowie genug Klienten am Hals bot er meiner Schwester ein versorgtes Leben. Eines, das sie sich für mich auch wünschte, erklomm die dunkel drohende Ahnung in mir, als ich einen weiteren Mann im Zimmer wahrnahm. Claudia entgingen meine gestrengen Falten über meiner Nasenwurzel nicht. Mein vorwurfsvoller, alles durchschauender Blick traf sich mit ihrem. Sie reagierte schnell. Zu schnell. Und viel zu melodisch für meine Ohren verlautbarte sie: „Stell dir vor Verena, Herr Klappe, ein ehemaliger Studienfreund von Bernd, versäumte den Zug ...“
Kurz und so unauffällig wie möglich rümpfte ich die Nase. Ja, ja, so ein Zufall, dachte ich, den Fremden nochmals in Augenschein nehmend. Der lächelte freundlich und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. „Guten Abend, Klappe, Heinrich Klappe.“
Ich war ... sprachlos, vergaß zu antworten und glotzte ihn ungeniert an. Es war die Klappe - Verzeihung - der Mund von Herrn Klappe, der mich faszinierte. Seine Mundpartie erinnerte mich an irgendjemanden. Schon fiel es mir ein. Natürlich. An einen Biber. Da stand er leibhaftig vor mir, mit gelben Bibervorderzähnen, wie sie ausdrucksvoller nicht hätten hervorstehen können. Magisch angezogen von dieser Pracht vergingen weitere Sekunden, in denen die Faszination mich stumm überwältigte. Bis mich meine Schwester aus meiner komischen Verzückung riss, mich sanft anstieß und stumm, mit vielsagendem Blick mahnte. Wodurch ich schließlich wieder in die Welt der bewusst lebenden zurückkehrte.
„Oh.“ Ich lachte verlegen, „hm, ja“. Streckte meinem Gegenüber ebenfalls die Hand hin, die er sofort ergriff und heftig, sowie ausgiebig schüttelte. Immens erfreut.
„Sie dürfen sie ruhig wieder loslassen.“
Nicht auf meine Worte reagierend, fixierte er mich mit einem Lächeln, das mich penetrant ans Zähneputzen erinnerte. Und an Zahnweiß.
Das nicht enden wollende Hände schütteln verlockte schließlich, mich gewaltsam loszureißen. Als ein plötzlicher Niesanfall meinerseits dem zuvorkam, ließ er ruckartig - zum Glück nach meinen Wünschen - endlich von mir ab. Er hätte ja auch erschrecken, mich reflexartig an sich ziehen und mir in seinen Armen liegend „Gesundheit“ wünschen können. In diesem Fall tat er das auch. Aber mit genügend Abstand dazwischen.
„Das Wetter“, erklärte ich an ein Taschentuch denkend und nicht zur Hand habend. Stinksauer setzte ich mein charmantestes Lächeln auf. Dann fasste ich meine Schwester am Arm und zog sie, uns entschuldigend, in die Küche daneben, wo die bereits gezündete Zündschnur in mir, die fällige Explosion entfachte. „Bist du noch zu retten?“
Wenn ich als älteres Semester die restliche mir verbleibende Zeit auf Erden allein lebte, so deshalb, weil ich sie allein leben wollte! Und kein Mensch würde mir weismachen können, dass ich dadurch Gefahr lief, irgendetwas zu versäumen. Zu derartig dringenden Fällen zählte ich nicht.
„Was du wieder denkst. Er ist hier, weil er den Zug verpasste.“
„Das zu glauben grenzte an Naivität, Schwesterherz und aus den naiven Jahren bin ich raus.“
„Diesmal tust du mir unrecht, Verena. Ich hab doch Augen im Kopf. Dieser Mann mag zwar das richtige Ding zwischen den Beinen haben, aber für eine Frau ist es nur die Hälfte wert, wenn sie es bloß im Dunkeln gebrauchen kann.“
Okay. Ihre Worte hatten etwas Überzeugendes für mich und trugen dazu bei, mein überschwapptes Gemüt zu besänftigten. Jedoch ein Rest in mir blieb auf der Hut. „Dein Glück“, versprach ich, „sonst hättest du ihn zum nächsten Geburtstag in Seidenpapier eingewickelt von mir als Geschenk bekommen.“
Claudia lachte. „Hätte mich auf ewig von den Männern kuriert.“
„Lieber würde ich dich von deiner Kuppelsucht kurieren.“
Claudias Miene wurde schlagartig ernst. „Sag, merkst du nie, wenn man nur dein Bestes will?“
Ich rang die Hände. „Lass deinen Mutterinstinkt an deiner kleinen Silvana aus. Oder schaffe dir ein zweites Kind an, an dem du dich austoben kannst.“ Eine Mutter, nämlich meine Mutter reichte mir. Na gut. Solange der Biber nicht zu Claudias Kuppel-Favoriten zählte, war ich bereit, ihrem Spleen gegenüber milde zu zeigen. Zwangsweise. Denn bevor sie sich änderte, würde das Bild der Mona Lisa im Louvre versteigert, und der Erlös den Obdachlosen gespendet werden.
Bernd erschien auf der Bildfläche. „Mir liegt es fern zu drängeln“, meinte er, „aber wir haben einen Gast.“ Er deutete mit dem Daumen in Richtung Wohnzimmer.
Noch hatte es sich nicht herauskristallisiert, aber der Biber war zum Schießen und im Geschichtenerzählen ein wahrer Meister. Nie vorher hatte ich so dermaßen herzhaft gelacht. Und so viel. Dabei bekam die Sympathie Flügel, sie flog von mir zu ihm. Im Lauf des Abends tauschten wir sogar unsere Telefonnummern aus. Dorner, das Überwachungsorgan, mit seinen krassen Zurechtweisungen rückte in die Tiefen meines Unterbewusstseins und verharrte dort ... bis Montag.
Kapitel 2
Wäre es sinnvoll, die Wochentage nach Noten zu beurteilen, bekäme der Montag von mir eine Fünf. Auch würde er eingeteilt in die Kategorie „völlig überflüssig“. Aber da der Montag als umsatzträchtiger Bonus und als nicht verzichtbare Sitte der Geschäftswelt galt, kam kein Lohnabhängiger darum herum, den regelmäßigen Sprung von der sonntäglichen Freiheit in die wochenturnusmäßige Abhängigkeit zu machen. Auch ich nicht. Ein Sprung, der einer eiskalten Dusche glich. Und wenn man den Schock dieser Dusche einigermaßen verkraftet hatte, dieser Tag dann seine unsympathischen Fühler ausstreckte, um einen zu orten und die Worte um die Ohren zu schleudern: „Frau Starz, ins Büro bitte“, konnte mir dieser Tag erst recht gestohlen bleiben. Aber der Meister hatte das Sagen. So riss ich mich von meinen Obstregalen los, um mich folgsam in das Zentrum der „Macht“ zu begeben. Es war mir nicht klar, was auf mich zukommen würde, jedoch befürchtete ich, was ich insgeheim ahnte. Umso mehr verbannte ich diesen unwillkommenen, hellseherischen Blitz aus meinen Gedanken und versuchte mich auf die Situation neutral einzustellen.
„Bitte setzen Sie sich.“
Dorner gab sich sachlich. Abwägend ob das gut oder schlecht für mich wäre, beschloss ich abzuwarten. Er ließ sich mir gegenüber nieder. Sein mehrmaliges Räuspern schien meiner Meinung nach kein gutes Zeichen zu sein. Einen Kugelschreiber zwischen den Fingern drehend, lächelte er mich unentwegt an, was mich stutzig werden ließ. Sein durchdringender Blick sagte viel, jedoch nichts Bestimmtes. Zumindest nicht für mich - in meiner Situation.
„Frau Starz, Sie können einen wirklich überraschen.“
Seine Worte erinnerten mich instinktiv an das Sprichwort: Stille Wasser sind tief. Ob er das damit gemeint hatte? Während es mir gelang meinem Gesicht ein entspanntes, unschuldiges Aussehen zu geben, verkrampfte sich meine übrige Muskulatur. Als läge ich in einer Zitronenpresse, worin man mich erbarmungslos ausgequetschte. Unwillkürlich hielt ich den Atem an, um dieses ungemütliche Gefühl zu schlucken und es auf Nimmer-wieder-Spüren zu verdauen. Leider gelang es nur bedingt. Ich für meine Person liebte ja Überraschungen - manchmal ...
„Verstehen Sie mich nicht falsch, ... äh, ... ich meine, ... äh, nach Ihrem Auftritt am Samstag überlege ich, ob Sie ... äh ... den Anforderungen einer führenden Position gewachsen sind.“
Oh, Mann. Meine am Wochenende so brillant verdrängten Befürchtungen erschienen auf der Bildfläche, wie gerufene Gespenster. Hatte ich sie unbewusst visualisiert und sie sich deshalb manifestiert? Keine Zeit, darüber nachzudenken. Unerlässlicher schien mir, mein sinkendes Boot aus dem Wasser zu ziehen, bevor es endgültig unterzugehen drohte. Unmerklich jagte ich nach überzeugenden Argumenten. Endlich fiel mir ein: „Einen ungetauften Kahn darf man nicht so schnell untergehen lassen, Herr Dorner.“
Scheinbar irritiert überging er meine Worte, als wären nie welche über meine Lippen gekommen. „Immerhin ... äh ... verkörpern Sie Ihren Mitarbeiterinnen gegenüber eine Respektsperson ...“
Nach einem solch tief greifenden Leitsatz begriff ich in Sekundeneile, dass ein Joker her musste, um Dorner den Wind aus den Segeln zu reißen, damit er letztendlich nicht in einen Orkan ausartete. Rasch kleidete ich den Joker in die Worte: „Sie haben vollkommen Recht.“
Mich wurmte es gehörig, aber insgeheim blieb mir nichts anderes übrig, als zuzugeben, so falsch lag er nicht mit seiner Anschauung. Schon am Morgen ging es mit den Anspielungen der Kolleginnen los, zusammen mit ihren vielsagenden Blicken, die ich bewusst überhörte und übersah. Doch als der Fleischhauer dazukam und einen Boogie pantomierte, ließ sich das Gegröle der anderen nicht mehr unterbinden. Und als der Titel „Überwachungsorgan“ fiel, purzelte ich endgültig aus jener Scheinwelt, die ich mir am Wochenende als so eine Art Schutzbunker ersonnen hatte. Und die Hoffnung, dass alles unausgesprochen im Sand verlaufen würde, purzelte mit. Dorners Worte schlugen meinem Stolz eine tiefe Kerbe. Mein Selbstvertrauen machte in Anbetracht der prekären Lage keinen wünschenswerten Fortschritt. Daher gab ich meiner Würde Nahrung und schlug ihm vor, was ich als bestehende Tatsache sowieso auf mich zukommen sah.
„Wenn Sie es wünschen, dann ist eben der Letzte der Erste für mich, mit anschließender Kündigungszeit.“
Dorner stutzte. Er wirkte, als hätte ihn diese Mitteilung überrumpelt. „Moment, so ... äh ... war das ... äh ... war das nicht gemeint. Wo soll ich so plötzlich einen neuen Abteilungsleiter hernehmen?“
Ich erhob mich. Für mich war unsere Unterredung beendet. Meiner Meinung nach bauschte er das vorweihnachtsfeierliche Vorkommnis viel zu viel auf. Die Leute vergaßen schnell und würden sich wieder beruhigen.
Er kratzte sich am Kopf. „Schätze, die Leute werden sich bald wieder beruhigen“, sagte er. Aha. Welch weise Worte aus dem Munde des Meisters. Zwei Herzen und ein Gedanke. Das grenzte ja an eine Schnulze für ein Gedicht oder einen Liebesfilm. Mit Dorner als Romeo? Schreckliche Vorstellung.
(Wellenartige Signale zwischen Männlein und Weiblein rühren tagtäglich die menschliche Chemie, was spürende Sympathie oder Antisympathie ergibt. Eine Tatsache, mit der wir uns täglich auseinanderzusetzen haben - bewusst oder unbewusst. Wenn die Chemie stimmt, ergeben sich selten Reibungspunkte. Dazu ist man gern bereit, das Niveau der miteinander führenden Gespräche intimer werden zu lassen.)
Nun … zwischen Dorner und mir stimmte die Chemie nicht.
„Es ist nur ... äh ..., von dieser Seite kannte ich Sie bisher nicht.“
Augenscheinlich ergeben nickte, doch innerlich kochte ich, dennoch bemühte ich mich um Sachlichkeit. „Verstehe, was Sie meinen. Als Führungskraft sollte man kein Privatleben haben.“
Wieder dieser irritierte Blick von ihm und keine Antwort. „Personalführung verlangt Bodenständigkeit, Disziplin sowie ein Muster an Beispielhaftigkeit, ist Ihnen das klar?“
Ja, wen glaubte er denn, dass er vor sich hatte? Seine minderjährige Tochter, die in ihrer Erziehungsphase einen beträchtlichen Schubs brauchte, damit sie nicht vom rechten Weg abwich? „Herr Dorner, es tut mir leid, wenn ich in Ihrer Achtung gesunken bin, nur weil ich den Mut hatte, mich auf der Weihnachtsfeier zu amüsieren. Und nicht, wie die meisten, steif und verkrampft den Abend auf dem Stuhl zu sitzen und sich zu langweilen. Aber in meiner Freizeit benehme ich mich, seien Sie mir bitte nicht böse, wie ich es will.“
Weil es wahr war. Ich war jederzeit bereit, mich für die Firma einzusetzen, trotzdem gehörte ich immer noch mir. Wenn er von mir verlangte, meine Persönlichkeit aufzugeben, um dem geheiligten Ansehen des Marktes gerecht zu werden, dann sollte er sich seinen Abteilungsleiterposten gefälligst an den Hut stecken.
„Einverstanden?“
Es steckte ein Frosch in meinem Hals, der mich zwang, mich zu räuspern. Rena, du solltest dich wirklich zusammenreißen und dich mehr konzentrieren! Den Faden hatte ich jedenfalls, wie man so schön sagt, verloren, dazu nicht den blassesten Schimmer, wovon mein Gegenüber zuletzt gesprochen hatte.
„Ich will noch die Gelegenheit wahrnehmen Ihnen zu sagen, dass heute Nachmittag ... äh, eine Besprechung mit allen Abteilungsleitern stattfindet. Wir behandeln das Thema Kundenzufriedenheit ... äh ... Freundlichkeit und ... äh ... Umsatzsteigerung. Können Sie die benötigten Zahlen bis dahin errechnen?“
Nickend ärgerte ich mich. Warum er diese Besprechungen immerfort montags abhalten musste, wo wir vor Arbeit nicht wussten, wo uns der Kopf stand, wusste der Himmel.
„Bitte um pünktliches Erscheinen um ... äh ... ja, um 15 Uhr.“
Sein Gesichtsausdruck erlaubte, meine Arbeit wieder aufzunehmen. Die Zeit lief davon, deshalb hieß ich das mehr als rechtens. Schon im Begriff mich abzuwenden, hielt er mich mit den Worten zurück. „Frau Starz?“
Schon befürchtete ich: Noch eine Rüge?, und drehte mich um.
„Die Stelle des Bezirksleiters wurde ... äh neu besetzt“, (also keine Rüge) „er erscheint in den nächsten Tagen bei uns im Markt ... lerne ihn dann selbst erst ... äh ... kennen. Weiß daher nicht, auf welche Arbeitspunkte er besonderen Wert legt.“
Ja und?
„Ich verlass mich auf ... äh Sie, dass alles in ... äh Ordnung ist, wenn er eintrifft.“
Selbstverständlich. Es war halb acht. Wenn ich aus dem Meisterkäfig blickte, von wo die Obstabteilung gut übersehbar war, entging mir nicht, dass meine Kolleginnen Mühe hatten, die Regale bis Geschäftsbeginn in Ordnung zu bringen. Ich stand wie barfuß auf Brennnessel.
„War es das?“
Er schien verlegen. „Das vorhin ... äh ... die Kündigung, habe ich nicht gehört, verstanden?“
Ja, das war wieder höchst voreilig von mir gewesen. Eine meiner Schwächen, an denen ich noch zu arbeiten hatte. Nicht auszudenken, wenn er die Kündigung angenommen hätte, bei dem miesen Jobangebot heutzutage. Gottlob führte er mich galant über die selbst angesägte Brücke, ohne dass ich irgendwelchen Schaden erlitt. Erleichtert platzte es aus mir heraus: „Sie konnten nichts hören, ich hab nichts gesagt ...“
Kaum den Verkaufsbereich betreten, bombardierten mich aus den Mündern meiner Mitarbeiterinnen folgende Vokabeln. „Platzieren wir die Champignons breitflächig? Wir haben eine volle Palette bekommen. Wohin kommen die Radieschen und der Jungzwiebel? Soll ich mehr als vier Tassen Gemüse schneiden?“
Schon einigermaßen routiniert erfolgten meine Anweisungen.
„Die Champignons kommen auf den Tisch mit der Aktionspreislatte. Den Jungzwiebel schlichten wir ins Regal und die Radieschen in die Schräge. Veronika, du weißt, geschnittenes Obst- und Gemüse müssen wir in einheitlichen Reihen in der Stolpertruhe platzieren.“
„Natürlich. Dachte aber, vielleicht sollte man diesmal von einer Sorte mehr schneiden?“
„Eine Reihe genügt. Wenn noch Platz ist, schneide zusätzlich Gurken. Davon ist ein Überhang da.“
Unser Markt bot nicht nur frisches, sondern auch vorgeschnittenes Obst und Gemüse für Köchinnen in Zeitnot zum Kauf an, was manche dankbar annahmen.
Nachdem die Regale mit frischer Ware fertig bestückt waren, ging mein Stolz mit mir durch. Die abwechselnden Farbreihen in Rot, Grün, Gelb und Weiß in der Schräge, stachen malerisch in die Augen. Außerdem nötigten sie, zuzugreifen. Der vollstehenden Absicht dahinter wurde somit genüge getan. Zufrieden widmeten wir unsere Aufmerksamkeit nun dem entstandenen Müllberg und entfernten ihn. Die leeren Kartons endeten in der Hubpresse, die Obst-Einsatzkisten für den Lieferanten zur Abholung auf der Laderampe, die welken Blätter der Salate vom Vortag, sowie alles andere Verdorbene landete in der Biotonne. Anschließend kontrollierte ich die Preisauszeichnungen. Für jedes Produkt, der richtige Preis. Eine Grundklausel vom Arbeit- und Gesetzesgeber, die selbstverständlich für mich war. Durch den täglichen Arbeitsbeginn um sechs Uhr früh kamen wir bisher alle nicht zum Frühstücken. Deshalb huschte ich zwischendurch ins innenliegend angrenzende Restaurant, um für meine Mädels und für mich eine Tasse Kaffee zu besorgen, was sie mit Lobgesängen honorierten. Meist rief mich um neun die Büroarbeit. Sei es, um Reklamationen an die Lieferanten zu übermitteln, die Preisplakate wegen der falsch angegebenen Herkunftsländer richtigzustellen oder um die verschiedenen täglichen Bestellungen unter einen Hut zu bringen. Geschweige denn vom Ausrechnen der Umsatz- und Mankozahlen, die der Chef um fünfzehn Uhr vorgesagt bekommen wollte. Montags verlangte die Obstwaage, zwecks neuer Preise, kontrolliert, so wie mit allen saisonbedingten Neuwaren programmiert zu werden. Bei preisgeänderten Stück-Artikeln war es erforderlich, die aktuellen Preise auszudrucken und hinterher an den Regalen zu stecken. Sortimentsneue Artikel wurden zur Kontrolle an der Kassa ausprobiert, ob der Verrechnungscode funktionierte. Für die Blumen, ob echt oder nicht, die ebenfalls zum Sortiment der Abteilung gehörten, war ein dekorativer Aufbau unverzichtbar, besagte die Verkaufsklausel. Denn: Je dekorativer der Aufbau, desto höher der Umsatz. Bei einigen Artikeln flutschte der Kassacode nicht, die erstrebten eine Kassaübermittlung. Die Putzmaschine zog auf dem hellen Fliesenboden schwarze Streifen, sodass wir gezwungen waren, händisch zu putzen. Luft holten wir erst ... irgendwann ... Und als in dieser Zeitphase Hildtrud fragte: „Wann zeichnest du den Einsatzplan für kommende Woche?“, rief ich noch gelassen: „Mittwoch.“ Doch als gleich darauf Veronika ihren Sommerurlaub von mir bestätigt und abgesegnet haben wollte, schrie ich: „Hilfe!“ Aber nur innerlich. Denn als Abteilungsleiter musste ich Stärke zeigen. Sowohl Flexibilität, Gewandtheit, Belastbarkeit und auch Domäne. Dass dabei die nach außen reflektierende Weiblichkeit verloren ging, war kein Weltuntergang für mich. Männliche Chefs in Führungspositionen wurden von den Mitarbeitern sowieso ernster genommen.