Читать книгу Nun muss ich Sie doch ansprechen - Monika Stocker - Страница 9

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Guten Tag, Herr Escher

Ich hoffe, Sie haben nach wie vor die Übersicht

Der Platz ist ja ausgezeichnet gewählt

Sie stehen so quasi an bester Adresse

Weltweit gesehen

das müssen Sie wissen

Zu Beginn oder am Ende – das ist Ansichtssache – der Bahnhofstrasse

Das ist Toplage

Würde man Ihren Standort kapitalisieren

und das machen wir eigentlich jetzt überall und immer

Sie wären nicht mehr da

Sie wären nicht mehr zu finanzieren

Und rentieren würden Sie ja sowieso nicht

Einfach nur dazustehen war ja auch nicht Ihre Art

Das ist erst nach dem Tod so verfügt worden

Sie waren ein Macher

ein Entwickler

ein moderner Mensch

Ihnen war kein Hindernis zu aufwendig

keine Distanz unüberwindbar

Sie haben durchdrungen

überwunden

geplant

gebaut

Sie wollten eine offene Schweiz

Eine Transitschweiz auch

Da sollte die Welt verkehren

hinkommen, durchreisen

dableiben

Sie hatten wohl, was man heute eine Vision nennt

Und haben dafür investiert und gearbeitet

Heute ist in Ihrem Rücken der Hauptbahnhof

und Sie hören

und spüren ja wohl auch

die Erschütterungen aus dem Untergrund

Wir bauen nämlich weiter

Neue Transitlinien

Neue Möglichkeiten

Schneller muss es auch werden

Ich nehme gern an, dass Ihnen das gefällt

Ich würde mich schon gern mit Ihnen unterhalten

darüber, wie Sie die Situation einschätzen

hier und heute

Sie haben ja nichts mehr zu lachen

bei diesen Bodenpreisen an der Bahnhofstrasse

Sie beobachten ja

es kommen nur noch Filialen internationaler Geschäfte

in Ihre Nähe

Stinkt Ihnen das?

Man munkelt

dass Sie nachts auch schon mal

vom Sockel herunterstiegen und bis zum Paradeplatz spazierten

Dort hätten Sie die Börsenkurse studiert

die im Fenster hängen

und den Kopf geschüttelt

Ja, Sie seien sogar bis zu Ganymed gegangen

und hätten sich mit ihm, dem Träumer

unterhalten

Worüber denn? Das interessiert mich schon

Haben Sie philosophiert über das Machen und das Sein

das Haben und das Sein

die Grenzen und den Wahn

die Lebensqualität und die Lebensquantität?

Ich meine, bei Ihnen liegen ja diese Themen drin

Sie waren nicht nur der Macher

Sie waren auch ein Mahner

Manchmal mindestens

Das steht Ihnen heute nicht gut

Herr Escher, Sie sind zweihundert Jahre bald über Ihrer Zeit

da bringt man leicht die Zeiten durcheinander

vergisst, was gestern war und morgen möglich ist

Sie haben – so meinen die, die das Sagen haben – da nichts mehr zu sagen

Sie sollen kürzlich nächtlicherweile gerufen haben

dass es früher schon klarer gewesen sei

wer wohin gehöre

wer mit Arbeit reich werde

und wer nur mit Spekulation

und wer es wirklich verdiene

dazuzugehören

und wer auf einem Sockel enden werde

und wer nur auf den faulen Papieren

Sie hatten ja auch einen staatspolitischen Standpunkt

Sie wollten einen Staat

der den Rahmen gibt

den man gestaltet

der Marken setzt

und Sie engagierten sich sogar dafür

Heute ist das out

Sie hätten Ihre liebe Mühe

Wenn Sie mit solchen frei-sinnigen Ansätzen

noch kommen wollten

um sich Gehör zu verschaffen

Leute, die sich wie Sie für Macher halten

schaffen den Staat ab

Reduzieren ihn auf ein Nullnümmerchen

Gehen in die Politik

um genau das zu erreichen

Sie haben ja auch einen gewissen Ausblick auf die Finanzdirektion ennet der Limmat

Sie haben einen gewissen Blick schräg hinüber aufs Rathaus

Und Sie kennen die Damen und Herren

die mit ihren Köfferchen auf den Schnellzug nach Bern eilen

Flüstern Sie ihnen manchmal etwas ins Ohr?

Werden Sie nicht gehört?

Schauen Sie deswegen manchmal so streng von Ihrem Sockel herunter?

Letzthin soll einer zu Ihnen gesagt haben:

Also bleib auf deinem Brunnen

Ausgerechnet Ihnen

das habe Sie sehr getroffen

Ich mache Ihnen ein Kompliment

Am besten gefallen Sie mir im tiefen Winter

Wenn zu Ihren Füssen das Wasser zu Eis wird

sich kleine Kristallfäden entwickeln

eine wundersame Gestalt von unsichtbarer Hand aufgebaut wird

nein – nicht die unsichtbare Hand des Marktes

wie Adam Smith sie zelebriert hat

und wie sie heute wider besseres Wissen ununterbrochen angerufen wird

wie St. Florian

Nein, in so bitterkalten Winternächten

da scheinen Sie mir zu träumen

von jenem andern Leben

das es gibt

und das nicht machbar ist

aber wunderschön

und ich meine

Sie zwinkern mir zu mit dem einen Auge

und lächeln gar

Nun muss ich Sie doch ansprechen

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