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Kapitel drei

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I

Vom Konzentrationslager Majdanek hörte ich schon vor Monaten. Schon zu der Zeit, als dort das provisorische Ghetto der Lubliner Juden war. Später gingen in allen Lagern entsetzliche Gerüchte um, was in Majdanek geschah. Es sei kein »normales« Tötungslager − vor so etwas erschrak man schon gar nicht mehr − sondern etwas, das noch mehr war als Tod, noch mehr als Folter. Und was man von denen hörte, denen es gelungen war, von dort zu entkommen, überstieg in der Tat alle Vorstellungen. In den Gesprächen, die wir im Lager unter uns führten, waren wir uns deshalb immer einig, dass wir uns nicht lebendig nach Majdanek bringen lassen würden. Wenn es mir beim ersten Mal, vor 16 Monaten, auch gelang zu fliehen (davon an anderer Stelle), so war ich diesmal hilflos und psychisch am Boden. Die erstbeste Bewegung hätte im jetzigen Augenblick im Übrigen den sicheren Tod bedeutet. Es blieb nur abzuwarten, was die Zeit bringen würde. Ich bemühte mich, kühl und vernünftig zu bleiben. Man musste jede Minute sorgfältig abschätzen. Die Möglichkeiten jeder Chance tiefer ausloten und erkennen, wann man eine günstige halbe Sekunde ausnutzen kann. Wachsamkeit!, schrie der disziplinierte Lebensinstinkt jedem einzelnen Glied zu. Das war der einzige eigene Befehl, dem man noch gehorchen konnte.

Die Autos hielten auf einem Berg an. Man konnte sehen, wie es dort weiter vorn, in der Niederung, zwischen den verschiedenen Drahtnetzen vor Menschen wimmelte. Sie führten und schleppten verschiedene Lasten und Gepäckkarren auf schmalen, eisernen Schienen bergauf. Der erste Gedanke, der einem in den Kopf kam, war:

Menschen leben hier ja! Man arbeitet!

Die Erfahrung der Jahre in den Lagern hat bewiesen, dass das Arbeiten unter schwersten Bedingungen auch gewisse Chancen mit sich bringt zu leben. Leben! Das man doch so sehr begehrte. Teuer war doch jedes Stückchen freie Luft, jeder Schritt auf nicht stolpernden Füßen. Niemals hätte man doch vermutet, wie viele geheime Genüsse in jeder Sekunde des Lebens verborgen liegen. Es gab Minuten, Stunden und Tage aus Furcht und Wahnsinn, in denen du erstarren wolltest, um gar nichts mehr zu fühlen. Oftmals standest du tagelang mit gebeugtem Rücken und schmerzenden Gliedern und wartetest, dass jemand dir den Tod brächte. Dann aber richtetest du dich für ein paar Minuten auf und du spürtest, wie viel Glück in einem Atemzug reiner Luft liegt, wie viel süße Kraft ein aufrechter Schritt geben kann. Eine Stunde ruhig und ausgestreckt auf einem harten, verführerischen Bett liegen − und du fühltest, wie das Leben dich in einen geheimnisvollen Raum führte, sich vor dir entblößte und dir die Reize zeigte, die in jedem Fingerchen verborgen lagen.

Ein Bissen Brot nach einem langen Hungertag bewies dir, welcher Lebensreichtum und welche Labsal in jedem Gegenstand stecken, der im Leben in Freiheit gar nicht wahrgenommen wird. Leben!, dachtest du, unbedingt leben! Denn jetzt weißt du schon, wie man jede Minute nutzen kann, dieses wunderliche Elixier aus dem kleinsten Brocken zu ziehen. Ein Leben in Freiheit? Wer kann es denn verstehen? Wer hat denn eine Ahnung, wie das zu genießen ist?

So sehr man auch schon verkümmert war, fühlte man doch, wie stark man mit dem Leben verbunden war, wenn man die letzten Minuten vor Augen hatte. Noch fünf Minuten leben, dachtest du oft, und in jeder Sekunde konntest du die Weiträumigkeit der Umgebung einsaugen, konntest den Himmel, ein Haus, einen rosafarbenen Stein sehen. Jeder deiner Sinne begriff erst damals, wie schrecklich groß das Glück ist, das in den Falten jeden Augenblicks vibriert.

Das Leben unter den schauderhaftesten Sklavenbedingungen konnte nie gänzlich verabscheuungswürdig werden, denn umso mehr der Tag dich peinigte, desto größer wurde das Glück der Stunde Ruhe in der Nacht, desto mehr gab dir die halbe Stunde, in der du dich in einen Winkel setzen konntest, an nichts mehr denken musstest und von niemandem gestört wurdest.

Der schwerste Tag von Pein wurde versüßt, wurde berauscht und trunken gemacht durch den bloßen Gedanken, dass zur Nacht, aber ja, zur Nacht, du ein Stückchen Brot bekämest. Deine Fantasie stellte sich vor, wie du es ruhig kauen würdest, bröckchenweise. Wie jeder Bissen sich gesondert in unruhiger Freude auf alle Glieder verteilen würde. Und später, viel später würdest du deinen müden Körper in deine Ecke schleppen, dich hinaufziehen auf ein hartes Bett, um dich herum würde es dunkel sein und niemandes Blick dich schrecken können. Deshalb wirst du deine Beine frei ausstrecken, deine Arme auf die Seite legen, wohin du willst, und alle Glieder werden in Tränen ausbrechen über das stundenlange Vergnügen und du …

Wer sollte denn nicht erzittern beim Erkennen einer halben Chance auf Hundert, weiterleben zu können. Weitere ganze Tage gebrochen zu sein, doch auch in diesem Gebrochensein, in diesem Sich-Ducken das Entzücken des Wartens zu spüren und sich bewusst zu sein, dass du dich mit jeder Minute jener glückseligen Stunde näherst, in der du den Mund öffnen wirst und ein frischer Luftstrom sich in dich hineindrängen wird.

Ein kleiner Brocken Hoffnung war in der Lage, dich zu verzaubern, die ganze Seele umzukrempeln. Ein Hauch mehr Bequemlichkeit lockte mit so vielen Versprechungen, liebkoste das Blut so wohlig, dass man oft bereit war, mehr zu geben als man besaß, um noch eine Minute, noch einen Augenblick Leben zu bekommen. Nur Leben? Nein! Es war mehr als das, was die gewöhnlichen Sinne unter diesem Wort verstehen.

Deshalb sollte man versuchen, zu verstehen, was dieser kleine wiederaufglimmende Docht Hoffnung vor den Toren von Majdanek bedeutete.

Schon allein der Marsch bis zum Tor, als Beine und Rücken sich wieder strecken konnten, als der Körper nicht mehr zwischen anderen Körpern eingeklemmt war, als man wieder dahinschreiten konnte, bewies, wie viel Wunderbares jeder Moment in seinem Schoße trägt, von welcher Gnade du in vollem Maße schöpfen kannst. Wen störte es denn, dass an deiner Seite bewaffnete Uniformen liefen und dir deine Schritte bemaßen, wenn du spürtest, dass in dieser minutenlangen gestreckten Haltung jeder Schritt in dir sang.

Ein Tor nach dem anderen öffnete sich. Schlammige Adern zogen sich in alle Richtungen. Ein Meer von Drahtzäunen grenzte Luft von Luft ab und unterteilte die Welt in große viereckige Kästen. Überall standen Baracken und schauten mit den Augen ihrer kleinen Fenster sehnsüchtig durch die Drähte. Keine Menschenseele war zu sehen und es hatte den Anschein, als habe man hier leere Baracken eingesperrt.

Man begann, uns durch krumme, abgeschirmte Wege zu treiben. Alle paar Minuten öffnete sich eine Drahttür und schloss sich wieder. An allen Seiten standen verschiedene Gebäude und warnten mit erschrockenem Ton leise durch ihre Wände flüsternd. Schließlich sahen wir einen riesengroßen nackten Platz. Tausende erschrockener Menschen lagen dort haufenweise, ausgestreckt auf der Erde oder liefen verzweifelt umher von einem Ort zum anderen. Bis zur Tür gingen wir mit ruhigen, geordneten Schritten. Aber als die Tür sich öffnete, wurden wir hineingestoßen ins Chaos und verschmolzen mit dem menschlichen Ameisenhaufen. Ein Blick zurück machte uns schnell klar:

Wir sind eingesperrt!

II

Die Frauen hinter uns teilte man gesondert ab. Für sie gab es einen speziellen Sammelpunkt. Mehr als nur eine Frau hatte ihren Mann in den vorderen Reihen, einen Geliebten aus Lagerzeiten, oder einfach das einzige vertraute Gesicht, das ihr noch von früher geblieben war. Als sie die letzte Minute der Trennung kommen sahen, rissen sie sich wild schreiend aus den Reihen los und warfen sich zu Boden. Die Männer spürten instinktiv, wer da schreit und versuchten mit all ihren schlummernden Kräften zurückzubleiben, um nicht auf den leeren, abgeteilten Platz gestoßen zu werden. Zig Frauen mit zerschlagenen, blutigen Gesichtern und zerzausten Haaren kämpften sich zu ihren Männern durch und umklammerten sie, sie versanken noch einmal im anderen, als glaubten sie, dass noch ein Wunder geschehen könne und sie so zusammenwachsen würden, dass keine Macht sie mehr trennen könne. Die wenigen Kinder, die es geschafft hatten, bis jetzt im Lager zu überleben, stolperten hinter ihren Müttern her und hielten sich stumm und erschrocken an ihren Kleidern fest. Die SS aber ging schnell dazwischen und schlug auf ihre Köpfe ein, bis das Unglaubliche geschah und die Körper sich voneinander lösten. Die Menschen waren schon nicht mehr bei Sinnen, nur die Schläge zeigten ihnen, in welche Richtung sie sich zu bewegen hatten. Bald bildeten sich zwei riesige, formlose Gruppen, die aussahen wie ein mächtiger, zweigeteilter Organismus.

Auf dem Platz, wo wir uns befanden, waren schon Tausende zusammengetriebener Juden. Sie lagerten müde und schauten mit getrübtem Blick in den Himmel. Eine kleine Gruppe war noch gesprächig und aktiv. Von ihnen erfuhren wir, dass es bis vor einigen Tagen noch Juden in der Gegend um Międzyrzec und Biała und im Siedlcer Kreis gegeben hatte. Vor drei Tagen hatte man sie in der ganzen Gegend eingesammelt, hierher gebracht und auf diesen Platz geführt. Auch bei ihnen hatte man die Frauen abgesondert. Und so warteten sie schon den dritten Tag. Sie erfuhren, dass dies ein besonderer Fall sei, denn gewöhnlich wurde man hier schnell ins »Bad« geführt. Aber genau in dieser Woche war ein größerer Transport Juden angekommen, und mit denen war das »Bad« ausgelastet. So lagerten und warteten sie schon den dritten Tag ohne einen Bissen zu essen und ohne Wasser.

Nachts hatte es schon etliche Male geregnet und alle wurden durch und durch nass. Es gab ein paar umsichtige Leute, die Bettwäsche und Essenspakete mitgeschleppt hatten, für alle Fälle. Es waren die Optimisten, die gern Vorkehrungen trafen. Jetzt legen sie sich in den Dreck, decken sich mit dem Bettzeug zu und überleben die Nacht. Am Morgen ziehen sie ein Stück zerdrücktes Brot aus einem Beutel, der auch als Kissen dient, und bleiben auf diese Weise am Leben. Schlecht geht es denen, die geglaubt haben, man führe sie gleich in den Tod. Sie haben deshalb gar nichts mitgenommen. Sie fallen bei Nacht hungrig und müde auf die feuchte, matschigdurchweichte Erde und fühlen, wie die nächtliche Kälte sie in jeder Minute wie mit Spießen sticht.

Am ersten und zweiten Tag waren sie wild vor Hunger. Es gab unter ihnen auch solche, die sich im Zorn auf diejenigen warfen, die noch etwas in ihren Beuteln hatten; aber sie waren zu schwach gegenüber denen, die noch zu essen hatten und mussten deshalb resigniert und müde nachgeben. Jetzt liegen sie hilflos da, ohne den Wunsch, noch einmal ihr »Glück« zu versuchen, und ohne den geringsten Willen, noch einmal einen Blick auf die Welt zu werfen.

Die, die noch etwas zu essen haben und ein Päckchen mit Wertsachen, fühlen sich noch mit etwas auf der Welt verbunden, das schade wäre, es zurückzulassen. Sie klagen noch, weinen, raufen sich die Haare und ringen die Hände:

Was wird sein? Was wird sein, was? Werden sie uns hier verhungern lassen? Sie beißen die Nägel voller Zorn und schmerzhafter Sorge. Jeder Einzelne von ihnen hätte sich verstecken können, fliehen, sich retten. Jetzt zerfrisst es ihn vor Zorn, er schlägt sich mit den Fäusten an den Kopf, als ob er sich deswegen selbst erschlagen wollte. Einer will dem anderen sein bitteres Herz ausschütten:

Was war los mit mir? Warum bin ich nicht in den Wald? Solch ein gutes Versteck hatte ich!

Ein anderer geht noch weiter mit seiner Abrechnung: Er hätte nach Eretz Israel fahren können, selbst unter den Deutschen hätte er es noch gekonnt. Aber das verfluchte »Glück« der ersten Kriegsjahre hatte ihm die Augen verblendet. Er ist wütend auf sich selbst: Ich könnte mich ohrfeigen! Aber es hört sowieso keiner dem anderen zu. Jeder schreit nur für sich, um den eigenen Schmerz rauszulassen.

Ein großer Teil dagegen ist schon entrückt in eine andere Welt. Der Tod hat ihnen bereits seinen Vorboten in die Glieder geschickt, eine lähmende Schläfrigkeit. Er spielt mit ihnen, will sie nicht in einem Zug verschlingen. Sie schauen mit gleichgültigen Augen, als ob sie die ganze diesseitige Welt betrachteten.

III

An den Rändern des Platzes liegen aufgehäuft Berge menschlicher Exkremente. Unwillkürlich umfasst der Blick den ganzen Kot. Es fällt mir auf, dass jede Stelle mit menschlichen Ausscheidungen merkwürdig verschmiert aussieht, als ob Finger lange darin herumgewühlt hätten.

Einer der Schwächeren steht plötzlich auf und beginnt zu laufen. Etliche der noch Aktiveren bemerken das, eilen zu ihm hin und stellen sich um ihn herum. Sie tun es sehr achtsam und schauen sich dabei nach allen Seiten um, ob ein SS-Mann von der Aufsicht es womöglich bemerkt. Zuerst vermute ich, dass sie es deshalb tun, weil es hier verboten ist, den Platz zu beschmutzen. Deshalb wollen sie jemanden, der sein menschliches Bedürfnis erledigen muss, vor den zornigen Blicken verbergen. Ich bemerke aber, dass sie ihn länger als gewöhnlich umstellen. Der Kreis steht schon zehn, fünfzehn oder zwanzig Minuten da. Jedes Mal dreht jemand aus dem Kreis den Kopf herum und redet nervös auf den ein, der etwas tut, vermutlich, um ihn …

Ich näherte mich und sah etwas, das in mir einen Schreck, gemischt mit Ekel hervorrief. Der Mensch in der Mitte saß da und presste das Letzte aus sich heraus. Neben ihm lag schon ein frischer Haufen, in welchem er verzweifelt mit beiden Händen wühlte.

Ich erinnerte mich an schon vorher wahrgenommene Zeichen und ein Gedanke befiel mich:

Sind womöglich all diese Menschen verrückt geworden in den Tagen solch einer Warterei? Es ist abzusehen, dass auch wir hier noch etliche Tage warten müssen, bis wir an der Reihe sind. Auch wir können so wild werden, wild und machtlos vor verzweifeltem Hunger. Wieder fühlte ich den Schreck: Wird mir beschert sein, meine letzten Tage zwischen Verrückten zuzubringen? Und werde nicht auch ich selber verrückt werden, genau wie alle? Auf den Tod hatte ich mich schon mehr als ein Mal vorbereitet. Ich sah ihn in meiner Fantasie in all seinen Erscheinungsformen und stellte mich darauf ein. Mit diesem Annehmen fiel jede Furcht von mir ab. Eine Sache aber hatte ich nicht vorausgesehen: den Tod im Zustand des Wahnsinns! Und dieses Neue, mit dem du dich noch nicht auseinandergesetzt hast, mit dem du in Gedanken noch keinen Frieden geschlossen hast, hat dich wieder aufgeregt und aufgewühlt.

Die Menschen sahen aber gerade jetzt eher ruhig aus. Auf ihren Gesichtern war eine andere Art Ausdruck als vorher während des nervösen, verzweifelten Herumlaufens. Ich sah, dass da etwas mit kühler Berechnung gesucht wurde. Das verstärkte in mir das Bewusstsein, dass ich mich in einer Umgebung befand, die ich nicht in der Lage war zu verstehen.

Irgendjemand der Herumstehenden stellte die Frage:

Bist du überhaupt sicher, dass du es hinuntergeschluckt hast?

Die Antwort hörte ich schon nicht mehr. Das Wort traf meine Gedanken und zerriss mit einem Schlag alle meine Überlegungen, die ich dort herumgewälzt hatte.

»Hinuntergeschluckt!« Und schon öffnete sich mir ein breites Tor zu einer neuen Welt voller Sorgen und verzweifeltem Ringen.

Es stellte sich heraus, dass am ersten Tag ihrer Ankunft verdächtige Gestalten an den Zäunen auftauchten und mit leiser Stimme durch die schmalen Rechtecke flüsterten:

Jidden! Seht ihr? Gleich da, nicht weit weg, ist das Bad. Und dort, ein bisschen weiter, ist die Gaskammer. Versteht ihr? Gleich im Bad wird jeder nackt ausgezogen und so von dort hinausgeführt. Deshalb ist das Verbergen von etwas Gold und Wertsachen vergeblich, auch wenn ihr es noch so gut in den Kleidern versteckt.

Jeder schlug vor, man solle es ihm herausgeben, und wenn man am Leben bleiben sollte, werde er es ins Lager zurückbringen. So oder so gehe man kein Risiko ein.

Weniger starke Charaktere rissen tatsächlich sofort alle Verstecke an den Ärmeln und Hosenaufschlägen auf und gaben alles heraus. Die Rechnung war eine einfache: Jene leben, sollen wenigstens sie daran Freude haben! Pfiffige Köpfe dagegen beschlossen, nicht so schnell zu kapitulieren.

So begann das große Verschlingen.

Man schlang kleinere und größere Brillanten, Ringe und kleine Goldstücke hinunter. Man überlegte sich dabei mit einer gewissen zufriedenen Beruhigung: Bald kann man sogar völlig nackt hinausgehen, ein kleines Vermögen hat man sich einverleibt. Der eigene Leib und das Gedärm werden einen nicht verraten, sondern es verdeckt und in unauffälligster Art und Weise wieder abgeben.

Aber ein Tag vergeblichen Wartens verging. Die Leute von der SS hatten Zeit. Inzwischen bekam der Magen es mit der Angst zu tun ob des versteckten Vermögens. Schon begann er unzufrieden zu grollen, bald wand er sich gar in quälenden Krämpfen und begann vor Schreck alles aus sich hinauszubefördern, was man ihm anvertraut hatte. Das Teuerste gemischt mit dem billigsten, ekligsten Mist.

Sorgfältige Hände wühlten stundenlang, rieben jedes Stück Kot durch die Finger, bis sie das Wichtigste wiederfanden, um es später erneut den Eingeweiden als Pfand anzuvertrauen.

So begann ein irrsinniges Gerangel zwischen dem Verrinnen der Zeit und dem physiologischen Drang. Man bemühte sich, die drückende innerliche Übelkeit zurückzuhalten, aber vergeblich. Später musste man ein weiteres Mal unbeirrbar suchen und zum wievielten Male dasselbe in dem müden, selbst vor Gott verborgenen, Beutel verstecken. Am dritten Tag gab es nichts mehr, mit dem es hätte herauskommen können. So schlummerte der Schatz schwer auf dem Magengrund. Die letzten inneren Säfte, in ihrer Gier, etwas zu verdauen, stürzten sich jedes Mal aufs Neue darauf wie bei einem Angriff und wurden jedes Mal mit harter Faust zurückgeschleudert. So zogen sie sich wie hungrige Wölfe in ihre eingetrockneten Adern zurück.

Es gab auch jene, die sich müde ausstreckten und auf das erlösende Verlöschen warteten. Nichts interessierte sie mehr.

Aber ein noch reger Nachbar oder Freund wusste, was in dem eingefallenen Körper schlummerte. Deshalb weckte er ihn immer wieder aus seiner Lethargie:

He du, probier nochmal, vielleicht geht es jetzt? Der Gedanke peinigte ihn, dass bei jenem etwas Wertvolles liegt, das die gestorbenen Glieder ins Feuer mitnehmen werden. Ach, wer kann denn diese Blicke vergessen, mit denen die Gesünderen auf jene schauten, die derweil einen traumversunkenen Erkundungsgang in andere Welten machten! Ach, wer kann denn begreifen, zu was Menschen getrieben wurden inmitten dieser verrückten, sinnlosen Provokation eines verborgenen Vermögens, im Angesicht eines Todes, den man vielleicht mithilfe eben dieses Vermögens vermeiden kann?

Aus so vielen Augen lese ich das wahnsinnige Erschaudern heraus. Hier sehe ich einen über den bewusstlosen Körper des Nachbarn wachen. Er vermutet, dass jener ihm wegstirbt, und er weiß vermutlich, was sich in seinen Eingeweiden tut. Er schaut mit verzweifeltem Zorn und Bedauern: He, was kann man machen? Wie geht man damit um?

Verzweiflung und Ekel packen mich vor den letzten Minuten des Lebens. Ich will wirklich nichts mehr hören und sehen. Es ist nichts geblieben auf der Welt, auf das man noch einen Blick werfen könnte. Deshalb breite ich meine Decke aus, die ich ganz gleichgültig mitgeschleppt hatte, strecke mich in einer Ecke aus und verstopfe in mir alle meine Gedankengänge. Es fühlt sich irgendwie gut an, dass man sich ganz vom Denken befreien und den kleinsten Gedanken mitten im Lauf stoppen kann. So liege ich da und werde still, wie die Erde um mich herum. Über meinem Kopf schindet der Wind den blauen Körper des Himmels. Stücke schmutzig wolkiger Watte reißen sich von allen Seiten los, nehmen sich an den Händen, verkleiden sich mit elfenlockigen Bärten und ziehen sich zur Seite weg. Der blaue Himmel funkelt mit seinen großen weißen Gestirnen und hält meinen Blick fest, der sich in der Unendlichkeit verlieren will.

Majdanek

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