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Kapitel eins

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I

In jener Nacht wurden alle irgendwie von Unruhe befallen. Schon seit Wochen gingen allerlei Gerüchte um, dass unser Arbeitslager in Zamość liquidiert werden würde. Von verschiedenen kleineren Lagern in der Umgebung trafen Nachrichten ein, eine schrecklicher als die andere. Die große »Aktion«, die Lubliner Gegend von den restlichen Juden zu säubern, hatte begonnen. Bei Nacht wurden die Städtchen umstellt und geleert bis auf den letzten Juden. Der Hurrikan begann, auch die Lager eins ums andere zu erfassen. Im ganzen Umkreis wurde es immer leerer und leerer. Immer wieder kamen neue Nachrichten:

Alle Juden von Łabunek erschossen!

Izbica1 wurde liquidiert!

Krasnyk!

Und jedes Mal aufs Neue gefror einem das Blut in den Adern.

Nur unser Lager wurde nicht angerührt. Jeden Tag rechneten wir damit. Alle waren vorbereitet, das Schicksal anzunehmen, das mit seinem Feuerschwert von Ort zu Ort zog; alle Rechnungen waren abgeschlossen, die Seele wie versteinert. Es sah aber so aus, als habe man uns vergessen. Und wieder läuft die Arbeit normal. Die SS-Leute gehen weiterhin mit finsteren Gesichtern umher und schweigen. So vergehen Tage und Wochen in höchster Anspannung.

Aus und vorbei. Alles um uns her ist schon »judenrein« und nur wir sind geblieben wie eine Insel inmitten eines offenen, aufgepeitschten Meeres. Werden auch wir an die Reihe kommen? Niemand zweifelt daran. Ein Großteil hat die Geduld und den letzten Nerv bereits verloren und wartet auf das Maschinengewehr wie auf den einzigen Erlöser. Die anderen unterhalten sich flüsternd in kleinen Gruppen zwischen den verwanzten Lagerbetten in der Tiefe der Baracke. Man schmiedet Pläne.

Fliehen! Fliehen!

Wie mechanisch wiederholen die Lippen das Wort aus Furcht vor etwas Schlimmerem als dem Tod.

Niemand hat einen klaren Plan, wohin. Selbst wenn es gelänge, von der Arbeit hinaus in die Freiheit zu entkommen, würde auf der Straße der erstbeste Pole dich verraten. Vor dem geistigen Auge erhoben sich die jungen heldenhaften Männer aus verschiedenen Lagern, die es geschafft hatten, sich die ganze Strecke bis zu den Zwierzyniecer Wäldern durchzuschlagen, um sich den polnischen Partisanen anzuschließen, und deren tote Körper später, nach etlichen Tagen, gefunden wurden, nackt oder mit einem zurückgelassenen Lumpen am Leib, präsentiert auf einem kleinen Steg oder beim Wäldchen mit einer kleinen polnischen Notiz, die sich brüstete:

Gefallen, aber nicht von deutscher Hand.

Doch das bisschen bebendes Leben will nichts wissen von Abwägungen. Man spürt, das jetzt und hier alles enden wird und der letzte Tropfen warmen Blutes schlägt hastig Alarm an alle Türen der Gedanken: Such! Tu etwas! Auf wen wartest du? Man wird zerrissen zwischen dem instinktiven Trieb, der alle Glieder wachrüttelt und die Gefahr meldet, die über allen Köpfen schwebt, und dem nüchternen Verstand, der entschlossen urteilt: Nichts zu machen! Versperrt sind alle Auswege, der Tod hat sich überall häuslich niedergelassen! So ereifert man sich und packt den ganzen kleinen Rest nervöser Energie in die Pläne, in die Debatten über Rettung, Weglaufen und das rächende Partisanendasein. Aber man weiß selbst, dass man gar nichts tun wird, dass man so lange warten wird, bis das, was kommen muss, mit aller Kraft an das Lagertor schlägt. Alles wird ruhig ablaufen, wohin auch immer die helmbewehrten Botschafter des Todes uns hinzubringen wünschen. Man will aber gerade diese innerste Gewissheit übertönen und betäuben, man schämt sich vor sich selbst zuzugeben, dass man schon längst mit dem Schicksal Frieden geschlossen hat. Man tuschelt so lange herum, bis die eigene mahnende Stimme in der Tiefe schläfrig und müde wird. Bis alles ausgeredet ist, was es zu bereden gegeben hat, und jeder Einzelne sich wieder in seinen eigenen stinkenden Winkel verkriecht, genau wie gestern, genau wie vor einer Woche.

Von irgendwoher brachte jemand einen vertrauenswürdigen Termin: am 31.! Mit Schwertesschärfe schnitt es allen ins Bewusstsein: am 31.! am 31.! Mit wortlosem Gebet erflehte jeder Einzelne vom eigenen Herzensgrund, vom letzten Brocken Verstand oder von der bleichen Silhouette des klügeren Freundes: Hilf mir! Gib mir einen Rat! Aber alles war verstummt, das eigene Herz war leer bis auf den Grund und auch die Weisheit des Freundes war gelähmt.

Man geht tagsüber wieder zur Arbeit und kommt nachts zurück in die verlausten Baracken. Man isst schweigend und schaut lange, sehr lange einer den anderen an, dann fällt ein Wort, ein Satz nur, in dem alle Reden und alle Pläne eingeschlossen sind:

Schon der 29.!

Der 30.!

Man war ermüdet davon, Tag um Tag den Schrecken in den Gliedern und in den Augen wachzuhalten. Man wartete nur noch − auf nichts mehr wartend.

Und eine Nacht begann, wie alle Nächte im Lager. Verräuchert vom Barackenofen, gepeinigt vom Monatsende. Nur das Entsetzen, versteckt im tiefsten Winkel des Herzens, warnte mit ersticktem Mund ein letztes Mal zaghaft:

Die Nacht zum 31.!

II

Gegen 12 Uhr in der Nacht trug es alle hinüber in eine andere Welt. In dieser Nacht kamen nicht einmal die ukrainischen Wachposten betrunken in die Schlafbaracke herein. Sie vergaßen sogar, ein fröhliches Spektakel in der benachbarten Frauenbaracke zu inszenieren. So hatte jeder die Gelegenheit, sich im Traum zu holen, was das wahre Leben ihm genommen hatte. Aber die heutige Ruhe ist eigenartig verdächtig und unangenehm. Es ist zu ruhig. Das Herz war schon so an den »normalen« nächtlichen Schrecken der einfallenden betrunkenen Wachposten gewöhnt, dass es fast zu einer Art betäubender Sucht geworden war. Im Angesicht derer, in deren Händen du vogelfrei bist, beginnt das schläfrige bisschen Leben von neuem, in den Gliedern zu pochen, du spürst eine zappelnde Angst vor etwas; doch dabei freut sich etwas in dir, das tiefer ist als du selbst, weil du dadurch gleichzeitig erkennst, dass da noch etwas ist, dass du noch etwas besitzt, um dessentwillen du zittern musst, mit dem du vorsichtig umgehen musst.

In der Einsamkeit wird die ständige Furcht der einzige Wecker des erstarrten Lebens. Die reale dröhnende Angst wird dir vertraut wie ein Freund. Und jetzt, da es so still ist, entsteht gleichzeitig eine Leere um dich herum. Es fehlt etwas. So als sehntest du dich danach, die Gefahr zu fühlen, die von einem nahebei lauernden Gewehr eines Betrunkenen ausgeht. Die Hilflosigkeit wird ohne den allnächtlichen grausamen Trubel noch entsetzlicher.

Das erschrockene Schnarchen müden Atems sägt sich knirschend in die Stille der dunklen Baracke. Nur noch hier und da sitzt ein gebeugter Schatten auf der Bettkante, in Gedanken versunken, dabei gar nichts denkend.

Ein Schatten von gegenüber winkt meinem zu:

Motl?

Ein Wortbrocken löst sich von meiner müden Trägheit:

Was ist?

Und wieder wird ein leises Wort zu mir herübergetragen, auf dem Rücken eines verschlafenen Krächzers meines Bettnachbarn:

Warte!

Der dürre Körper meines Nachbarn wiegt sich über mir mit einer fremden Unruhe. Seine großen, unruhigen Augen dringen in mich ein bis in die tiefsten Tiefen. In der Dunkelheit haben sie einen gespenstischen, irren Glanz. In meiner diffusen Hoffnungslosigkeit erkenne ich nicht, wer da redet: sein Mund, seine Augen, seine Hände oder seine Kleidung? Mein Verstand erscheint mir verhüllt von einem dünnen Vorhang. Ich spüre nur, wie seine Gedanken mich umklammern.

Motl, und wenn doch? Vielleicht noch heute?

Seine Finger deuten dabei durch das vergitterte Barackenfenster auf den Stacheldraht beim Zaun.

Schon hundert Mal habe ich diese Frage und diesen Plan gehört, schon tausend Mal selber darüber gegrübelt. Die Antwort ist mir selbst so klar, dass die Lippen nicht mehr beim Verstand nachfragen müssen, sondern jedes Mal selbstständig antworten:

Unmöglich!

Aber jetzt bin ich schon zu müde. Mein Verstand ist so verdunkelt und ausgezehrt, dass er dieses einzige, mechanische Wort der Resignation nicht mehr über die Lippen bringt. Also schweige ich. Mein Kamerad nimmt es als Zeichen der Zustimmung. Er stachelt mich weiter an mit seiner glühenden Ungeduld:

Heißt das, du bist bereit? Soll ich hinausgehen und einen Blick auf die Zaunpfähle werfen?

Er wartet nicht einmal meine Antwort ab, sondern schlurft hinaus aus der Baracke. Für eine Minute bleibe ich allein unter Schlafenden. Nüchterne Wachsamkeit schüttelt mich. Ich fühle mich wie auf einem Friedhof. Schwach höre ich es in mir fragen: Schlafen sie nur, diese Menschen um mich herum, auf ihren grabähnlichen Betten?

Die gefühlte Gefahr, die sich monatelang in der Luft, zwischen den Betten und in den Winkeln zusammengeballt hatte, fühlte sich plötzlich kräftiger an. Sie senkte sich herab und gab mir mit einem Flügel einen Schlag an den Kopf. Es war, als ob alle Schlafenden ihre Schrecken des Tages im wachen Diesseits zurückgelassen hatten, und all diese Schreckensbrocken sammelten und verknoteten sich zu einem Körper. Dieser ganze schwarze Gedanken-Koloss, der sich nicht durch die weiten Grenzen des Schlafes hindurchreißen konnte, warf sich mir wie einem Erlöser zu Füßen. Alle müden Wände, die meine Gedanken im festen Griff hielten, fielen mit einem Krachen zusammen. Eine klare Stimme schrie mir mitten ins Mark: Hier ist der Tod! Ich wachte auf und wunderte mich über mich selbst: Warum habe ich es bis jetzt nicht gesehen? Wie schafft man es zu leben in einer Welt, wo man dermaßen schläft? Die Gefahr bricht in Lachen aus, aus jedem Winkel tönt ihr Gelächter über meine machtlose Erkenntnis. Mein Verstand wird plötzlich gesprächig und ich lausche mit beiden Ohren:

Nein! Er wird es nicht lange halten, der Deutsche, dieses Lager mit Menschen, aus denen die Müdigkeit herausschreit und aus deren Augen ständig die Furcht blickt. Sprechen ihre Münder nicht instinktiv über den Tod, der sicher kommen muss? Ich fühle mich hier plötzlich wie ein Fremder, ein Verlassener. Der Schweiß bricht mir aus: Was tue ich hier? Was tue ich hier? Von allen Seiten schreit es auf mich ein: Flieh! Flieh! Sogar ohne ein »Wohin?«. Nur mit solchen erschöpft Schlafenden nicht zusammen sein!

Mein Kamerad hatte sich inzwischen wieder hereingeschoben durch die Tür. Seine Schritte hatten während des Weges den fieberhaften Schwung verloren, seine Augen waren draußen erloschen. Er sah schlapp und halb bewusstlos aus. Als er näher kam, winkte er nur kummervoll mit beiden Händen wie eine geschächtete Gans mit den Flügeln und brachte kaum noch einen schwachen, verzweifelten Ton heraus:

Zu spät!

Zugleich aufgeregt und benommen erzählte er:

Verstärkte Wachen um das Lager herum, alle zwei Schritte ein Posten. Diesmal döst keiner von ihnen an die Wachbude gelehnt. Durch einen kleinen Spalt im Zaun sah er, wie alle Augen auf das Lager gerichtet waren.

Ich weiß nicht, wen ich damals beruhigen wollte: ihn oder mich? Vielleicht wollte ich auch nicht den Toten auf ihren Lagerstätten das letzte Lächeln rauben, das sie im Traum bei ihrem Kind sahen. Die Gedanken scherten sich schon damals um keinerlei Kontrolle und spazierten im Kopf umher, wie es ihnen gefiel. Nicht auf meine eigene Rede achtend, sprach ich zu ihm und bat ihn: Still! Ruhig! Wecke sie nicht auf!

Ohne es selbst zu wissen, spürte etwas in mir, dass die letzte Stunde der nächtlichen Stille geschlagen hatte. Jetzt wollte ich sie noch einen Moment aufhalten, nur noch einen Moment, solange, bis alles von selbst geschehen würde.

Und die Stunden haben sich einschläfern lassen, wie Kinder, die lange geweint hatten.

III

Halb drei. Eine Gestalt, halb nackt, klettert von einem Etagenbett herab und geht hinaus, in den Augen kleben noch Reste von warmem Schlaf. Das Klosett ist dicht bei den Drahtzäunen, neben einem Wachhäuschen, und es ist zu schade, für diesen Gang von nur wenigen Minuten aufzuwachen. Die Füße scharren beim Gehen und die Augen fallen immer wieder zu.

Zurück kommt er schnell und aufgeregt. Alles in ihm bebt; wie benommen geht er mit wildem Geheul auf den erstbesten am Rand Schlafenden zu:

Und ihr schlaft? He, ihr schlaft?

Da schüttelt er bereits den in Schlaf Versunkenen mit der ganzen Kraft seiner knöchernen Finger, als ob er die Gefahr höchstpersönlich gepackt hielte. Aber er lässt schnell ab von ihm, greift sich mit den Händen in die zerwühlten Haare und bricht in Gejammer aus:

Wir sind verloren! Verloren!

Der Klang seiner Stimme erinnert an den resignierten Ton eines abgelaufenen Weckers. Instinktiv gehe ich zur Tür. Ich will sehen, was draußen vor sich geht. Der neugierige Mündungslauf eines Maschinengewehrs versperrt mir den Weg mit einer Frage auf Deutsch:

Wohin?

Ich weiß selbst, dass ich mich mit meiner Antwort lächerlich mache:

Ich muss nötig, auf den Abort …

Die Büchse hat aber offensichtlich keine große Lust, mit mir zu debattieren. Sie schleudert mir nur ein Wort entgegen, in dem die Drohung aller Todesstrafen mitschwingt:

Zurück!

Zu allen Barackenfenstern sieht man Augen hereinfunkeln. Wehe mir! Wie viele finstere Zornesblicke! Die hat der Todesengel persönlich auf nächtlichen Wegen hinuntergeschickt ins Lager.

Jeder rappelt sich hoch mit einer eigenen Wehklage:

Wehe uns! Das Lager ist umstellt! Umstellt!

Alle schreien gleichzeitig, ringen die Hände. Zitternde Finger beginnen unsinnigerweise, alle Lampen anzuzünden. Ein Hämmern an die Scheiben warnt:

Licht aus!

Geräusche von Schüssen wandern umher über das Barackendach mit boshaften, eilenden Schritten und lassen den anbrechenden Tag vor Schreck erblassen. Dem neuen Tag ist nicht besonders froh ums Herz. Er schaut trüb und grau herein durch die Scheiben und es scheint, damit wolle er sich wegen seiner Machtlosigkeit rechtfertigen:

Ich kann euch gar nicht helfen, Kinder. Ich habe nicht die Kraft dazu.

Und mit einem Mal spüren alle über sich die Flügel des Todes. Mein Kamerad Itzel zerreißt voller Zorn seine paar Hunderter-Geldscheine. Sie wehen in kleinen Fetzen über die ganze Baracke. Ich finde ein Päckchen Streichhölzer und reibe mit mutwilliger Absicht eines davon an. Ich will damit einen Strohsack anzünden, es soll alles drumherum in Flammen aufgehen! Meine Gedanken rufen mir mit großer Klarheit in Erinnerung, dass es um uns herum ein großes Lager mit vollen Benzinfässern gibt, und wir könnten gemeinsam mit unseren Bewachern in die Luft fliegen. Ein gehetzter Blick zur Seite lässt mein Streichholz verlöschen. Hände reißen mir die Schachtel aus den Fäusten. Jemand zügelt mich mit der Frage: Du weißt schon alles ganz sicher? Ich schweige verschämt. Verloren suchen meine Hände etwas. Sie fingern fiebrig in allen Taschen herum und können doch nichts finden. Sechs Monate lang trug ich ein Päckchen Gift mit mir herum. Ich hütete es und versteckte es bei jeder Durchsuchung, die im Lager stattfand. Es erleichterte mir beständig die Gedanken an meine letzten Minuten. Wenn die Zeit kommt, besänftigte mich die Hoffnung, werde ich tun, was nötig ist und damit dem schmutzigen Tod durch ihre Hände entkommen. Jetzt suche ich in den Hosentaschen, im Bettrand, auf der Erde. Verzweiflung umklammert mich, weil ich den Tod in der eigenen Tasche nicht finde. Wie im Nebel erinnere ich mich, dass ich ihn in meinem alten Kittel vergessen habe, auf der Arbeitsstelle.

Mein Alter Ego hänselt mich wegen meiner Gefühle: Was ist, gnädiger Herr? Sogar den Tod willst du anders haben, abgesondert von den anderen? Zehn Minuten, bevor alle umkommen, willst du auf besondere Art sterben, damit man dich und dein Verlöschen bemerkt und über dich redet?

Machtlosigkeit zerreißt mir das Herz und zerstreut meine Gefühle in alle Richtungen. Ich verliere den selbstständigen Gedankengang und gehe unter im allgemeinen stürmischen Gewirbel. Bald aber spüre ich, wie eine tollkühne Klarheit mich erfasst und mich in einen abgelegenen Winkel treibt.

IV

Inzwischen sind alle Leute hier verrückt geworden. Der kleine Josef-Ozer schraubt die Seiten der Betten auf. Sie streben auseinander wie entfernte Verwandte und die Bretter in der Mitte fallen mit einem resignierten Ton heraus. Und mitten im allgemeinen Geschrei und Gejammer steht der kleine Lausebengel und kugelt sich vor kindlichem Gelächter darüber, dass ganze Betten, die solange menschliche Körper auf ihren Rücken getragen haben, jetzt durch nur eine Bewegung seiner halbkindlichen Hände auseinanderfallen. Es fliegen Strohsäcke herum, vergessene Knöpfe, Lagerlöffel, ein aufbewahrtes Stück trocken Brot; wie es scheint hat der Kleine schon lang mit solchen boshaft-zerstörerischen Gedanken gespielt. Nur die allgemeine, strenge Ordnung hielt ihn davon ab. In dem jetzt herrschenden Tumult lässt der 15-Jährige seinen Begierden freien Lauf, sein Gesicht strahlt mit allem Glück der Welt.

Es sind schon etliche Stunden, dass man keinen Schritt hinausgehen kann. Der Schreck fuhr den Menschen in die Eingeweide, man verrichtete seine Notdurft mitten in der Baracke, auf dem Fußboden. Andere wollen eine letzte Rache nehmen, sie kriechen hinauf auf die Betten, quetschen das letzte aus sich heraus, schmieren alles ein, was ihnen unter die Hände kommt und schreien dabei über alle Maßen.

Der kleine Abele, der Lebensmittel ins Lager schmuggelt und Handel treibt, ist schon ganz heiser vom sinnlosen Schreien. Er schleppt aus irgendeinem hintersten Winkel einen Korb mit rohen Eiern hervor. Seine Stimme bittet: Leute! Wer will, soll nehmen! Eine Wüste werde ich ihnen hinterlassen! Etliche zögernde Hände strecken sich aus in hungriger Gier. Sie wissen selbst nicht, was hier vor sich geht. Die Wildheit in ihren Augen kann gar nicht glauben, dass Abele heute kostenlos austeilt. Aber alles drum herum ist versunken in sich selbst und in den eigenen Jammer. Abele steht finster da bei seinem Korb mit Eiern und fordert ein letztes Mal mit verlöschendem Kratzen seiner ausgetrockneten Stimme auf:

Nehmt, ich bitte euch, nehmt!

Plötzlich überkommt ihn der Zorn. Als ob er durch irgendetwas beleidigt worden wäre, springt er hinein in den Korb! Unter den Eiern entsteht Panik. Eines drängt sich ans andere, vergießt dabei seine gelbe Galle. Unter Abeles Schuhen dringt ein kratzendes Geräusch hervor. Auf seinen Schuhspitzen erscheint eine gelbe glänzende Flamme. Doch seine Augen sehen jetzt gar nichts mehr. Das Gesicht ist vertieft in leidenschaftliche Arbeit. Schon sind alle Eier aufgebrochen. Eine schwere, fette Flüssigkeit quillt durch die kleinen Löcher im Korb und umschlingt ein vertrocknetes Stück Brot, das von einem zerstörten Bett hergeflogen war. Aber Abele steht immer noch, hebt die Füße und tritt zu, immer wieder mit demselben Zorn.

Mehr Erfolg dagegen hat der dicke Kurt, der Händler gedrehter Zigaretten im Lager. Aus dem doppelten Brett unter seinem Bett zieht er etliche kiloschwere Packen mit gelbem feingeschnittenem Tabak hervor. Er lockert und zerpflückt eigenhändig die feuchten festgepressten Ballen und wirft alles in die Mitte der Baracke.

Leute! Wer will, soll rauchen! Nehmt euch auch mit für den Weg! Das ist das Beste für solch eine Reise! Es zieht schon alle Hände dort hin, ich fühle mich wie ein Schlafwandler. Er erkennt mich aus der Ferne und bringt mir ein einzelnes Päckchen. Er ist verlegen und aufgewühlt, er will sich bei mir entschuldigen, dass er mich mitten in meinen letzten Gedanken stört. Er sucht irgendwelche anderen Wörter, kann aber keine finden. So wiederholt er nur immer wieder:

Es ist das Beste für solch einen Weg, das Beste.

Ich reiße inzwischen von irgendwoher ein großes Stück Zeitung ab, stopfe es mit Tabak und stecke es in den Mund. Eine zitternde Hand reicht Feuer. Ich nehme einen Zug von dem Rauch und fühle mich, als wäre ich aufgesessen auf einen feurigen Streitwagen und aufgefahren in den Himmel.

In der Baracke stieg ein Gestank auf, der sich in der Luft mit umherirrenden Federn und abgerissenen Fetzen von Geschrei stieß. Fliegende Flicken dreckiger Wäsche tanzten einen verrückten Wirbel in der Luft und liebkosten für eine Weile den beginnenden Tag.

Majdanek

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