Читать книгу Begehrt - Морган Райс, Morgan Rice - Страница 5
KAPITEL EINS
ОглавлениеParis, Frankreich
(Juli 1789)
Caitlin Paine erwachte umhüllt von Finsternis.
Die Luft war schwer, und als sie sich zu bewegen versuchte, hatte sie Mühe, zu atmen. Sie lag auf dem Rücken, auf hartem Untergrund. Es war kühl und feucht, und ein winzig schmaler Streifen Licht fiel auf sie, als sie hochblickte.
Ihre Schultern waren zusammengedrückt, doch mit einiger Anstrengung schaffte sie es gerade so, hochzufassen. Sie streckte ihre Handflächen vor und fühlte die Oberfläche über sich. Stein. Sie ließ ihre Hände darüber gleiten, erspürte die Maße und erkannte, dass sie eingeschlossen war. In einem Sarg.
Caitlins Herz begann zu pochen. Sie hasste enge Räume, und ihr Atem wurde schwerer. Sie fragte sich, ob sie träumte, in einer Art grässlichem Limbus feststeckte, oder ob sie tatsächlich in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, aufgewacht war.
Sie streckte erneut beide Hände aus und drückte mit all ihrer Kraft nach oben. Es bewegte sich den Bruchteil eines Zentimeters, gerade genug, dass sie einen Finger in die Ritze schieben konnte. Sie drückte noch einmal mit aller Kraft, und der schwere Steindeckel bewegte sich weiter, mit dem Geräusch von Stein, der über Stein schabt.
Sie drückte noch mehr Finger in die breiter werdende Ritze und gab ihm mit all ihrer Kraft einen Ruck. Diesmal öffnete sich der Deckel.
Caitlin setzte sich keuchend auf und blickte sich um. Ihre Lungen schnappten nach der frischen Luft, und sie wappnete sich gegen das Licht, hob ihre Hände an ihre Augen. Wie lange hatte sie in dieser Finsternis verbracht? fragte sie sich.
Während sie so dasaß und ihre Augen abschirmte, lauschte sie, auf jedes Geräusch vorbereitet, auf jede Bewegung. Sie erinnerte sich an ihr grobes Friedhofs-Erwachen in Italien, und diesmal wollte sie nichts dem Zufall überlassen. Sie war auf alles vorbereitet; gefasst, sich gegen jegliche Dorfbewohner, oder Vampire—oder Sonstiges— zu verteidigen, die in der Nähe sein mochten.
Doch diesmal herrschte Stille. Langsam zwang sie ihre Augenlider, sich zu öffnen, und sah, dass sie in der Tat alleine war. Während sich ihre Augen an das Licht gewöhnten, wurde ihr bewusst, dass es hier drin gar nicht so hell war. Sie war in einer höhlenartigen Kammer aus Stein mit gedrungenen, gewölbten Decken. Es sah wie die Kellergewölbe einer Kirche aus. Der Raum war nur von spärlich verteilten brennenden Kerzen erleuchtet. Es musste Nacht sein, erkannte sie.
Nun, da ihre Augen sich angepasst hatten, blickte sie sich sorgfältig um. Sie hatte recht gehabt: sie war in einem Stein-Sarkophag gelegen, in der Ecke einer Steinkammer, die zur Gruft einer Kirche zu gehören schien. Der Raum war leer bis auf ein paar Steinstatuen und einige weitere Sarkophage.
Caitlin stieg aus dem Sarkophag heraus. Sie streckte sich und prüfte alle ihre Muskeln. Es fühlte sich gut an, wieder zu stehen. Sie war dankbar, dass sie diesmal nicht in einer Schlacht erwacht war. Immerhin hatte sie so ein paar ruhige Momente, um sich zu sammeln.
Doch sie war immer noch so desorientiert. Ihr Verstand fühlte sich schwer an, als wäre sie gerade aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht. Noch dazu verspürte sie sofort einen stechenden Hunger.
Wo war sie?, fragte sie sich erneut. Welches Jahr war es?
Und, was noch wichtiger war, wo war Caleb?
Sie war betrübt darüber, dass er nicht an ihrer Seite war.
Caitlin überprüfte den Raum und suchte überall nach einem Anzeichen von ihm. Aber da war nichts. Die anderen Sarkophage waren alle offen und leer, und es gab sonst nirgends, wo er versteckt sein konnte.
„Hallo?“, rief sie aus. „Caleb?“
Sie machte ein paar zaghafte Schritte in den Raum hinein und erblickte eine niedrige, gewölbte Tür, die der einzige Ein- oder Ausgang war. Sie trat auf sie zu und probierte den Knauf aus. Die unverschlossene Tür schwang mit Leichtigkeit auf.
Bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich herum und begutachtete ihre Umgebung, sicherstellend, dass sie nichts zurücklassen würde, was sie brauchen könnte. Sie fasste an ihre Halskette, die immer noch um ihren Hals lag; sie fasste in ihre Taschen und war beruhigt, dort ihr Tagebuch und den einzelnen großen Schlüssel vorzufinden. Das war alles, was ihr in dieser Welt noch blieb, und alles, was sie brauchte.
Nachdem sie den Raum verlassen hatte, ging Caitlin einen langen, gewölbten Steingang entlang. Sie konnte an nichts anderes denken, als Caleb zu finden. Bestimmt war er diesmal mit ihr gemeinsam zurückgegangen. Oder nicht?
Und falls es so war, würde er sich diesmal an sie erinnern können? Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, all das noch einmal durchleben zu müssen; ihn suchen zu müssen, nur um festzustellen, dass er sie nicht erkannte. Nein. Sie betete, dass es diesmal anders sein würde. Er war am Leben, versicherte sie sich selbst, und sie waren gemeinsam zurückgegangen. Es musste einfach so sein.
Doch als sie den Korridor entlang eilte, und eine kleine Steintreppe hinauf, merkte sie, wie sie an Tempo zulegte, und spürte das vertraute ungute Gefühl in ihrer Brust, dass er nicht mit ihr zurückgekommen war. Immerhin war er nicht an ihrer Seite aufgewacht, ihre Hand haltend, war nicht da, um sie zu beruhigen. Hieß das, dass er die Reise zurück nicht geschafft hatte? Der Knoten in ihrem Magen wurde größer.
Und was war mit Sam? Er war auch dagewesen. Warum gab es keine Spur von ihm?
Schließlich kam Caitlin oben an der Treppe an, öffnete eine weitere Tür und stand von dem Anblick erstaunt da. Sie stand in der Hauptkapelle einer außergewöhnlichen Kirche. Sie hatte noch nie so hohe Decken gesehen, so viel Bleiglas, einen so enormen, aufwändig gearbeiteten Altar. Die Pultreihen erstreckten sich endlos und es sah aus, als fänden an diesem Ort tausende Menschen Platz.
Zum Glück war er leer. Überall brannten Kerzen, doch es war eindeutig spät. Darüber war sie dankbar: das Letzte, was sie wollte, war, inmitten einer Menge tausender Menschen zu treten, die sie anstarrten.
Caitlin schritt bedächtig den Mittelgang der Kirche entlang, auf den Ausgang zu. Sie hielt Ausschau nach Caleb, nach Sam, oder auch nur nach einem Priester. So jemand wie der Priester in Assisi, der sie Willkommen heißen würde, ihr Dinge erklären würde. Der ihr vielleicht sagen konnte, wer sie war, und wann, und warum.
Doch da war niemand. Caitlin schien völlig und absolut allein zu sein.
Caitlin erreichte das riesige Flügeltor und machte sich auf alles gefasst, was davor liegen konnte.
Als sie es öffnete, schnappte sie nach Luft. Die Nacht war überall von Straßenfackeln erhellt, und vor ihr stand eine große Menschenmenge. Sie warteten nicht vor der Kirche, um einzutreten, sondern wimmelten vielmehr auf einem großen, offenen Dorfplatz. Es war eine geschäftige, festliche nächtliche Szene, und als Caitlin die Hitze spürte, wusste sie, dass es Sommer war. Sie war schockiert vom Anblick all dieser Leute, von ihrer antiquierten Kleidung, ihrer Förmlichkeit. Zum Glück schien sie niemandem aufzufallen. Doch sie konnte den Blick nicht von ihnen wenden.
Da waren hunderte Leute, die meisten von ihnen förmlich gekleidet, alle eindeutig aus einem anderen Jahrhundert. Unter ihnen waren Pferde, Kutschen, Straßenhändler, Künstler, Sänger. Es war ein gedrängtes Sommernachts-Treiben, und es war überwältigend. Sie fragte sich, welches Jahr es sein mochte, und an welchem Ort sie nur gelandet sein konnte. Wichtiger noch, während sie all die unbekannten und fremdländischen Gesichter durchsuchte, fragte sie sich, ob Caleb unter ihnen warten würde.
Verzweifelt suchte sie die Menge ab, hoffnungsvoll, und versuchte, sich zu überzeugen, dass Caleb, oder vielleicht Sam, unter ihnen sein könnte. Sie blickte sich in alle Richtungen um, doch nach einigen Minuten wurde ihr klar, dass sie schlicht und einfach nicht hier waren.
Caitlin trat einige Schritte in den Platz hinein und wandte sich dann zur Kirche herum, in der Hoffnung, dass sie ihre Fassade vielleicht wiedererkennen würde, und dass ihr das einen Hinweis darauf liefern würde, wo sie war.
Das tat es auch. Sie war kaum eine Expertin für Bauweise, oder Geschichte, oder Kirchen, doch ein paar Dinge wusste sie. Manche Orte waren so markant, so eingraviert in das allgemeine Bewusstsein, dass sie sicher sein konnte, sie wiedererkennen zu können. Und dies war einer davon.
Sie stand vor der Notre Dame.
Sie war in Paris.
Es war ein Ort, der mit keinem anderen zu verwechseln war. Ihre drei riesigen Eingangstore, aufwändig geschnitzt; die Dutzenden kleiner Statuen darüber; ihre reich verzierte Fassade, die hunderte Meter in den Himmel ragte. Es war ein Ort mit einem der höchsten Wiedererkennungswerte auf der Welt. Sie hatte ihn schon viele Male zuvor online gesehen. Sie konnte es nicht glauben: sie war tatsächlich in Paris.
Caitlin hatte schon immer einmal nach Paris reisen wollen, ihre Mutter immer angebettelt, mit ihr hierher zu kommen. Als sie einmal einen Freund hatte, in der High School, hatte sie immer gehofft, er würde mit ihr hierherkommen. Es war immer schon ihr Traum gewesen, diesen Ort einmal zu besuchen, und es raubte ihr den Atem, dass sie tatsächlich hier war. Und in einem anderen Jahrhundert.
Caitlin spürte, wie sie in der dichter werdenden Menge herumgeschubst wurde, und sie blickte plötzlich an sich hinunter und begutachtete ihre Kleidung. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie immer noch in die schlichte Gefängniskleidung gehüllt war, die Kyle ihr im Kolosseum in Rom gegeben hatte. Sie trug eine Leinentunika, die auf der Haut kratzte, grob geschnitten war, viel zu groß für sie, mit einem Stück Seil über ihren Oberkörper und ihre Beine gebunden. Ihr Haar war verfilzt, ungewaschen, klebte ihr im Gesicht. Sie sah aus wie ein Ausbrecher oder ein Landstreicher.
Noch ängstlicher suchte Caitlin erneut nach Caleb, nach Sam, nach irgendwem, den sie kannte, irgendwem, der ihr helfen konnte. Noch nie hatte sie sich einsamer gefühlt, und sie wollte nichts mehr, als sie zu erblicken, zu wissen, dass sie nicht allein an diesen Ort zurückgereist war; zu wissen, dass alles gut werden würde.
Aber sie erkannte niemanden.
Vielleicht bin ich die Einzige, dachte sie. Vielleicht bin ich wirklich wieder auf mich allein gestellt.
Der Gedanke daran fuhr ihr wie ein Messer in den Magen. Sie wollte sich einrollen, zurück in die Kirche kriechen und sich verstecken, in eine andere Zeit geschickt werden, an einen anderen Ort—irgendwohin, wo sie aufwachen und jemanden sehen konnte, den sie kannte.
Doch sie riss sich zusammen. Sie wusste, es gab keinen Rückzug, keine andere Möglichkeit, als vorwärts zu gehen. Sie musste nur tapfer sein, ihren Weg durch diese Zeit und diesen Ort suchen. Es gab schlicht und einfach keine andere Wahl.
*
Caitlin musste aus dieser Menschenmenge raus. Sie musste allein sein, sich ausruhen, Nahrung aufnehmen, nachdenken. Sie musste herausfinden, wohin sie gehen musste, wo sie nach Caleb suchen musste, und ob er überhaupt hier war. Was genauso wichtig war, sie musste herausfinden, warum sie in dieser Stadt und in dieser Zeit gelandet war. Sie wusste nicht einmal, welches Jahr es war.
Jemand stieß sie im Vorbeigehen an, und Caitlin packte ihn am Arm, überwältigt von einem plötzlichen Bedürfnis, es zu wissen.
Er drehte sich zu ihr um und sah sie an, verdutzt davon, so abrupt angehalten worden zu sein.
„Entschuldigen Sie“, sagte sie und spürte, wie trocken ihre Kehle war und wie heruntergekommen sie aussehen musste, während sie ihre ersten Worte so hervorstieß, „aber welches Jahr ist es?“
Es war ihr sofort peinlich, während sie noch fragte, als ihr klar wurde, dass sie verrückt erscheinen musste.
„Jahr?“, fragte der verwirrte Mann im Gegenzug.
„Äh…es tut mir leid, aber ich kann mich irgendwie…nicht erinnern.“
Der Mann blickte an ihr hinunter, schüttelte dann langsam den Kopf, als würde er beschließen, dass mit ihr etwas nicht stimmte.
„Es ist natürlich 1789. Und es ist nicht einmal fast Neujahr, also hast du wirklich keine Ausrede“, sagte er, schüttelte abfällig den Kopf und marschierte davon.
1789. Die Realität dieser Zahl raste durch Caitlins Gedanken. Sie erinnerte sich daran, dass sie gerade erst im Jahr 1791 gewesen war. Zwei Jahre. Nicht so weit entfernt.
Und doch, sie war jetzt in Paris, einer völlig anderen Welt als Venedig. Warum hier? Warum jetzt?
Sie zermarterte sich das Gehirn, versuchte verzweifelt, sich an ihren Geschichtsunterricht zu erinnern; daran, was 1789 in Frankreich vorgefallen war. Es war ihr peinlich, festzustellen, dass sie es nicht konnte. Sie gab sich wieder einmal einen inneren Tritt dafür, in der Schule nicht besser aufgepasst zu haben. Wenn sie in der High School gewusst hätte, dass sie eines Tages durch die Zeit reisen würde, hätte sie die ganze Nacht lang Geschichte gebüffelt und sich bemüht, alles auswendig zu lernen.
Das war jetzt belanglos, erkannte sie. Nun war sie Teil der Geschichte. Nun hatte sie eine Chance, sie zu ändern, und sich selbst zu ändern. Die Vergangenheit, so wurde ihr klar, konnte geändert werden. Nur, weil gewisse Ereignisse in den Geschichtsbüchern passiert waren, hieß das nicht, dass sie, die Zeitreisende, sie nicht jetzt ändern konnte. Gewissermaßen hatte sie das bereits: ihr Erscheinen hier in dieser Zeit würde alles beeinflussen. Und das konnte wiederum auf seine eigene kleine Art den Lauf der Geschichte ändern.
Die Bedeutsamkeit ihrer Handlungen wurde ihr nur noch stärker bewusst. Es lag in ihrer Hand, die Vergangenheit neu zu erschaffen.
Ihre elegante Umgebung auf sich wirken lassend, entspannte sich Caitlin ein wenig, und fühlte sich sogar etwas ermutigt. Zumindest war sie an einem wunderschönen Ort gelandet, einer wunderschönen Stadt und zu einer wunderschönen Zeit. Dies war immerhin wohl kaum die Steinzeit, und es war auch nicht so, dass sie mitten im Nirgendwo aufgetaucht war. Alles um sie herum sah makellos aus, und die Leute waren alle so fein gekleidet, und die gepflasterten Straßen glänzten im Licht der Fackeln. Und das Eine, was ihr zu Paris im 18. Jahrhundert einfiel, war, dass es für Frankreich eine luxuriöse Zeit war, eine Zeit großen Wohlstandes, als noch Könige und Königinnen herrschten.
Caitlin merkte, dass die Notre Dame auf einer kleinen Insel lag, und sie verspürte das dringende Bedürfnis, von ihr herunterzukommen. Es war hier einfach zu gedrängt, und sie brauchte etwas Frieden. Sie sah mehrere kleine Fußbrücken, die von ihr herunterführten, und machte sich auf den Weg zu einer davon. Sie ließ die Hoffnung zu, dass Calebs Präsenz sie in eine bestimmte Richtung lotste.
Während sie den Fluss überquerte, stellte sie fest, wie wunderschön die Nacht in Paris war, erleuchtet von den Fackeln entlang des gesamten Flusses, sowie vom vollen Mond. Sie dachte an Caleb und wünschte, er würde an ihrer Seite sein und den Anblick mit ihr gemeinsam genießen.
Als sie über die Brücke ging und auf das Wasser hinunterblickte, wurde sie von Erinnerungen überrannt. Sie dachte an Pollepel, an den Hudson River bei Nacht, an die Art, wie der Mond den Fluss erleuchtete. Sie verspürte das plötzliche Verlangen, von der Brücke zu springen, ihre Flügel auszuprobieren, zu sehen, ob sie wieder fliegen konnte, und hoch über ihr schweben.
Doch sie fühlte sich schwach, und hungrig, und wenn sie sich zurücklehnte, konnte sie die Gegenwart ihrer Flügel gar nicht spüren. Sie machte sich Sorgen, dass ihre Zeitreise ihre Fähigkeiten, ihre Kräfte beeinflusst hatte. Sie fühlte sich nicht annähernd so stark wie zuvor. Tatsächlich fühlte sie sich beinahe menschlich. Zerbrechlich. Verwundbar. Das Gefühl gefiel ihr gar nicht.
Nachdem Caitlin den Fluss überquert hatte, ging sie durch Seitengassen, stundenlang umherirrend, hoffnungslos verlaufen. Sie ging durch gewundene Gassen, weiter und weiter vom Fluss weg, Richtung Norden. Sie war von der Stadt beeindruckt. In vieler Hinsicht fühlte sie sich ähnlich an wie Venedig und Florenz im Jahr 1791. So wie auch diese Städte war Paris immer noch unverändert, genau wie es im 21. Jahrhundert noch erschien. Sie war noch nie zuvor hier gewesen, doch sie hatte Fotos gesehen und war verblüfft, so viele Gebäude und Denkmäler wiederzuerkennen.
Auch hier waren die Straßen großteils gepflastert, voller Pferdekutschen oder gelegentlich einem Pferd mit einem einzelnen Reiter. Die Leute spazierten in aufwändigen Kostümen umher, gemächlich schlendernd, mit aller Zeit der Welt. Wie in den anderen Städten gab es auch hier keine Kanalisation, und Caitlin konnte nicht umhin, den Mist in den Straßen zu bemerken und vor dem schrecklichen Gestank in der Sommerhitze zurückzuweichen. Sie wünschte, sie hätte einen der kleinen Potpourri-Beutel bei sich, die Polly ihr in Venedig gegeben hatte.
Doch im Unterschied zu den anderen Städten war Paris eine Welt für sich. Die Straßen waren hier breiter, die Gebäude niedriger, und sie waren hübscher gestaltet. Die Stadt fühlte sich älter an, wertvoller, schöner. Sie war auch weniger überfüllt: je weiter sie sich von Notre Dame entfernte, umso weniger Leute sah sie. Vielleicht lag es nur daran, dass es spät am Abend war, doch die Straßen schienen fast leer.
Sie ging weiter und weiter, ihre Beine und Füße wurden müde, und sie suchte an jeder Ecke nach einem Anzeichen von Caleb, irgendeinem Hinweis, der sie in eine bestimmte Richtung weisen würde. Es gab nichts.
Alle zwanzig Blocks oder so wandelte sich die Gegend, und wie sie sich anfühlte, wandelte sich mit. Als sie weiter und weiter nach Norden zog, fand sie sich auf einem Hügel wieder, in einem neuen Bezirk, diesmal mit schmalen Gassen und mehreren Kneipen. Als sie an einer Eckkneipe vorbeikam, sah sie einen Mann, der betrunken und bewusstlos an der Wand lehnte. Die Straße war völlig leer, und einen Augenblick lang überflog Caitlin der schlimmste Hungerschmerz. Es fühlte sich an, als würde es ihr den Magen zerreißen.
Sie sah den Mann da liegen, ihr Blick richtete sich auf seinen Hals, und sie sah das Blut darin pulsieren. In jenem Augenblick wollte sie nichts mehr, als sich auf ihn zu stürzen und zu trinken. Das Gefühl war stärker als ein Drang—es war vielmehr wie ein Befehl. Ihr Körper schrie sie an, es zu tun.
Es brauchte jeden Funken von Caitlins Willenskraft, wegzusehen. Sie würde eher verhungern, als einem weiteren Menschen Leid zuzufügen.
Sie blickte sich um und fragte sich, ob es hier einen Wald gab, einen Ort, an dem sie jagen konnte. Während ihr gelegentlich unbefestigte Pfade und Parks in der Stadt aufgefallen waren, hatte sie so etwas wie einen Wald nirgends gesehen.
Genau in dem Moment flog die Tür zur Kneipe auf, und ein Mann stolperte heraus—wurde herausgeworfen, genauer gesagt—von einem der Bediensteten. Er fluchte und schrie sie an, eindeutig betrunken.
Dann drehte er sich herum und nahm Caitlin ins Visier.
Er war stämmig und betrachtete Caitlin mit düsteren Absichten.
Sie fühlte, wie sie sich anspannte. Sie fragte sich erneut verzweifelt, ob sie noch über irgendwelche ihrer Kräfte verfügte.
Sie wandte sich ab und ging davon, ging schneller, doch sie konnte spüren, dass der Mann ihr folgte.
Bevor sie um die Ecke biegen konnte, packte er sie eine Sekunde später von hinten und umklammerte sie. Er war schneller und kräftiger, als sie sich vorstellen konnte, und sie konnte seinen schrecklichen Atem über ihre Schulter riechen.
Aber der Mann war auch betrunken. Er taumelte, obwohl er sie festhielt, und Caitlin konzentrierte sich, dachte an ihr Training, trat zur Seite und warf ihn vornüber, mit einer der Kampftechniken, die Aiden ihr auf Pollepel beigebracht hatte. Der Mann flog durch die Luft und landete auf dem Rücken.
Caitlin überkam ein plötzlicher Flashback nach Rom, dem Kolosseum, dem Kampf im Stadium, von mehreren Kämpfern attackiert. Es war so lebhaft, dass sie für einen Moment vergaß, wo sie war.
Sie schnappte gerade rechtzeitig wieder daraus hervor. Der Betrunkene stand auf, stolperte und ging noch einmal auf sie los. Caitlin wartete bis zur letzten Sekunde, dann machte sie einen Schritt zur Seite, und er flog direkt aufs Gesicht.
Er war benommen, und bevor er sich wieder aufraffen konnte, eilte Caitlin davon. Sie war froh, dass sie ihn bewältigen konnte, doch der Vorfall erschütterte sie. Es bereitete ihr Sorgen, dass sie immer noch Flashbacks nach Rom hatte. Sie hatte auch ihre übernatürliche Stärke noch nicht gespürt. Sie fühlte sich immer noch so zerbrechlich wie ein Mensch. Der Gedanke daran beängstigte sie mehr als alles andere. Sie war nun wahrhaftig allein.
Caitlin blickte um sich, wurde langsam hektisch vor Sorge darüber, wohin sie gehen sollte, was sie als nächstes tun sollte. Ihre Beine schmerzten nach dem vielen Herumlaufen, und langsam überkam sie ein Gefühl der Verzweiflung.
Und da entdeckte sie es. Sie blickte hoch und sah vor sich einen riesigen Hügel. Auf seiner Spitze stand eine große mittelalterliche Abtei. Aus einem unerklärlichen Grund fühlte sie sich zu ihr hingezogen. Der Hügel wirkte entmutigend, doch sie sah nicht, welche andere Wahl sie hatte.
Caitlin erklomm den gesamten Hügel, geradezu erschöpfter als sie je gewesen war, und wünschte, sie könnte fliegen.
Endlich erreichte sie das Eingangstor zur Abtei und blickte zu den massiven Eichentoren hoch. Dieser Ort wirkte uralt. Sie bewunderte die Tatsache, dass diese Kirche schon seit anscheinend tausenden Jahren hier stand, obwohl es 1789 war.
Sie wusste nicht warum, doch sie fühlte sich an diesen Ort gezogen. Da es sonst nichts gab, wo sie hingehen konnte, fasste sie ihren Mut zusammen und klopfte sanft.
Es kam keine Antwort.
Caitlin probierte den Türgriff und stellte erstaunt fest, dass sie offen war. Sie trat ein.
Das uralte Tor ächzte langsam auf, und es dauerte einen Moment, bis sich Caitlins Augen an die gähnende, dunkle Kirche gewöhnt hatten. Während sie sich umblickte, war sie beeindruckt von dem Ausmaß und der Feierlichkeit dieses Ortes. Es war immer noch spät nachts, und diese schlichte, karg gehaltene Kirche, zur Gänze aus Stein erbaut, geschmückt mit Bleiglasfenstern, war überall von großen, heruntergebrannten Kerzen beleuchtet. Am anderen Ende stand ein schlichter Altar, um den herum ein weiteres Dutzend Kerzen standen.
Ansonsten wirkte sie leer.
Caitlin fragte sich einen Moment lang, was sie hier machte. Gab es einen besonderen Grund dafür? Oder spielte ihr Verstand ihr nur Streiche?
Plötzlich öffnete sich eine Seitentür, und Caitlin wirbelte herum.
Zu Caitlins Überraschung kam eine Nonne auf sie zu—kleingewachsen, gebrechlich, in fließende weiße Roben mit einer weißen Kapuze gekleidet. Sie kam langsamen Schrittes direkt auf Caitlin zu.
Sie zog sich die Kapuze vom Kopf, blickte zu ihr hoch und lächelte. Sie hatte große, leuchtend blaue Augen, und schien zu jung für eine Nonne zu sein. Ihr breites Lächeln ließ Caitlin eine Wärme verspüren, die von ihr ausging. Sie spürte auch, dass sie eine von ihnen war: ein Vampir.
„Schwester Paine“, sagte die Nonne sanft. „Es ist eine Ehre, dich hier zu haben.“