Читать книгу Verraten - Морган Райс, Morgan Rice - Страница 8
4. Kapitel
ОглавлениеCaitlin rannte durch ein Blumenfeld. Die Blumen reichten ihr bis zur Taille, und sie pflügte regelrecht einen Pfad hindurch. Die blutrote Sonne stand wie eine riesige Kugel am Horizont.
Mit dem Rücken zur Sonne wartete in der Ferne ihr Vater. Zwar konnte sie sein Gesicht nicht sehen, aber sie erkannte seine Silhouette – daher wusste sie, dass er es war.
Während Caitlin immer weiterlief, weil sie sich so sehnlichst wünschte, ihn endlich zu treffen und in die Arme zu schließen, versank die Sonne schnell hinter dem Horizont und war innerhalb weniger Sekunden vollkommen verschwunden.
Plötzlich herrschte absolute Dunkelheit. Caitlins Vater wartete immer noch auf sie. Sie spürte, dass er sie dazu bewegen wollte, noch schneller zu laufen, um sie endlich umarmen zu können. Aber ihre Beine konnten nicht noch schneller rennen. Obwohl sie sich größte Mühe gab, schien sie ihm nicht näher zu kommen.
Auf einmal ging der Mond auf – ein riesiger, blutroter Mond, der fast den ganzen Himmel ausfüllte. Caitlin konnte alle Einzelheiten an seiner Oberfläche erkennen, sämtliche Erhebungen, Täler und Krater. Jetzt zeichnete sich ihr Vater als Silhouette gegen den Mond ab, und sie hatte das Gefühl, direkt auf den Mond zuzulaufen.
Doch plötzlich kam sie nicht mehr weiter, ihre Beine bewegten sich nicht mehr. Als sie hinuntersah, entdeckte sie, dass die Blumen sich um ihre Fußknöchel und Beine gewunden hatten. Jetzt sahen sie aus wie Schlingpflanzen, und sie waren so dick und stark, dass Caitlin sich nicht mehr rühren konnte.
Und dann glitt eine gigantische Schlange durch das Feld auf sie zu. Panisch versuchte Caitlin, sich loszureißen und zu fliehen, aber sie hatte keine Chance. Die Schlange kam näher, löste sich vom Boden und stürzte sich auf Caitlins Hals. Als sich die langen Fangzähne in ihren Hals bohrten, schrie sie laut auf. Der Schmerz war entsetzlich.
Mit einem Ruck wachte Caitlin auf, saß senkrecht im Bett und atmete heftig. Als sie sich an den Hals griff, spürte sie zwei verkrustete Wunden. Einen Augenblick lang brachte sie ihren Traum und die Gegenwart durcheinander und sah sich nach einer Schlange um. Es war keine zu sehen.
Verwirrt rieb sie sich den Hals. Die Wunden schmerzten noch, aber nicht so stark wie in ihrem Traum. Caitlin atmete tief durch.
Ihre Haut war mit kaltem Schweiß überzogen, ihr Herz schlug immer noch heftig. Als sie sich das Gesicht und die Schläfen abwischte, spürte sie, dass ihr die nassen Haare am Kopf klebten. Wie lange war es her, seit sie zuletzt gebadet hatte? Ihre Haare gewaschen hatte? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Wie lange hatte sie hier gelegen? Und wo war sie überhaupt?
Sie sah sich in dem Raum um. Irgendwie kam ihr der Ort bekannt vor – hatte sie davon geträumt, oder war sie vorher schon einmal wach gewesen? Die Wände waren komplett aus Stein, und es gab ein großes Rundbogenfenster, durch das sie in den Nachthimmel hinausblicken konnte. Das Licht des riesengroßen Vollmonds fiel in den Raum.
Vorsichtig schwang sie die Beine über den Bettrand und rieb sich die Stirn, während sie sich zu erinnern versuchte. Dabei durchschoss ein schrecklicher Schmerz ihre Seite. Als sie an die Stelle fasste, spürte sie eine verschorfte Wunde. Woher stammte die Wunde? War sie angegriffen worden?
Als Caitlin scharf nachdachte, fielen ihr langsam, aber sicher die Einzelheiten wieder ein. Boston. Der Freedom Trail. Die King’s Chapel. Das Schwert. Dann … der Angriff von hinten. Dann …
Caleb. Er war dort gewesen und hatte auf sie hinuntergeblickt. Die Welt war ihr allmählich entglitten, und sie hatte ihn um etwas gebeten. Verwandle mich, hatte sie ihn angefleht …
Als Caitlin erneut die Hände hob und die beiden Wundmale an der Seite ihres Halses fühlte, wusste sie, dass er ihre Bitte erfüllt hatte.
Das erklärte alles. Schlagartig begriff sie, was geschehen war: Sie war verwandelt worden. Dann hatte man sie irgendwohin gebracht, damit sie sich erholen konnte. Wahrscheinlich hatte Caleb aufmerksam über sie gewacht. Vorsichtig bewegte sie Arme und Beine, drehte den Kopf, untersuchte ihren Körper …
Sie fühlte sich anders, so viel war sicher. Irgendwie war sie nicht mehr sie selbst. Eine grenzenlose Kraft durchströmte sie. Sie hatte das Bedürfnis, zu rennen, Wände zu durchbrechen, in die Luft zu springen. Außerdem spürte sie noch etwas anderes: Auf ihrem Rücken unterhalb ihrer Schulterblätter waren zwei leichte Wölbungen. Flügel. Und sie wusste, dass sie sich öffnen würden, wenn sie fliegen wollte.
Caitlin war wie berauscht von ihrer neu entdeckten Kraft und wollte sie unbedingt ausprobieren. Die Decke fiel ihr auf den Kopf – sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier war – und sie wollte unbedingt wissen, wie sich dieses neue Leben anfühlte. Außerdem empfand sie noch etwas, was neu für sie war: Sie fühlte sich draufgängerisch. So, als könnte sie nicht sterben, als könnte sie folgenlos dumme Fehler begehen und mit ihrem Leben spielen. Sie hatte Lust, am Rande des Abgrunds zu balancieren.
Neugierig drehte sie sich um und sah aus dem Fenster in den Nachthimmel hinaus. Das Rundbogenfenster besaß kein Glas und würde in ein mittelalterliches Kloster passen.
Das alte Menschenmädchen Caitlin aus der Vergangenheit hätte gezögert, nachgedacht und gezweifelt, ob sie wirklich tun sollte, was ihr in den Sinn gekommen war. Doch die wiedergeborene Caitlin handelte ohne jedes Zögern. Praktisch in dem Moment, in dem ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, sprintete sie schon los und setzte ihn in die Tat um.
Mit wenigen schnellen Schritten hatte sie das Fenster erreicht, sprang auf die Brüstung und stürzte sich hinaus.
Ihr Instinkt sagte ihr, dass ihre Flügel sich entfalten würden, sobald sie sich in der Luft befand. Falls sie falsch lag, würde sie abstürzen und viele, viele Meter weiter unten auf dem Boden aufschlagen. Doch die wiedergeborene Caitlin hatte nicht das Gefühl, je wieder etwas falsch machen zu können.
Und ihr Gefühl trog sie nicht. Als sie in die Nacht hinaussprang, entfalteten sich automatisch die Flügel hinter ihren Schulterblättern. Das Gefühl zu fliegen und durch die Luft zu gleiten war überwältigend. Die Spannweite ihrer Flügel entzückte sie, und sie war begeistert, die frische Nachtluft im Gesicht, in den Haaren und am ganzen Körper zu spüren. Zwar war Nacht, doch der Mond war so groß, dass es beinahe taghell war.
Als Caitlin nach unten blickte, konnte sie die Welt aus der Vogelperspektive bewundern. Sie hatte Wasser gespürt, und damit lag sie richtig, denn sie befand sich auf einer Insel. In alle Richtungen breitete sich ein großer, wunderschöner Fluss aus, dessen Wasser ganz ruhig war und im Mondlicht glänzte. Noch nie hatte sie so einen breiten Fluss gesehen. In der Mitte lag die winzige Insel, auf der sie geschlafen hatte. Sie war kaum größer als ein paar Morgen, und an einer Seite wurde sie von einem zerfallenden, schottischen Schloss beherrscht – eigentlich war es eine halbe Ruine. Der Rest der Insel war mit dichtem Wald bedeckt.
Caitlin ließ sich von den Luftströmungen tragen, flog mal höher, mal tiefer, drehte sich, stürzte sich in die Tiefe und stieg wieder auf. Dabei umrundete sie die Insel. Das Schloss war groß und prächtig. Teile davon waren zerfallen, aber andere Bereiche, die man von außen nicht sehen konnte, waren absolut intakt. Es gab Innen- und Außenhöfe, Befestigungsmauern, Türme, Wendeltreppen und sehr weitläufige Gartenanlagen. Das Schloss bot genug Platz für eine kleine Armee.
Als sie sich tiefer sinken ließ, entdeckte sie, dass das Schlossinnere von Fackeln erleuchtet war. Außerdem liefen Leute herum. Waren sie Vampire? Ihre Wahrnehmung sagte ihr, dass es so war. Ihresgleichen. Manche von ihnen trainierten, kämpften mit Schwertern und spielten Spiele. Auf der Insel herrschte emsige Geschäftigkeit. Wer waren diese Leute? Warum war Caitlin hier? Hatten sie sie aufgenommen?
Nachdem Caitlin ihre Runde beendet hatte, sah sie den Raum, aus dem sie herausgesprungen war. Sie hatte ganz oben in dem höchsten Turm geschlafen, auf dem sich eine weite, offene Terrasse mit einer Brustwehr befand. Dort stand ein einsamer Vampir. Caitlin musste nicht näher heranfliegen, um herauszufinden, wer dieser Vampir war, denn sie wusste es bereits. Sein Blut floss jetzt in ihren Adern, und sie liebte ihn von ganzem Herzen. Nachdem er sie verwandelt hatte, liebte sie ihn mit einer Inbrunst, die noch stärker war als Liebe. Selbst aus dieser großen Entfernung spürte sie, dass die einsame Gestalt, die vor dem Turmzimmer auf- und abging, Caleb war.
Bei seinem Anblick schlug ihr Herz sofort schneller. Er war da. Er war wirklich da und wartete vor ihrem Zimmer. Die ganze Zeit hatte er gewartet, während sie sich erholt hatte.
Wie viel Zeit wohl inzwischen vergangen war? Nie war er ihr von der Seite gewichen. Trotz allem, was passiert war. Sie liebte ihn mehr, als sie sagen konnte, und nun konnten sie endlich für immer zusammenbleiben.
Er lehnte an der Mauerbrüstung und blickte auf den Fluss hinunter. Dabei wirkte er sowohl besorgt als auch traurig.
Im Sturzflug näherte Caitlin sich dem Schloss – sie wollte Caleb überraschen und mit ihren neuen Fertigkeiten beeindrucken.
Verblüfft sah Caleb auf, dann leuchtete sein Gesicht vor Freude auf.
Doch als Caitlin landen wollte, lief auf einmal etwas schief. Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht, und ihre Koordination stimmte nicht mehr. Sie hatte das Gefühl, zu schnell zu sein, konnte ihren Fehler jedoch nicht mehr rechtzeitig korrigieren. Bei der Landung schürfte sie sich das Knie an der Mauerbrüstung auf und kam so hart auf, dass sie über den Steinboden kullerte.
»Caitlin!«, rief Caleb besorgt und lief zu ihr hinüber.
Keuchend lag sie auf dem harten Stein, während ein neuer Schmerz durch ihr Bein schoss. Aber es ging ihr gut. Wäre sie noch die alte Caitlin gewesen, hätte sie sich bestimmt sämtliche Knochen gebrochen. Doch diese neue Caitlin würde sich im Handumdrehen erholen, wahrscheinlich schon nach wenigen Minuten.
Trotzdem war ihr der Vorfall sehr peinlich, denn eigentlich hatte sie Caleb überraschen und beeindrucken wollen. Jetzt stand sie da wie eine Idiotin.
»Caitlin?«, wiederholte er. Inzwischen kniete er neben ihr und hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. »Alles in Ordnung?«
Mit einem verlegenen Grinsen erwiderte sie seinen Blick.
»Ich wollte dich beeindrucken«, antwortete sie und kam sich ziemlich blöd vor.
Er strich mit der Hand über ihr Bein und untersuchte ihre Verletzung.
»Ich bin kein Mensch mehr!«, schnauzte sie ihn an. »Du musst dir keine Sorgen mehr um mich machen.«
Sofort bereute sie ihre Worte und ihren Ton. Es hatte wie ein Vorwurf geklungen, fast so, als würde sie es bereuen, dass er sie verwandelt hatte. Und ihr Ton hatte sich gegen ihren Willen ziemlich harsch angehört. Dabei liebte sie doch seine Berührung, liebte die Tatsache, dass er sie immer noch beschützen wollte. Eigentlich hatte sie sich bei ihm bedanken wollen, aber jetzt hatte sie es – wie so oft – vermasselt und genau das Falsche zum falschen Zeitpunkt gesagt.
Was für ein furchtbarer erster Eindruck als neue Caitlin! Offensichtlich konnte sie ihren Mund immer noch nicht halten. Manche Dinge änderten sich eben nie, nicht einmal, wenn man unsterblich war.
Als sie sich aufsetzte, um ihm die Hand auf die Schulter zu legen und sich zu entschuldigen, hörte sie plötzlich ein Jaulen und spürte etwas Pelziges im Gesicht. Sie lehnte sich zurück und erkannte schnell, was das war.
Rose, ihr Wolfswelpe. Begeistert stürzte das Tier sich in Caitlins Arme und jaulte aufregt. Dabei leckte es ihr das ganze Gesicht ab. Caitlin musste lachen und umarmte den kleinen Wolf, bevor sie ihn genauer betrachtete.
Zwar war Rose immer noch ein Welpe, aber sie war gewachsen und schon größer, als Caitlin sie in Erinnerung hatte. Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie Rose zuletzt in der King’s Chapel gesehen hatte, wo sie blutend am Boden lag, nachdem Samantha auf sie geschossen hatte. Sie war sich so sicher gewesen, dass der Welpe tot war.
»Sie ist durchgekommen«, erklärte Caleb, der wie immer ihre Gedanken gelesen hatte. »Sie ist zäh, genau wie ihr Frauchen«, fügte er lächelnd hinzu.
Caleb musste die ganze Zeit auf sie beide aufgepasst haben.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, wollte Caitlin wissen.
»Eine Woche lang«, antwortete Caleb.
Eine Woche lang, dachte Caitlin. Unglaublich.
Sie fühlte sich, als hätte sie jahrelang geschlafen, als wäre sie gestorben und wieder zum Leben erwacht, aber in einer neuen Form. Irgendwie war sie wie reingewaschen, so, als würde sie ein Leben als unbeschriebenes Blatt beginnen.
Doch als ihr die ganzen Ereignisse wieder einfielen, begriff sie, dass eine Woche tatsächlich eine Ewigkeit sein konnte. Das Schwert war gestohlen worden. Und ihr Bruder Sam war entführt worden. Eine ganze Woche war bereits verstrichen. Warum hatte Caleb die Täter nicht verfolgt, wo doch jede Minute zählte?
Als Caleb sich erhob, stand Caitlin ebenfalls auf. Sie standen sich gegenüber und sahen sich in die Augen. Ihr Herz schlug heftig, aber sie wusste nicht, was sie tun sollte. Was verlangten die Regeln, nachdem sie nun beide echte Vampire waren? Er war derjenige, der sie verwandelt hatte. Waren sie jetzt ein Paar? Liebte er sie noch genauso sehr wie vorher? Würden sie jetzt für immer zusammen sein?
In gewisser Weise war sie nervöser als je zuvor, zumal auch mehr als je zuvor auf dem Spiel stand.
Langsam streckte sie die Hand aus und berührte seine Wange.
Er erwiderte ihren Blick, und seine Augen strahlten im Mondlicht.
»Danke«, sagte sie leise.
Eigentlich hatte sie sagen wollen: Ich liebe dich, aber es war anders gekommen. Sie hatte ihn fragen wollen: Wirst du für immer bei mir sein? Liebst du mich noch? Doch trotz ihrer neuen Fähigkeiten hatte sie nicht den Mut, es auszusprechen. Sie hätte wenigstens sagen können: Danke, dass du mich gerettet hast, oder: Danke, dass du auf mich aufgepasst hast, oder: Danke, dass du hier bist. Schließlich wusste sie, wie viel er aufgegeben hatte, um hier zu sein, wie viel er geopfert hatte. Aber alles, was sie zustande brachte, war ein einfaches Danke.
Jetzt lächelte er, hob eine Hand, schob ihr die Haare zurück und strich sie ihr hinters Ohr. Dann streichelte er mit dem Handrücken ganz zart ihr Gesicht und musterte sie aufmerksam.
Sie fragte sich, was er wohl denken mochte. Würde er ihr gleich ewige Liebe versprechen? Würde er sie küssen?
Sie ahnte, dass er genau das tun wollte, und bekam auf einmal Angst. Sie fürchtete sich vor ihrem neuen Leben und fragte sich, was passieren würde, wenn die Sache mit ihnen beiden nicht funktionierte. Statt einfach den Augenblick zu genießen, musste sie hingehen und den Zauber zerstören, indem sie ihren großen Mund wieder aufriss.
»Was ist mit dem Schwert passiert?«, fragte sie.
Sein Gesichtsausdruck verwandelte sich von einer Sekunde auf die andere. Aus dem liebevollen Blick voller Leidenschaft wurde ein Ausdruck tiefer Sorge. Es war, als wäre eine dunkle Wolke über einen Sommerhimmel gezogen.
Er drehte sich um und ging einige Schritte auf die Steinbrüstung zu, blieb mit dem Rücken zu ihr stehen und sah auf den Fluss hinaus.
Was bist du nur für eine Idiotin, schalt sie sich. Warum musstest du überhaupt etwas sagen? Warum konntest du nicht einfach zulassen, dass er dich küsst?
Das Schwert war ihr wichtig, das stimmte, aber lange nicht so wichtig wie Caleb. Und doch hatte sie den Moment zerstört.
»Ich fürchte, wir haben das Schwert verloren«, erwiderte Caleb leise, ohne sich umzudrehen. »Es wurde uns gestohlen, zuerst von Samantha, dann von Kyle. Sie haben uns einfach überrumpelt. Ich hätte es vorhersehen müssen, aber ich habe nicht mit ihnen gerechnet.«
Caitlin ging zu ihm und legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter, in der Hoffnung, dass sie die Stimmung vielleicht wieder drehen konnte.
»Sind deine Leute in Ordnung?«, fragte sie.
Als er sich umdrehte, sah er noch besorgter aus als zuvor.
»Nein«, erwiderte er. »Mein Clan ist in großer Gefahr. Und mit jeder Minute, die ich nicht da bin, wächst die Gefahr.«
Caitlin dachte nach.
»Warum bist du dann nicht zu ihnen gegangen?«, wollte sie schließlich wissen.
Doch sie kannte die Antwort schon, bevor er sie aussprach.
»Ich konnte dich nicht allein lassen«, sagte er. »Ich musste einfach wissen, ob es dir gut geht.«
Ist das alles?, dachte Caitlin enttäuscht. Wollte er nur sichergehen, dass es ihr gut ging? Und dann würde er einfach gehen?
Caitlin wusste, was er für sie geopfert hatte, und sie liebte ihn dafür. Trotzdem fragte sie sich jetzt, ob er sich nur um ihr körperliches Wohlbefinden sorgte und es ihm gar nicht um sie beide als Paar ging.
»Nun …«, begann sie zögernd, »dann wirst du also nun einfach gehen … da du jetzt ja weißt, dass es mir gut geht?«
Erneut hörte sie sich viel zu schroff an. Was war los mit ihr? Warum konnte sie nicht netter und sanfter sein, so wie er? Dabei meinte sie es doch gar nicht so. Eigentlich wollte sie doch bloß sagen: Bitte, lass mich nicht allein.
»Caitlin«, sagte er sanft, »ich möchte, dass du mich richtig verstehst. Meine Familie, mein Volk, mein Clan – sie sind in großer Gefahr. Das Schwert ist irgendwo da draußen, und es ist in die falschen Hände geraten. Ich muss zurück zu meinen Leuten, ich muss sie retten. Um ehrlich zu sein, ich hätte schon vor einer Woche aufbrechen sollen … und nachdem ich mich jetzt vergewissert habe, dass du dich gut erholt hast … Na ja, ich will dich nicht verlassen. Aber ich muss meiner Familie helfen.«
»Ich könnte mit dir kommen«, schlug Caitlin hoffnungsvoll vor. »Ich könnte dir helfen.«
»Du bist noch nicht vollständig erholt«, erwiderte er. »Diese Bruchlandung eben war kein Unfall. Es dauert eine Weile, bis Vampire ihre Kräfte vollständig erlangt haben. Und in deinem Fall kommt noch hinzu, dass das Schwert dir eine furchtbare Verletzung zugefügt hat. Die Heilung kann viele Tage oder sogar Wochen dauern. Wenn du mitkommen würdest, könntest du dich verletzen. Ein Schlachtfeld ist momentan nicht der richtige Ort für dich. Aber hier kannst du ausgebildet und unterrichtet werden, deshalb habe ich dich hergebracht.«
Caleb drehte sich um und überquerte die Terrasse, um mit ihr zusammen hinunter in den Hof zu blicken.
Tief unten sahen sie Dutzende Vampire, die im Licht der Fackeln trainierten, mit Schwertern kämpften und Ringkämpfe ausfochten.
»Auf dieser kleinen Insel lebt einer der besten Clans«, erklärte er. »Sie haben zugestimmt, dich aufzunehmen. Sie werden dich unterrichten. Sie werden dich ausbilden. Sie werden dich stärker machen. Und dann, wenn deine Kräfte vollständig entwickelt sind, wenn du vollständig geheilt bist, wird es mir eine Ehre sein, mit dir an meiner Seite zu kämpfen. Doch bis dahin kann ich dich leider nicht mitnehmen. Der Krieg, der vor der Tür steht, wird außerordentlich gefährlich sein. Selbst für einen Vampir.«
Caitlin runzelte die Stirn – sie hatte befürchtet, dass er so etwas sagen würde.
»Aber was ist, falls du nicht zurückkommst?«, fragte sie.
»Wenn ich überlebe, kehre ich zu dir zurück, das verspreche ich dir.«
»Aber wenn du nicht überlebst?«, fragte sie voller Furcht. Sie brachte die Worte kaum über die Lippen.
Caleb wandte sich ab und blickte zum Horizont. Er atmete tief ein, starrte in die Wolken und schwieg.
Das war Caitlins Chance, denn sie wollte unbedingt das Thema wechseln. Er war fest entschlossen, zu gehen, das war deutlich zu sehen, nichts konnte ihn aufhalten. Und genauso offensichtlich war, dass er sie nicht mitnehmen konnte. Als eine Welle der Erschöpfung sie überkam, merkte sie, dass er recht hatte: Sie war noch nicht bereit für den Kampf. Zuerst musste sie ganz gesund werden.
Deshalb wollte sie nicht noch mehr Zeit damit verschwenden, ihn umzustimmen. Sie wollte auch nicht mehr über Vampire, Kriege und Schwerter reden. Nein, sie wollte die kostbare verbleibende Zeit nutzen, um über sie beide zu sprechen. Über Caitlin und Caleb. Ihre gemeinsame Zukunft als Paar. Ihre Liebe zueinander. Sie wollte endlich wissen, wie die Dinge standen.
Außerdem hatte sie inzwischen begriffen, dass sie ihn in der Vergangenheit für selbstverständlich hingenommen hatte – seit ihrer ersten Begegnung. Nie hatte sie innegehalten, ihm in die Augen geblickt und ihm gesagt, wie tief ihre Gefühle für ihn waren. Sie war jetzt eine Frau, und es war Zeit, auf ihn zuzugehen und sich wie eine erwachsene Frau zu benehmen. Ihm zu sagen, was sie wirklich für ihn empfand. Er musste es erfahren. Vielleicht hatte er schon gespürt, wie sehr sie ihn liebte, aber sie hatte es noch nie ausgesprochen. Caleb, ich liebe dich. Ich habe dich vom ersten Moment an geliebt. Und ich werde dich immer lieben.
Caitlins Herz hämmerte, und sie fürchtete sich mehr vor diesem Moment als vor allem anderen. Zitternd hob sie die Hand und berührte seine Wange.
Langsam drehte er sich zu ihr um.
Endlich war sie bereit, ihm zu sagen, was in ihr vorging.
Doch als sie es versuchte, brachte sie kein Wort hervor.
Gleichzeitig blitzte Besorgnis in seinen Augen auf. Dann öffnete er den Mund, um ihr etwas zu sagen.
»Caitlin, es gibt etwas, was ich dir sagen muss …«, setzte er an.
Doch er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden.
Plötzlich hörten sie, dass eine Tür aufging, und Caitlin spürte sofort, dass sie nicht mehr allein waren.
Sie drehten sich um, um herauszufinden, wer da gekommen war.
Es war eine Vampirfrau. Eine unglaublich schöne Frau. Sie war größer und schlanker als Caitlin und hatte eine bessere Figur, außerdem lange rote Haare und leuchtend grüne Augen.
Als Caitlin erkannte, wer sie war, sank ihr das Herz.
Nein, das konnte nicht sein.
Doch sie war es tatsächlich: Sera, Calebs Exfrau.
Caitlin war ihr nur einmal kurz in The Cloisters begegnet, doch sie hatte sie nicht vergessen.
Mit der Eleganz eines Geschöpfes, das schon seit Jahrtausenden auf diesem Planeten weilte, kam Sera auf sie zu. Voller Selbstvertrauen. Ohne Caitlin aus den Augen zu lassen, stellte sie sich neben Caleb.
Dann hob sie eine blasse, wunderschöne Hand und legte sie Caleb langsam auf die Schulter. Voller Verachtung blickte sie auf Caitlin hinunter.
»Caleb?«, sagte sie sanft mit einem unheilvollen Lächeln auf dem Gesicht. »Hast du ihr nicht von uns erzählt?«
Diese wenigen Worte bohrten sich wie ein Dolch in Caitlins Herz.