Читать книгу Arena Eins: Die Sklaventreiber - Морган Райс, Morgan Rice - Страница 4

TEIL I
EINS

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Dieser Tag heute ist noch unversöhnlicher als die meisten. Der Wind peitscht unablässig, fegt den Schnee in Klumpen von den schweren Kiefern und direkt in mein Gesicht, während ich mich den Berghang hinaufkämpfe. Meine Füße, in um eine Größe zu kleine Wanderschuhe gequetscht, verschwinden in fünfzehn Zentimetern Schnee. Ich rutsche und schlittere, es fällt mir schwer, Fuß zu fassen. Der Wind weht in Böen, so kalt, dass ich keine Luft mehr bekomme. Ich fühle mich, als ob ich in eine lebendige Schneeweltkugel hineinginge.

Bree erzählt mir, es wäre Dezember. Sie mag es, die Tage bis Weihnachten herunterzuzählen, jeden Tag kratzt sie die Zahlen von einem alten Kalender ab, den sie gefunden hat. Das macht sie mit soviel Enthusiasmus, dass ich es nicht übers Herz bringe, ihr zu sagen, dass noch ganz lange nicht Dezember ist. Ich werde ihr nicht erklären, dass ihr Kalender drei Jahre alt ist, und nicht, dass wir nie einen neuen bekommen werden, weil sie an dem Tag, als die Welt endete, die Produktion eingestellt haben. Ich werde ihr ihr Fantasiebild nicht rauben. Dafür sind große Schwestern eben da.

Ohnehin klammert sich Bree an ihre Überzeugungen, und sie hat immer geglaubt, dass Schnee Dezember bedeutet. Selbst, wenn ich es ihr sagte, würde es vermutlich nichts an ihrer Meinung ändern. So sind eben Zehnjährige.

Was Bree sich zu erkennen weigert, ist, dass der Winter hier oben früh anfängt. Wir sind hier hoch oben in den Catskills, und hier ticken die Uhren anders, die Jahreszeiten wechseln in einem anderen Rhythmus. Hier, drei Stunden nördlich von dem Ort, der einmal New York City war, fallen die Blätter schon Ende August und verteilen sich über die Höhenzüge, soweit das Auge reicht.

Einst war unser Kalender aktuell. Ich erinnere mich noch, wie ich bei unserer Ankunft vor drei Jahren den ersten Schnee sah, wie ich ihn genauer begutachtete, weil ich es nicht glauben konnte. Ich verstand nicht, wie auf der Kalenderseite Oktober stehen konnte. Ich nahm an, dass dieser frühe Schneefall nur eine Laune der Natur war. Aber ich lernte schnell, dass dem nicht so war. Diese Berge waren einfach hoch genug, einfach kalt genug, dass der Winter den Herbst grausam verschlingen konnte.

Wenn Bree nur einmal im Kalender zurückblättern würde, würde sie das alte Jahr dort stehen sehen, in großen, kitschigen Ziffern: 2117. Ganz offensichtlich drei Jahre alt. Ich rede mir selbst ein, sie wäre einfach zu sehr in ihrer vorfreudigen Aufgeregtheit gefangen, um genauer nachzusehen. Das hoffe ich zumindest. Aber in letzter Zeit beginnt ein Teil von mir, den Verdacht zu hegen, dass sie es tatsächlich weiß, dass sie es nur bevorzugt, sich ihrem Fantasiebild hinzugeben. Ich kann es ihr nicht übelnehmen.

Selbstverständlich haben wir schon seit Jahren keinen funktionstüchtigen Kalender mehr. Auch kein Handy, keinen Computer, keinen Fernseher, kein Radio, kein Internet und keinerlei andere Technologie – ganz zu schweigen von Strom oder fließend Wasser. Dennoch haben wir es irgendwie geschafft, nur wir beide, drei Jahre lang auf diese Weise. Die Sommer waren erträglich, wir mussten an weniger Tagen hungern. Zumindest können wir im Sommer angeln, und die Bergbäche scheinen immer Lachse zu führen. Beeren gibt es auch, und sogar ein paar wilde Gärten mit Apfel- und Birnbäumen, die noch immer Früchte tragen, nach all dieser Zeit. Gelegentlich schaffen wir es sogar, ein Kaninchen zu fangen.

Die Winter dagegen sind unerträglich. Alles ist erfroren, oder tot, und jedes Jahr bin ich mir sicher, dass wir es nicht schaffen. Aber dieser Winter ist der schlimmste von allen. Dauernd sage ich mir, dass es schon werden wird, aber jetzt haben wir schon seit Tagen nicht mehr anständig gegessen, und der Winter hat gerade erst angefangen. Wir sind beide vom Hunger geschwächt, und jetzt ist Bree auch noch krank. Das verheißt nichts Gutes.

Während ich mich mühsam den Berg hinaufschleppe, auf der Suche nach unserer nächsten Mahlzeit dieselben freudlosen Schritte wie gestern erneut gehe, macht sich das Gefühl in mir breit, dass uns unser Glück verlassen hat. Nur der Gedanke an Bree, wie sie dort zuhause liegt und wartet, treibt mich voran. Ich höre auf, mich weiter zu bemitleiden, und halte mir ihr Gesicht vor Augen. Ich weiß, dass ich keine Medizin finden kann, aber ich hoffe, es ist nur ein Fieber, das vorübergehen wird, und dass ein gutes Essen und etwas Wärme alles sind, dessen sie bedarf.

Was sie wirklich bräuchte, ist ein Feuer. Aber ich entfache nie mehr eine Flamme in unserer Feuerstelle, ich kann den Rauch nicht riskieren, nicht den Geruch, der einen Sklavenschlepper auf unsere Spur bringen könnte. Aber heute werde ich ihr eine Überraschung bereiten und das Risiko eingehen, nur für eine kurze Weile. Für ein Feuer würde Bree alles tun, das wird ihre Lebensgeister heben. Wenn ich dann wenigstens noch eine Mahlzeit dazu auftreiben kann – und sei es so etwas Kleines wie ein Kaninchen – wird sie vollkommen genesen. Nicht nur körperlich. In diesen letzten Tagen habe ich gespürt, wie sie beginnt, die Hoffnung zu verlieren – ich kann es in ihren Augen sehen – und ich empfinde die dringende Notwendigkeit, dass sie stark bleibt. Ich weigere mich, mich zurückzulehnen und ihr dabei zuzusehen, wie sie entschwindet, wie es mit Mama geschehen ist.

Ein neuer Windstoß trifft mich im Gesicht, und dieser ist so lang und kräftig, dass ich meinen Kopf senken und warten muss, bis er vorbei ist. Der Wind dröhnt in meinen Ohren, und ich würde alles für einen richtigen Wintermantel geben. Ich trage nur einen abgetragenen Kapuzenpullover, einen, den ich vor Jahren am Straßenrand gefunden habe. Ich glaube, er hat einmal einem Jungen gehört, aber das ist gut, deswegen sind die Ärmel lang genug, um meine Hände zu bedecken, und können fast Handschuhe ersetzen. Mit 1,67 m bin ich nicht mehr wirklich klein, wer auch immer diesen Kapuzenpullover getragen hat, muss also auch schon recht groß gewesen sein. Manchmal frage ich mich, ob es ihn stören würde, dass ich seine Kleidung trage. Aber dann wird mir bewusst, dass er wahrscheinlich tot ist. Genau wie alle anderen.

Meine Hosen sind nicht viel besser. Es ist mir peinlich, das festzustellen, aber ich trage immer noch dasselbe Paar Jeans, das ich an hatte, als wir vor all diesen Jahren aus der Stadt entkommen sind. Wenn es eines gibt, was ich bedauere, dann, dass wir so hektisch aufgebrochen sind. Ich vermute, ich habe angenommen, ich würde hier oben irgendwo Kleidung finden, dass vielleicht noch ein Geschäft geöffnet hätte, oder es eine Heilsarmee gäbe. Das war dumm von mir: Natürlich waren alle Geschäfte längst geplündert worden. Es war, als ob sich die Welt über Nacht von einer Welt des Reichtums in eine Welt der Kargheit verwandelt hätte. Ich hatte immerhin ein paar Kleidungsstücke gefunden, die in Schubladen im Haus meines Vaters herumgelegen hatten. Diese hatte ich Bree gegeben, ich war froh, dass wenigstens ein paar von seinen Sachen, seine warme Unterwäsche und seine Socken, sie warmhalten konnten.

Endlich hört der Wind wieder auf und ich hebe den Kopf und beeile mich, bevor er wieder beginnen kann, ich verdoppele meine Geschwindigkeit, bis ich das Plateau erreiche.

Als ich oben ankomme, schwer atmend, meine Beine brennend, sehe ich mich langsam um. Hier oben stehen weniger Berge, und in der Ferne gibt es einen kleinen Bergsee. Er ist gefroren wie alle anderen, und die Sonne darauf blendet so sehr, dass ich blinzeln muss.

Sofort sehe ich zu meiner Angel hinüber, der, die ich am Vortag dort gelassen habe, eingeklemmt zwischen zwei Felsen. Sie steht schräg über dem See, eine lange Schnur daran hängt in das kleine Loch im Eis. Wenn die Rute gebogen ist, heißt es, dass Bree und ich heute Abendessen haben werden. Wenn nicht, weiß ich, dass es nicht funktioniert hat – wieder nicht funktioniert hat. Ich eile zwischen ein paar letzten Bäumen hindurch, durch den Schnee, und sehe genauer nach.

Die Rute ist gerade. Natürlich.

Mir schwindet der Mut. Ich überlege, ob ich rausgehen soll aufs Eis, meine kleine Axt benutzen und woanders ein Loch bohren. Aber ich weiß schon, dass das nichts ändern wird. Das Problem ist nicht die Position – das Problem ist der See. Der Boden ist zu gefroren, als dass ich Würmer ausgraben könnte, und ich wüsste nicht einmal, wo ich nach ihnen suchen sollte. Ich bin kein geborener Jäger oder Fallensteller. Hätte ich gewusst, dass ich hier oben enden würde, hätte ich meine ganze Kindheit bei den Pfadfindern verbracht und Überlebenstechniken gelernt. Aber nun stelle ich fest, dass ich fast nichts kann. Ich weiß nicht, wie man Fallen stellt, und meine Angeln fangen selten etwas.

Als Tochter meines Vaters, eines Marines, gibt es nur eine Sache, in der ich gut bin – ich weiß, wie man kämpft – aber das ist hier oben nutzlos. Ich  könnte mich gut gegen Zweibeiner verteidigen, aber gegen das Tierreich bin ich hilflos. Schon als ich ganz klein war, bestand mein Vater darauf, dass ich seine Tochter war – also die Tochter eines Marines – und war stolz darauf. Er wollte in mir auch den Sohn sehen, den er nie hatte. Er brachte mir Boxen bei, Wrestling, alle möglichen Kampfsportarten … Ich hatte endlosen Unterricht darin, wie man ein Messer genutzt, wie man ein Gewehr abschießt, wie man Druckpunkte findet, wie man schmutzig kämpft. Vor allem aber bestand er darauf, dass ich hart sein sollte, dass ich keine Angst zeigen sollte, und dass ich niemals weinen sollte.

Ironischerweise hatte ich nie die Gelegenheit, auch nur irgendetwas von dem zu verwenden, was er mir beigebracht hatte, und hier oben nutzt es mir noch weniger. Es ist niemand anderes zu sehen. Was ich wirklich wissen muss, ist, wie man Essen findet – nicht, wie man jemanden schlägt. Und wenn ich jemals jemanden treffen sollte, werde ich ihn nicht angreifen, sondern um Hilfe bitten.

Ich denke angestrengt nach und mir fällt ein, dass es hier oben noch einen anderen See gibt, einen kleineren. Ich habe ihn einmal im Sommer gesehen, als ich abenteuerlustig war und den Berg weiter hochgewandert bin. Es sind steile vierhundert Meter, und ich habe seit dem nicht hoch einmal dort hochgegangen.

Ich sehe auf und seufze. Die Sonne geht schon unter, ein verdrießlicher Winter-Sonnenuntergang in einem rötlichen Farbton, und ich bin schon schwach und müde und durchgefroren. Ich werde meine Kraft noch brauchen, um den Berg wieder herunterzukommen. Das letzte, was ich will, ist, noch höher zu klettern. Aber eine kleine Stimme in mir drin drängt mich, weiter zu klettern. Je mehr Zeit ich in diesen Tagen alleine verbringe, desto lauter wird die Stimme seines Vaters in meinem Kopf. Ich verabscheue das und will sie abstellen, aber ich kann es irgendwie nicht.

Hör auf, rumzuheulen und geh weiter, Moore!

Papa mochte es immer, mich mit dem Nachnamen anzureden. Ich mochte das nicht, aber das war ihm egal.

Wenn ich jetzt zurückgehe, hat Bree heute Abend nichts zu essen. Der See da oben ist die beste Chance, die ich noch habe, noch etwas zu essen zu bekommen. Außerdem will ich, dass Bree ein Feuer hat, und das Holz hier unten ist alles durchnässt. Dort oben ist der Wind stärker, da kann ich vielleicht genug trockenes Holz finden. Noch einmal sehe ich den Berg hinauf und entschließe mich, es zu versuchen. Ich senke den Kopf und mache mich auf den Weg, die Angel nehme ich mit.

Jeder Schritt schmerzt, eine Million scharfer Nadeln scheint in meine Oberschenkel zu stechen, die eisige Luft bohrt in meinen Lungen. Der Wind wird stärker und der Schnee peitscht wie Sandpapier in mein Gesicht. Hoch oben kreischt ein Vogel, als würde er sich über mich lustigmachen. Gerade, als ich das Gefühl habe, ich könnte keinen Schritt mehr weitergehen, erreiche ich das nächste Plateau.

Dieses hier oben ist anders als all die anderen: Dicht mit Bäumen bewachsen, so dass man kaum weiter als drei Meter sehen kann. Der Himmel ist über ihrem riesigen Zelt verborgen, und der Schnee ist mit grünen Nadeln übersät. Die riesigen Bäume schaffen es auch, den Wind abzuhalten. Ich fühle mich, als hätte ich ein kleines privates Königreich betreten, abgeschnitten vom Rest der Welt.

Ich halte an und drehe mich um, um die Aussicht aufzusaugen: Die Aussicht ist faszinierend. Ich hatte immer gedacht, dass wir vom Haus meines Vaters aus schon eine herrliche Aussicht hatten, von hier aus, ganz oben, ist sie einfach spektakulär. Berggipfel erheben sich auf allen Seiten, und dahinter, in der Ferne, kann ich den Hudson River glitzern sehen. Ich sehe auch die Straßen, die sich durch die Berge schlängeln, bemerkenswert unversehrt. Wahrscheinlich, weil so wenig Menschen jemals hier hochkommen. Tatsächlich habe ich hier noch nie ein Auto oder ein anderes Fahrzeug gesehen. Trotz des Schnees sind die Straßen frei. Die steilen, kurvigen Straßen leuchten in der Sonne, leiten die Flüssigkeit perfekt ab, erstaunlicherweise ist der Schnee wirklich fast weggeschmolzen.

Plötzlich besorgt mich das eher. Ich bevorzuge es, wenn die Straßen mit Schnee und Eis überzogen sind, wenn sie für Fahrzeuge unpassierbar sind, denn die einzigen Menschen, die heutzutage Autos und Benzin haben, sind die Sklaventreiber – gnadenlose Kopfgeldjäger, die arbeiten, um die Arena Eins zu versorgen. Sie patrouillieren überall, suchen nach Überlebenden, kidnappen sie und bringen sie als Sklaven in die Arena. Dort, so habe ich es gehört, müssen sie dann zur Unterhaltung der Leute tödliche Kämpfe ausfechten.

Bree und ich hatten Glück. In den Jahren hier oben haben wir keine Sklaventreiber gesehen – aber ich glaube, das liegt nur daran, dass wir so weit oben leben, so abgeschieden. Einmal habe ich den Motor eines Sklaventreibers aufheulen hören, in weiter Ferne, auf der anderen Seite des Flusses. Ich weiß, dass sie da unten sind, irgendwo, und patrouillieren. Und ich gehe kein Risiko ein – ich sorge dafür, dass wir nicht auffallen, wir verbrennen nur Holz, wenn es nötig ist, und ich passe immer genau auf Bree auf. Meistens nehme ich sie auch zur Jagd mit – ich hätte sie auch heute mitgenommen, aber sie ist zu krank.

Ich wende mich wieder dem Plateau und dem kleineren See zu. Fest gefroren glänzt er in der Nachmittagssonne, scheint wie ein verlorener Juwel, versteckt hinter den Bäumen. Ich nähere mich dem See, gehe vorsichtig ein paar Schritte auf das Eis, um sicherzugehen, dass das Eis nicht bricht. Sobald ich sicher bin, gehe ich die nächsten Schritte. Ich finde eine Stelle, nehme die kleine Axt von meinem Gürtel und schlage zu, mehrmals. Ein Riss entsteht. Ich nehme mein Messer, knie mich hin und steche direkt ins Zentrum des Risses. Mit der Messerspitze arbeite ich so lange, bis ich ein kleines Loch gebohrt habe, gerade groß genug, dass ein Fisch hindurchpassen würde.

Ich eile zurück ans Ufer, rutsche und schlittere wieder, dann klemme ich die Angelrute zwischen zwei Äste, wickle die Schnur an und renne zurück und lasse sie in das Loch sinken. Ich zupfe ein paar Mal daran, in der Hoffnung, dass das Glitzern des Metalls ein paar lebende Wesen unter dem Eis anziehen wird. Aber ich kann nichts gegen das Gefühl tun, dass es ein nutzloses Unterfangen ist, dass, was auch immer in diesen Bergseen gelebt hat, schon lange tot ist.

Hier oben ist es sogar noch kälter. Ich kann nicht einfach hier stehen und die Angel anstarren. Ich muss mich bewegen. Ich gehe vom See weg, meine abergläubische Seite sagt mir, ich werde wahrscheinlich genau dann einen Fisch fangen, wenn ich nicht hinsehe. Ich laufe kleine Kreise um die Bäume herum, reibe mir die Hände, versuche, warm zu bleiben. Das hilft etwas.

Da fällt mir das trockene Holz wieder ein. Ich sehe hinab und suche nach etwas, das sich anzünden ließe, aber es ist sinnlos. Der Boden ist mit Schnee bedeckt. Ich sehe in die Bäume hoch, aber auch die Stämme und Äste sind fast komplett mit Schnee bedeckt. Nur in der Ferne kann ich ein paar Bäume sehen, von denen der Wind den Schnee heruntergeweht hat. Ich mache mich auf den Weg und inspiziere die Borke, mit den Händen. Ich bin erleichtert, dass einige Zweige trocken sind. Ich nehme meine Axt heraus und hacke einen der größeren Zweige ab. Alles, was ich brauche, ist eine Armvoll Holz, und dieser Ast ist perfekt.

Ich fange ihn auf, als er herunterfällt, damit er nicht im Schnee landet, lehne ihn gegen den Baumstamm und zerhacke ihn in zwei Hälften. Das mache ich wieder und wieder, bis ich einen kleinen Haufen Anzündmaterial zusammen habe, gerade so, dass ich ihn noch mit meinen Armen tragen kann. Ich setze mich in eine Nische zwischen den Ästen, trocken und geschützt vor dem Schnee unten.

Ich sehe mich um und inspiziere die anderen Baumstämme. Als ich genauer hinsehe, fällt mir etwas auf. Ich nähere mich einem der Bäume, schaue noch genauer hin und stelle fest, dass die Borke anders ist als bei den anderen Bäumen. Ich sehe hoch und stelle fest, dass es keine Pinie ist, sondern ein Ahorn. Ich bin überrascht, so weit hier oben einen Ahorn zu finden, und noch überraschter, dass ich ihn tatsächlich erkenne. Tatsächlich ist ein Ahorn wahrscheinlich das Einzige in der freien Natur, das ich erkennen würde. Eine Erinnerung kommt zurück:

Einmal, als ich klein war, hatte mein Vater sich in den Kopf gesetzt, mich nach draußen in die Natur zu bringen. Gott weiß warum, aber er nahm mich mit, um Ahorne anzuzapfen. Wir fuhren stundenlang in einen gottverlassenen Teil des Landes, ich trug einen Metalleimer, er ein Rohr, und dann verbrachten wir Stunden damit, die mit einem Führer Wälder zu durchwandern, auf der Suche nach dem perfekten Ahorn. Und ich erinnere mich an den Ausdruck von Enttäuschung in seinem Gesicht, als er den ersten Baum angezapft hatte, aber nur eine klare Flüssigkeit in unseren Eimer lief. Er hatte Sirup erwartet.

Unser Führer lachte ihn aus und erklärte ihm, dass Ahorne keinen Sirup produzierten, sondern Saft. Der Saft musste erst zum Sirup eingekocht werden. Der Prozess dauerte Stunden, sagte er. Man brauchte über fünfzig Liter Saft, um einen Liter Sirup herzustellen.

Mein Vater sah sich den überfließenden Eimer Saft in seiner Hand an und wurde rot, als ob jemand ihm schlechte Ware angedreht hätte. Er war der stolzeste Mann, den ich je getroffen hatte, und wenn er irgendetwas noch mehr hasste, als dumm dazustehen, war es, wenn man sich über ihn lustig machte. Als der Mann lachte, warf er seinen Eimer nach ihm, verpasste ihn knapp, er nahm meine Hand und wir stürmten davon.

Danach nahm er mich nie wieder in die freie Natur mit.

Mir machte das nichts aus – mir hatte der Ausflug tatsächlich gefallen, auch wenn er noch den ganzen Rückweg über stinksauer im Auto saß. Ich hatte es geschafft, eine kleine Tasse von dem Saft einzupacken, bevor er mich mitgenommen hatte, und ich erinnere mich noch daran, dass ich auf der Autofahrt zurück heimlich daran getrunken habe, als er nicht hinsah. Ich mochte den Saft, er schmeckte wie Zuckerwasser.

Nun, wo ich hier vor diesem Baum stehe, erkenne ich ihn deshalb. Diese Sorte, so hoch oben, ist dünn und mager, und ich wäre überrascht, wenn der Baum überhaupt Saft hätte. Aber ich habe nichts zu verlieren. Ich nehme mein Messer heraus und steche in den Baum hinein, wieder und wieder an derselben Stelle. Dann bohre ich mit dem Messer tiefer und tiefer, hin und her, um das Loch zu erweitern. Ich denke nicht, dass wirklich etwas passieren wird.

Demensprechend überrascht bin ich, als ein Tropfen Saft austritt. Ich nehme ihn mit dem Finger auf, berühre ihn und hebe ihn hoch. Ich fühle den Zuckerschock sofort und erkenne den Geschmack. Genau, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ich kann es kaum glauben.

Der Saft tritt jetzt schneller aus, und ich verliere viel davon, weil er den Stamm hinunterläuft. Verzweifelt sehe ich mich nach etwas um, um ihn einzufangen – ein Eimer oder etwas Ähnliches – aber da ist natürlich keiner.

Dann fällt mir meine Thermoskanne wieder ein.  Ich ziehe meine Plastikkanne aus meinem Taillenbund und leere ihn aus. Frisches Wasser kann ich immer bekommen, so lange so viel Schnee liegt – aber dieser Saft ist wertvoll. Ich halte die leere Thermoskanne gegen den Baum, wünschte, ich hätte ein vernünftiges Rohr. Ich schiebe das Plastik so dicht an den Stamm, wie ich kann, und schaffe es, viel aufzufangen. Die Kanne füllt sich langsamer, als ich es gerne hätte, aber innerhalb von ein paar Minuten habe ich immerhin die halbe Kanne voll.

Der Saftstrom hört auf. Ich warte ein paar Sekunden, ob er noch einmal anfängt, aber das macht er nicht.

Ich sehe mich um und sehe einen weiteren Ahorn in etwa drei Metern Entfernung. Ich eile hinüber, setze aufgeregt erneut mein Messer an und steche dies Mal hart zu, stelle mir schon vor, wie ich die Kanne ganz füllen kann, stelle mir die Überraschung auf Brees Gesicht vor, wenn sie ihn kostet. Vielleicht ist der Saft nicht nahrhaft, aber er wird sie sicher glücklich machen.

Dieses Mal aber, als mein Messer auf den Stamm trifft, ertönt ein scharfes, splitterndes Geräusch, das ich nicht erwartet hatte, danach knirscht das Holz. Ich sehe, wie der ganze Baum sich beugt, und mir wird klar, zu spät, dass dieser Baum, bedeckt von einer Eisschicht, schon tot ist. Mein Messer war das letzte Bisschen, was er noch brauchte, um umzufallen.

Einen Moment später stürzt der ganze Baum, mindestens sechs Meter hoch, um und kracht auf den Boden. Er wirbelt eine ungeheure Wolke aus Schnee und Kiefernnadeln auf. Ich krümme mich zusammen, weil ich Angst habe, dass ich jemanden auf mich aufmerksam gemacht haben könnte. Ich bin wütend auf mich selbst. Das war unvorsichtig und dumm. Ich hätte den Baum zuerst gründlicher untersuchen müssen.

Einige Momente später jedoch normalisiert sich mein Herzschlag und mir wird klar, dass hier oben sonst niemand ist. Ich kann wieder klar denken und ich erkenne, dass Bäume im Wald ständig von alleine umfallen, daraus könnte man nicht schließen, dass da ein Mensch ist. Als ich auf den Platz schaue, wo bis eben noch der Baum gestanden hat, muss ich deshalb zwei Mal hinschauen, als ich etwas entdecke, so ungläubig bin ich.

Da hinten in der Ferne, hinter ein paar weiteren Bäumen, direkt in den Berghang hineingebaut, steht ein kleines Steinhäuschen. Es ist winzig, perfekt quadratisch, etwa viereinhalb Meter breit und tief, etwa dreieinhalb Meter hoch, die Wände bestehen aus alten Steinblöcken. Ein kleiner Kamin erhebt sich über dem Dach, und in die Wände sind kleine Fenster eingebaut. Die Holztür, in Bogenform, ist angelehnt.

Dieses kleine Häuschen ist so gut verdeckt, passt sich so perfekt in seine Umgebung ein, dass ich es sogar, während ich es schon anschaue, kaum ausmachen kann. Das Dach und die Wände sind mit Schnee bedeckt, und der freiliegende Stein passt sich perfekt an die Landschaft an. Das Häuschen sieht uralt aus, als wäre es vor Hunderten von Jahren gebaut worden. Ich habe keine Ahnung, warum es hier steht, wer es gebaut haben könnte oder warum. Vielleicht ein Mitarbeiter eines State Parks. Vielleicht ein Einsiedler oder ein Verrückter.

Es sieht aus, als wäre jahrelang niemand dort gewesen. Ich sehe mir den Waldboden genau an, aber das sind weder menschliche Fußspuren noch Spuren von Tieren. Ich erinnere mich, dass der Schnee schon seit Tagen fällt, und rechne nach: Hier kann seit mindestens drei Tagen niemand hinein- oder hinausgegangen sein.

Mein Herz pocht beim Gedanken daran, was in dem Häuschen sein könnte. Essen, Kleidung, Medizin, Waffen, Material – alles wäre ein Geschenk des Himmels.

Vorsichtig bewege ich mich über die freie Fläche, sehe über meine Schulter nach, um sicherzugehen, dass mir niemand folgt. Ich bewege mich schneller, hinterlasse große und auffällige Spuren im Schnee. Als ich an der Tür ankomme, drehe ich mich noch einmal um, dann lausche ich einige Sekunden lang. Ich greife nach meiner Axt und schlage mit ihrem Stiel fest gegen die Tür, ein lautes und nachhallendes Geräusch, als letzte Warnung an alle Tiere, die vielleicht drinnen sein könnte.

Keine Reaktion.

Schnell schiebe ich die Tür auf, drücke den Schnee zurück und trete ein.

Es ist dunkel hier drinnen, das einzige Licht ist der letzte Sonnenschein des Tages, der durch die kleinen Fenster eindringt, meine Augen brauchen einen Moment, um sich daran zu gewöhnen. Ich warte mit dem Rücken zur Tür, auf der Hut für den Fall, dass doch Tiere diesen Ort als Rückzugsraum nutzen. Aber nach einigen weiteren Sekunden haben meine Augen sich an das Schummerlicht gewöhnt und es ist klar, dass ich alleine bin.

Als erstes fällt mir auf, dass es warm ist. Vielleicht, weil es so klein ist und die Decke niedrig, und weil es direkt in den Bergstein gebaut ist. Oder vielleicht, weil vor dem Wind geschützt ist. Sogar, obwohl das Wetter durch die Fenster eindringt, sogar, obwohl die Tür nur angelehnt ist, muss es hier drinnen mindestens fünfzehn Grad wärmer sein – viel wärmer, als es im Haus meines Vaters jemals war, sogar mit brennendem Feuer. Das Haus meines Vaters war von Anfang an billig gebaut worden, mit papierdünnen Wänden und einer Plastikfassade, an der Ecke eines Hügels, der immer direkt in der Windrichtung zu liegen schien.

Aber dieser Ort hier ist anders. Die Steinwände sind so dick und gut gebaut, ich fühle mich sicher und gut aufgehoben hier. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie warm es hier drin werden könnte, wenn ich die Tür schließen, die Fenster vernageln und ein Feuer machen würde – der Kamin scheint in Ordnung zu sein.

Das Innere besteht aus einem großen Raum, und ich versuche, die Dunkelheit weiter zu durchdringen, den Boden abzusuchen, nach irgendetwas, das ich gebrauchen kann. Der Raum sieht wirklich aus, als hätte ihn seit dem Krieg keiner mehr betreten. Alle anderen Häuser, die ich gesehen hatte, hatten zerschmetterte Fenster, Müll lag herum, und ganz offensichtlich war alles Brauchbare bereits mitgenommen worden, sogar die Verkabelungen. Aber nicht in diesem Haus. Es sieht unberührt und sauber und ordentlich aus, als wäre der Besitzer einfach eines Tages aufgestanden und gegangen. Ich frage mich, ob das noch vor dem Krieg war. Die Spinnwegen und die unglaubliche Lage, so gut versteckt hinter den Bäumen, lassen darauf schließen. Hier war seit Jahrzehnten niemand.

An der anderen Wand hinten kann ich die Konturen eines Gegenstandes erkennen, und ich mache mich auf den Weg dorthin. Ich halte die Hände vor mir, taste mich in die Dunkelheit. Als ich anfasse, stelle ich fest, dass es eine Kommode ist. Ich fahre mit meinen Fingern über die glatte Holzoberfläche und kann den Staub fühlen. Ich ertaste mit meinen Fingern kleine Knäufe, von Schubladen. Ich ziehe vorsichtig eine nach der anderen auf. Es ist zu dunkel, um zu sehen, also fasse ich mit der Hand in jede Schublade. In der ersten ist nichts. Auch nicht in der zweiten. Jetzt öffne ich die anderen schnell, meine Zuversicht schwindet. In der fünften Schublade jedoch kann ich hinten, auf der Rückseite, etwas erfühlen. Langsam ziehe ich es heraus.

Ich halte es ins Licht hoch, und zuerst kann ich es nicht erkennen. Aber ich kann die verräterische Aluminiumfolie fühlen und mir wird klar: Ein Schokoriegel. Einige Bissen fehlen, aber er ist noch in seiner Originalverpackung, und das Meiste ist noch da. Ich packe ihn nur ein bisschen aus, halte ihn an meine Nase und rieche daran. Ich kann es nicht glauben: Echte Schokolade. Wir hatten seit dem Krieg keine Schokolade mehr.

Der Geruch bringt meinen stechenden Hunger zurück und ich brauche all meine Willenskraft, um den Riegel nicht aufzureißen und zu verschlingen. Ich zwinge mich, stark zu bleiben, verpacke ihn wieder sorgfältig und verstaue ihn in meiner Tasche. Ich werde warten und ihn gemeinsam mit Bree genießen. Ich lächle und freue mich schon auf ihren Gesichtsausdruck, wenn sie ihren ersten Bissen nimmt. Er wird unbezahlbar sein.

Schnell durchsuche ich die restlichen Schubladen in der Hoffnung, noch weitere Schätze zu finden. Aber alle anderen sind leer. Ich gehe wieder durch das Zimmer, gehe es der Länge und der Breite nach ab, in alle vier Ecken, aber da scheint nichts zu sein.

Plötzlich trete ich auf etwas Weiches. Ich knie mich hin und halte es hoch, ins Licht. Ich bin verblüfft: Ein Teddybär. Ziemlich abgenutzt, und ein Auge fehlt, aber trotzdem, Bree liebt Teddybüren und vermisst ihren von früher. Sie wird sich unglaublich über diesen freuen. Sieht aus, als wäre heute ihr Glückstag.

Ich klemme den Teddy in meinen Gürtel, ertaste dann aber noch etwas Weiches auf dem Boden  Ich greife danach und halte es hoch, und bin begeistert: Es ist ein Schal. Er ist schwarz und voller Staub, aber als ich ihn an meinen Nacken und meine Brust halte, kann ich die Wärme schon spüren. Ich halte ihn aus dem Fenster und schüttele ihn durch, um den ganzen Staub abzubekommen. Ich besehe ihn mir im Licht, er ist lang und dick, nicht einmal Löcher hat er. Das ist pures Gold. Ich wickele ihn sofort um den Nacken und klemme ihn unter meinem Shirt fest, und mir ist gleich wärmer. Ich muss niesen.

Die Sonne senkt sich, und weil es aussieht, als hätte ich alles gefunden, was ich gesucht hätte, will ich mich auf den Weg machen. Auf dem Weg zu Fuß bleibe ich aber plötzlich mit meinem Fuß an etwas Hartem, Metallischem hängen. Ich knie mich hin, taste vorsichtig, falls es eine Waffe ist. Ist es nicht, es ist ein runder Eisenknauf, am Holzboden befestigt. Wie ein Klopfer. Oder ein Griff.

Ich ziehe nach links und rechts, nichts passiert. Ich versuche ihn zu drehen, wieder nichts. Dann gehe ich das Risiko ein und stelle mich ein Stück zur Seite und ziehe stark daran, geradeaus nach oben.

Eine Falltür öffnet sich und eine Staubwolke liegt in der Luft.

Ich sehe nach unten und entdecke einen Kriechkeller, vielleicht einen Meter und zwanzig Zentimeter hoch, mit einem Lehmboden. Mein Herz macht einen Sprung, was das für Möglichkeiten bietet. Wenn hier leben würden und es jemals ein Problem gäbe, könnte ich Bree hier unten verstecken. Dieses kleine Häuschen erscheint mir immer wertvoller.

Und nicht nur das. Als ich heruntersehe, sehe ich etwas glänzen. Ich schiebe die schwere Holztür ganz zurück und krieche schnell die Leiter hinunter. Es ist schwarz unten, und ich halte mir die Hände vors Gesicht, während ich mich vortaste. Als ich einen Schritt nach vorne mache, fühle ich etwas. Glas. In die Wand sind Regale eingebaut, und darauf stehen Glasgefäße. Und Steingefäße.

Ich ziehe eins heraus und ans Licht. Der Inhalt ist rot und weich. Es sieht nach Marmelade aus. Ich schraube schnell den Blechdeckel ab, halte ihn an meine Nase und rieche daran. Der durchdringende Geruch von Himbeeren schlägt mir entgegen. Ich stecke einen Finger hinein und halte ihn an meine Zunge. Ich kann es kaum glauben: Himbeermarmelade. Und sie schmeckt so frisch, als wäre sie gestern erst eingemacht worden.

Schnell verschließe ich das Glas wieder und eile zu den Regalen zurück, fasse hinein – da sind noch Dutzende Gläser mehr in der Dunkelheit. Ich greife nach dem nächsten, halte auch das ins Licht. Sieht aus wie Gurken.

Ich wünschte, ich könnte sie alle mitnehmen, aber meine Hände gefrieren. Ich habe nichts, womit ich die Gläser tragen könnte, und draußen wird es dunkel. Also packe ich die Gurken wieder zurück, klettere die Leiter hoch und schließe die Falltür fest hinter mir. Ich wünschte, ich hätte ein Schloss. Es macht mich nervös, all das hier ungeschützt liegen zu lassen. Aber dann erinnere ich mich selbst daran, dass hier jahrelang niemand war – und dass ich das Haus wahrscheinlich selbst nie bemerkt hätte, wäre der Baum nicht umgefallen.

Als ich gehe, schließe ich die Tür hinter mir, fühle mich schon, als wäre ich hier zu Hause.

Mit vollen Taschen eile ich wieder zum See zurück – erstarre aber plötzlich, als ich eine Bewegung spüre und ein Geräusch höre. Zuerst sorge ich mich, dass jemand mir gefolgt sein könnte, aber als ich mich langsam umdrehe, sehe ich etwas anderes: Ein Reh steht dort, drei Meter entfernt nur vielleicht, und starrt zurück. Das erste Reh, das ich seit Jahren gesehen habe. Seine großen, schwarzen Augen sehen mich direkt an, dann dreht es sich plötzlich um und läuft weg.

Ich bin sprachlos. Monatelang habe ich nach einem Reh gesucht, in der Hoffnung, ich käme nahe genug an eines heran, um mein Messer danach zu werfen. Aber ich konnte keins finden, nirgends. Vielleicht habe ich nicht weit genug oben gesucht. Vielleicht haben sie die ganze Zeit hier oben gelebt.

Ich beschließe, gleich morgen früh wiederzukommen und den ganzen Tag zu warten, wenn es nötig ist. Wenn das Reh einmal hier war, kommt es vielleicht wieder. Nächstes Mal werde ich es töten. Von diesem Reh könnten wir monatelang leben.

Voll neuer Hoffnung eile ich zum See zurück. Als ich näher komme, klopft mein Herz höher: Die Rute ist fast zur Hälfte heruntergebogen. Zitternd vor Aufregung rutsche und schlittere ich über das Eis. Ich greife die Schnur, die sich wild bewegt, und bete, dass sie hält.

Ich ziehe fest daran. Ich kann die Kraft eines großen Fisches spüren, der sich widersetzt, und bete, dass die Schnur nicht reißt, der Haken nicht bricht. Ein letztes Mal ziehe ich, und der Fisch fliegt aus dem Wasser. Ein riesiger Lachs, so groß wie mein Arm. Er landet auf dem Eis und zappelt, rutscht. Ich reiche herüber und will ihn greifen, aber er rutscht mir aus den Händen und fällt wieder aufs Eis. Meine Hände sind zu glitschig, um ihn festzuhalten, also ziehe ich meine Ärmel hoch, beuge mich hinunter und greife dieses Mal fester zu. Noch etwa dreißig Sekunden zappelt er in meinen Händen, dann schließlich stirbt er.

Ich bin verblüfft. Es ist mein erster Fang seit Monaten. Ekstatisch rutsche ich über das Eis und lege ihn am Ufer ab, verpacke ihn in Schnee, weil ich Angst habe, dass er irgendwie wieder zum Leben erwacht und in den See zurückspringt. Ich nehme die Angel und die Schnur in eine Hand, dann greife ich mit der anderen den Fisch. Ich kann das Marmeladengefäß in einer Tasche spüren und den Thermosbecher mit Saft in der anderen, zusammengepackt mit dem Schokoriegel, und den Teddy an meiner Taille. Bree wird heute Abend Reichtümer besitzen.

Nur eins muss ich noch mitnehmen. Ich gehe zu dem Stapel von trockenem Holz hinüber, balanciere die Rute in meinem Arm, und mit der freien Hand hebe ich so viele Holzstücke auf, wie ich halten kann. Ich lasse ein paar fallen, und kann nicht so viele nehmen, wie ich gerne möchte, aber ich kann mich nicht beschweren. Ich kann immer noch wiederkommen und den Rest holen.

Mit vollen Händen, Armen und Taschen rutsche und schlittere ich den steilen Berghang im letzten Tageslicht wieder hinunter, achtsam, nichts von meinem Schatz zu verlieren. Im Gehen kann ich das Häuschen nicht aus dem Kopf bekommen. Es ist perfekt, und mein Herz schlägt schneller beim Gedanken an die Möglichkeiten. Das ist genau das, was wir brauchen. Das Haus unseres Vaters ist zu auffällig, an einer Hauptstraße gebaut. Schon seit Monaten mache ich mir Sorgen, dass wir da zu verwundbar sind. Alles, was es bräuchte, wäre, dass zufällig ein Sklaventreiber vorbeikäme, und schon hätten wir ein Problem. Ich wollte schon lange, dass wir umziehen, aber ich hatte keine Ahnung, wohin. Hier oben gibt keine anderen Häuser.

Dieses kleine Häuschen, so weit oben und so weit weg von jeglicher Straße – im wahrsten Sinne in den Berg hineingebaut – ist so gut verborgen, fast, als wenn es für uns gebaut worden wäre. Keiner könnte uns hier jemals finden. Und selbst wenn, mit einem Fahrzeug würden sie nicht einmal in die Nähe kommen. Sie müssten zu Fuß kommen, aber von dort oben aus würde ich sie schon aus einem Kilometer Entfernung sehen.

Außerdem hat das Haus eine frische Wasserquelle, ein kleiner Bach direkt vor der Tür. Ich müsste Bree nicht mehr jedes Mal allein lassen müssen, um mich auf die Wanderung zu machen, um zu baden und unsere Kleidung zu waschen. Und ich müsste nicht mehr die Wassereimer einzeln vom See hochtragen, jedes Mal, wenn ich koche. Ganz zu schweigen davon, dass wir durch dieses riesige Baumzelt verborgen genug wären, um jeden Abend Feuer im Kamin zu machen. Wir wären sicherer, uns wäre wärmer, und das an einem Ort, wo es Fische und Wild gibt – und einen Keller voller Essen. Ich habe einen Plan: Ich bringe uns morgen schon dort hin.

Eine Last fällt von meinen Schultern. Ich fühle mich wie neugeboren. Zum ersten Mal, so lange ich mich erinnern kann, habe ich nicht mehr das Gefühl, dass der Hunger an mir nagt und die Kälte in meine Fingerspitzen sticht. Sogar der Wind scheint in meinem Rücken zu sein, als ich herunterklettere, mir zu helfen, und ich weiß, dass die Dinge sich endlich gewendet haben. Zum ersten Mal, so lange ich mich erinnern kann, weiß ich heute, dass wir es schaffen können.

Jetzt können wir überleben.

Arena Eins: Die Sklaventreiber

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