Читать книгу Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner - Морис Леблан - Страница 6

ARSÈNE LUPIN IM GEFÄNGNIS

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Jeder gute Pariser Wanderer kennt die Ufer der Seine, und sicher ist jedem auf dem Weg von den Ruinen von Jumièges zu den Ruinen von Saint-Wandrille das seltsame kleine Feudalschloss des Malaquis aufgefallen, das so stolz auf seinem Felsen inmitten des Flusses steht. Eine Bogenbrücke verbindet es mit der Straße. Das Fundament seiner düsteren Türme verschwimmt mit dem Granit der Insel, einem gewaltigen Felsbrocken, von dem man nicht weiß, von welchem Gebirge er sich gelöst hat, und der durch irgendeinen großen Erdrutsch dorthin geworfen sein muss. Rundherum plätschert das ruhige Wasser des großen Flusses im Schilf, und Bachstelzen stolzieren auf den feuchten Steinen.

Die Geschichte des Malaquis ist ebenso düster wie sein Name, ebenso unfreundlich wie seine Silhouette. Hier gab es stets nur Kämpfe, Belagerungen, Bestürmungen, Plünderungen und Gemetzel. In den Spinnstuben der Landschaft Caux erzählt man mit prickelndem Grauen die Verbrechen, die hier begangen wurden. Da gibt es geheimnisvolle Legenden; man erinnert sich an den berühmten unterirdischen Gang, der einstmals zur Abtei von Jumièges und zur Burg der Agnès Sorel, der schönen Freundin Karls VII., führte.

In diesem alten Schlupfwinkel der Helden und Strauchdiebe wohnt der Baron Nathan Cahorn, der Baron Satan, wie man ihn früher an der Börse nannte, an der er sich zu plötzlich bereichert hatte. Die Herren von Malaquis, ruiniert wie sie waren, haben ihm für ein Butterbrot das Schloss ihrer Vorfahren verkaufen müssen. Dort hat er seine wunderbaren Sammlungen von alten Möbeln und Gemälden, Steingut und Schnitzereien untergebracht. Der Baron lebt allein in dem Schloss mit drei alten Dienstboten. Niemand hat es jemals betreten. Niemand hat jemals die Ausstattung dieser antiken Säle, die drei Rubens, die beiden Watteaus, seinen Stuhl von Jean Goujon und alle anderen Kostbarkeiten gesehen, die er den reichsten Stammkunden auf den Versteigerungen durch Überbieten entrissen hat.

Baron Satan hat Angst. Er hat nicht nur um seiner selbst willen Angst, sondern auch wegen seiner Schätze, die er mit zäher Leidenschaft und dem Scharfsinn eines Liebhabers gesammelt hat, dass sich die gewieftesten Händler nicht rühmen können, ihn betrogen zu haben. Er liebt sie. Er liebt sie so gierig wie ein Geizhals, so eifersüchtig wie ein Verliebter.

Jeden Tag bei Sonnenuntergang werden die vier eisengeschmiedeten Pforten, die sich am äußersten Ende der Brücke und am Eingang zum Schlosshof befinden, geschlossen und verriegelt. Bei der geringsten Berührung schrillt eine Alarmglocke durch die Stille. Von der Wasserseite der Seine her ist nichts zu befürchten, denn dort ragt der Felsen steil in die Luft.

An einem Freitag im September erschien der Briefträger wie gewöhnlich am anderen Ende der Brücke. Und wie jeden Tag öffnete der Baron den schweren Türflügel nur einen Spalt.

Er sah den Mann so genau an, als kenne er dieses gute, heitere Gesicht mit seiner Bauernschläue in den Augen nicht schon seit Jahren.

Der Mann lachte:

»Ich bin es immer noch, Herr Baron. Ich bin kein anderer, der vielleicht meinen Kittel und meine Mütze angezogen hat.«

»Kann man es wissen?« murmelte der Baron.

Der Briefträger gab ihm einen Stapel Zeitungen. Dann fügte er hinzu:

»Und jetzt, Herr Baron, habe ich eine Neuigkeit für Sie.«

»Eine Neuigkeit?«

»Einen Brief … und noch dazu einen eingeschriebenen.«

Einsam, ohne Freunde, ohne einen Menschen, der sich um ihn kümmerte, bekam der Baron niemals Briefe. Sofort erschien ihm dieser als das schlechte Vorzeichen irgendeines kommenden Ereignisses, über das sich zu beunruhigen er allen Grund hatte. Wer war dieser geheimnisvolle Schreiber, der ihn in seiner Ruhe störte?

»Sie müssen unterschreiben, Herr Baron.«

Leise fluchend unterschrieb er. Dann nahm er den Brief, wartete, bis der Briefträger hinter der Wegbiegung verschwunden war, und nachdem er einige Male auf und ab gegangen war, trat er hinter die Brüstung der Brücke und riss den Umschlag auf. Er enthielt ein quadriertes Blatt Papier mit dem handgeschriebenen Briefkopf: Gefängnis de la Santé, Paris. Er sah auf die Unterschrift: Arsène Lupin. Verstört las er:

»Sehr geehrter Baron Cahorn!

In dem Korridor, der Ihre beiden Säle miteinander verbindet, hängt ein Bildnis Philippes de Champaigne von ausgezeichneter Qualität, das mir sehr gefällt. Ihre Rubens sind auch nach meinem Geschmack, ebenso wie auch Ihr kleinerer Watteau. In dem rechten Saal weiß ich von dem Kredenztisch Ludwigs XIII., den Wandteppichen von Beauvais, dem kaiserlichen Leuchtertisch, mit ›Jacob‹ signiert, und der Renaissance-Truhe. In dem Saal auf der linken Seite finde ich die Vitrine mit den Schmuckstücken und den Miniaturen.

Dieses Mal werde ich mich mit den Gegenständen zufriedengeben, die, wie ich glaube, leicht zu verkaufen sind. Ich möchte Sie darum bitten, sie entsprechend zu verpacken und portofrei innerhalb von acht Tagen auf meinen Namen zum Bahnhof Batignolles zu schaffen. Sollten Sie meiner Bitte nicht nachkommen, werde ich selbst in der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag, dem 28. September, ihren Abtransport vornehmen. Und dann werde ich mich nicht – Gerechtigkeit muss sein – nur mit den oben erwähnten Gegenständen zufriedengeben.

Bitte entschuldigen Sie die kleine Störung.

Hochachtungsvoll Arsène Lupin

PS. – Bitte schicken Sie auf keinen Fall den größeren der beiden Watteaus. Obgleich Sie für ihn bei der Versteigerung dreißigtausend Francs bezahlt haben, ist es nur eine Kopie, das Original wurde unter dem Direktorium von Barras an einem Orgienabend verbrannt. Prüfen Sie diese Angabe in den noch nicht erschienenen Memoiren von Garat nach.

Ich lege auch keinen Wert auf die Gürtelkette Ludwigs XV., deren Echtheit mir fragwürdig erscheint.«

Dieser Brief erschütterte Baron Cahorn. Hätte ein anderer ihn unterschrieben, hätte er sich schon beträchtlich beunruhigt, aber Arsène Lupin!

Als eifriger Zeitungsleser und somit auf dem Laufenden über dies, was sich in der Welt an Diebstählen und Verbrechen zutrug, kannte er alle Heldentaten des verteufelten Einbrechers. Natürlich wusste er, dass Lupin in Amerika von seinem Feind Ganimard verhaftet und hinter Schloss und Riegel gesetzt worden war und dass man – mit welcher Mühe! – seinen Prozess vorbereitete. Aber er wusste auch, dass man bei ihm auf alles gefasst sein musste. Außerdem war diese genaue Kenntnis des Schlosses, der Plätze der Gemälde und Möbel eine furchtbare Bedrohung. Wer hatte ihn über diese Dinge unterrichtet, die doch niemand je gesehen hatte?

Der Baron hob den Blick und betrachtete die schroffe Silhouette des Malaquis, seinen abschüssigen Sockel, das tiefe Wasser, das ihn umgab, und zuckte mit den Schultern. Nein, es bestand ganz entschieden keine Gefahr. Kein Mensch auf der Welt konnte bis zum unantastbaren Heiligtum seiner Sammlungen vordringen.

Niemand, gut, aber Arsène Lupin? Gibt es für Arsène Lupin Türen, Zugbrücken, Mauern? Wozu dienen die so kunstvoll eingerichteten Hindernisse, die geschicktesten Vorsichtsmaßnahmen, wenn Arsène Lupin beschlossen hat, das Ziel zu erreichen?

Am gleichen Abend noch schrieb Baron Cahorn an den Staatsanwalt von Rouen. Er legte den Drohbrief bei und forderte Schutz und Hilfe.

Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Da der besagte Arsène Lupin gegenwärtig in der Santé festgehalten und sorgfältig überwacht wurde und somit nicht in der Lage war, Briefe zu schreiben, konnte dieser Brief nur das Werk eines Spaßvogels sein. Alles bewies diese Annahme, die Logik, der gesunde Menschenverstand und auch die Tatsachen selbst. Vorsichtshalber hatte man jedoch einen Sachverständigen beauftragt, die Handschrift zu begutachten. Dieser hatte erklärt, dass diese Schrift trotz gewisser Ähnlichkeiten nicht die des Häftlings sei.

»Trotz gewisser Ähnlichkeiten«; der Baron behielt nur diese drei bestürzenden Worte, in denen er das Zugeständnis eines Zweifels sah, der allein hätte genügen müssen, damit das Gericht eingriff. Seine Befürchtungen steigerten sich. Immer wieder las er den Brief. »Ich werde selbst den Abtransport vornehmen.« Und dieses genaue Datum: »in der Nacht vom Mittwoch, dem 27., zum Donnerstag, dem 28. September …« Argwöhnisch und schweigsam, wie er war, wagte der Baron es nicht, sich seinen Dienstboten anzuvertrauen, deren Ergebenheit ihm nicht über jeden Verdacht erhaben schien. Doch fühlte er zum ersten Mal seit Jahren das Bedürfnis, sich auszusprechen, sich einen Rat zu holen. Von dem Gericht seines Landes im Stich gelassen, glaubte er nicht mehr daran, sich mit seinen eigenen Mitteln verteidigen zu können; so stand er kurz vor dem Entschluss, nach Paris zu fahren und einige alte Kriminalbeamte um ihre Hilfe zu bitten.

Zwei Tage vergingen. Als er am dritten Tag die Zeitungen las, zitterte er vor Freude. Die Zeitung Réveil de Caudebec veröffentlichte eine Kurznotiz:

»Wir haben die Ehre und Freude, seit fast drei Wochen den Chefinspektor Ganimard, einen der Veteranen des Sicherheitsdienstes, in unseren Mauern beherbergen zu dürfen. Herr Ganimard, dem die Verhaftung Arsène Lupins, seine letzte Heldentat, die Anerkennung ganz Europas eingetragen hat, erholt sich von seinen langen Strapazen beim Fischen von Gründlingen und Barschen.«

Ganimard! Das war genau die richtige Hilfe, die Baron Cahorn suchte! Wer könnte Lupins Pläne besser vereiteln als der listige und beharrliche Ganimard?

Der Baron zögerte keine Minute. Sechs Kilometer trennen das Schloss von der kleinen Stadt Caudebec. Er durchquerte sie leichten Schrittes wie ein Mensch, den die Hoffnung auf Rettung beflügelt.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die Adresse des Chefinspektors zu erfahren, wandte er sich an das Büro der Réveil, das sich an der Uferstraße der Seine befand. Dort fand er den Verfasser der Kurznotiz, der, während er zum Fenster ging, sagte: »Ganimard? Sie treffen ihn bestimmt auf der Uferstraße mit der Angel in der Hand. Dort haben wir uns kennengelernt und dort habe ich auch zufällig seinen in die Angelrute eingravierten Namen gelesen. Sehen Sie, es ist der kleine Alte, der dort unter den Bäumen auf der Promenade sitzt.«

»Der mit dem Gehrock und dem Strohhut?«

»Genau! Er ist ein komischer Alter, schweigsam, fast griesgrämig.«

Fünf Minuten später sprach der Baron den berühmten Ganimard an, stellte sich vor und versuchte, eine Unterhaltung einzuleiten. Als ihm das nicht gelang, ging er geradewegs auf sein Ziel zu und legte ihm seinen Fall auseinander.

Der andere hörte unbeweglich zu, ohne den Fisch, den er erspähte, aus den Augen zu lassen, dann wandte er ihm den Kopf zu, maß ihn voll Mitleid von oben bis unten und sagte:

»Mein Herr, es ist ungewöhnlich, die Leute, die man ausrauben will, zu benachrichtigen. Besonders Arsène Lupin begeht keine derartigen Aufschneidereien.«

»Trotzdem …«

»Mein Herr, wenn ich den geringsten Zweifel hätte, können Sie mir glauben, dass das Vergnügen, diesen lieben Lupin noch einmal ins Kittchen zu bringen, jede weitere Überlegung nichtig machen würde. Leider ist der junge Mann schon hinter Schloss und Riegel.«

»Wenn er flüchtet?«

»Man flüchtet nicht aus der Santé.«

»Aber er …«

»Er nicht mehr als ein anderer.«

»Trotzdem …«

»Also gut, wenn er ausbricht, umso besser, ich erwische ihn wieder. Inzwischen schlafen Sie ruhig und verscheuchen Sie mir nicht diesen Barsch.«

Die Unterhaltung war beendet. Der Baron kehrte durch die Sorglosigkeit Ganimards etwas beruhigt nach Hause zurück. Er prüfte die Schlösser, belauerte die Dienstboten. So vergingen achtundvierzig Stunden, während derer er fast zu der Überzeugung gelangte, dass im Ganzen gesehen seine Befürchtungen Hirngespinste waren. Nein, Ganimard hatte recht, man warnt bestimmt nicht die Leute, die man berauben will.

Der Zeitpunkt rückte näher. Am Dienstagmorgen, dem Vortag des 27., geschah nichts Besonderes. Aber um drei Uhr klingelte ein kleiner Junge. Er brachte ein Telegramm.

»Kein Paket im Bahnhof von Batignolles. Bereiten Sie alles für morgen Abend vor.

Arsène.«

Von Neuem wurde der Baron kopflos; er war jetzt so weit, dass er sich schon überlegte, ob er den Forderungen Arsène Lupins nicht doch nachkommen sollte.

Er lief nach Caudebec. Ganimard saß auf einem Klappstuhl an derselben Stelle und fischte. Wortlos reichte ihm der Baron das Telegramm.

»Ja, und?« fragte der Inspektor.

»Und? Aber morgen soll es passieren.«

»Was?«

»Der Einbruch! Der Diebstahl meiner Sammlungen!«

Ganimard legte seine Angel zur Seite, drehte sich zu ihm um, verschränkte die Arme auf der Brust und rief ungeduldig:

»Das ist herrlich! Glauben Sie, dass ich mich um eine so hirnverbrannte Geschichte kümmern werde?«

»Was verlangen Sie, wenn Sie die Nacht vom 27. zum 28. September im Schloss verbringen?«

»Überhaupt nichts, lassen Sie mich in Ruhe!«

»Nennen Sie einen Preis, ich bin reich, ungeheuer reich.«

Das offene Angebot verwirrte Ganimard, der jetzt, ruhiger geworden, antwortete:

»Ich bin hier in Urlaub, und ich habe nicht das Recht, mich in Dinge einzumischen …«

»Niemand wird es erfahren. Ich verpflichte mich, was auch geschieht, über alles zu schweigen.«

»Oh, es wird nichts geschehen.«

»Also gut, dreitausend Francs, ist das genug?«

Der Inspektor schnupfte eine Prise Tabak, überlegte und sagte schließlich:

»Gut. Nur muss ich Ihnen offen gestehen, dass das Geld zum Fenster hinausgeworfen ist.«

»Das ist mir gleichgültig.«

»In diesem Fall … Und außerdem, nach allem, weiß man, woran man mit diesem Teufel Lupin ist? Er muss eine ganze Bande zur Verfügung haben. Können Sie Ihren Dienstboten trauen?«

»Mein Gott …«

»Zählen wir also nicht auf sie. Ich werde zwei meiner jungen Freunde telegrafisch benachrichtigen, die uns besser helfen können. Und jetzt verschwinden Sie, damit man uns nicht zusammen sieht. Bis morgen, gegen neun Uhr.«

Am nächsten Tag, den Arsène Lupin bestimmt hatte, nahm Baron Cahorn seine Waffen von der Wand, putzte sie und machte einen Spaziergang durch die Umgebung des Malaquis. Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf.

Um halb neun Uhr abends entließ er seine Dienstboten. Sie bewohnten einen Flügel, der auf die Straße ging, der aber etwas zurück und ganz am Ende des Schlosses lag. Als er allein war, öffnete er vorsichtig die vier Pforten. Kurz darauf hörte er näher kommende Schritte.

Ganimard stellte seine beiden Gehilfen vor, große, starke Burschen mit Stiernacken und kräftigen Händen; dann bat er um einige Erklärungen. Nachdem er die Lage der Wohnung untersucht hatte, verschloss und verrammelte er sorgfältig alle Zugänge, durch die man in die bedrohten Säle gelangen konnte. Er untersuchte die Mauern, lüftete die Wandteppiche und stellte schließlich seine Gehilfen im Hauptkorridor auf.

»Keine Dummheiten, he? Wir sind nicht zum Schlafen hier. Bei dem geringsten Geräusch öffnet ihr die Fenster zum Hof und ruft mich. Achtet auch auf die Wasserseite. Teufel von seinem Kaliber schrecken nicht vor einem zehn Meter hohen steilen Abhang zurück.«

Er schloss sie ein, nahm die Schlüssel mit und sagte zum Baron: »Und jetzt gehen wir auf unsere Plätze.«

Er hatte für die Nacht einen kleinen Raum gewählt, der in die Ringmauern zwischen den beiden Hauptpforten eingebaut war und der früher dem Wächter als Unterkunft diente. Ein Guckloch gab den Blick zur Brücke, ein weiteres den zum Hof frei. In einem Winkel war die Öffnung eines Brunnens.

»Sie haben behauptet, Herr Baron, dass dieser Brunnen der einzige Zugang zu den Festungsgewölben war und dass er seit Menschengedenken zugemauert ist.«

»Ja.«

»Wenn kein anderer uns allen unbekannter Eingang existiert, von dem nur Arsène Lupin weiß, was etwas unwahrscheinlich sein dürfte, können wir also beruhigt sein.«

Er stellte drei Stühle in eine Reihe, ließ sich bequem darauf nieder, zündete seine Pfeife an und seufzte:

»Wirklich, Herr Baron, ich musste schon große Lust haben, mein Häuschen, in dem ich meine Tage beenden will, um eine Etage aufzustocken, um einen so lächerlichen Auftrag anzunehmen. Wenn ich die Geschichte Freund Lupin erzähle, wird er sich die Seiten vor Lachen halten.«

Der Baron lachte nicht. Die Ohren gespitzt, horchte er mit wachsender Unruhe in die Stille. Von Zeit zu Zeit beugte er sich über den Brunnen und warf einen angstvollen Blick in das gähnende Loch.

Es schlug elf Uhr, Mitternacht, ein Uhr.

Plötzlich packte er Ganimard, der erschreckt aufwachte, am Arm.

»Hören Sie?«

»Ja.«

»Was ist das?«

»Das bin ich, ich schnarche.«

»Aber nein, hören Sie doch …«

»Ah, tatsächlich, es ist die Hupe eines Autos.«

»Und?«

»Und nichts! Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Lupin wie ein Mauerbrecher ein Auto benutzt, um Ihr Schloss zu zerstören. Darum, Herr Baron, zurück auf Ihren Platz. Sie sollten schlafen, wie ich die Ehre habe, es wieder zu tun. Gute Nacht.« Das blieb das einzige Geräusch. Ganimard nahm seinen unterbrochenen Schlaf wieder auf, und der Baron hörte nur noch sein tiefes, regelmäßiges Schnarchen.

Beim Morgengrauen verließen sie ihre Zelle. Ein großer, tiefer Friede, der Friede des Morgens am Ufer des frischen Wassers umgab das Schloss. Cahorn, außer sich vor Freude, und Ganimard, wie immer ruhig und bedächtig, stiegen die Treppe hinauf. Kein Geräusch. Nichts Verdächtiges.

»Was habe ich Ihnen gesagt, Herr Baron? Im Grunde hätte ich nicht annehmen sollen. Ich bin beschämt.«

Er zog die Schlüssel hervor und betrat den Korridor. Zusammengekrümmt auf zwei Stühlen, mit hängenden Armen schliefen die beiden Gehilfen.

»Verdammt noch mal!« grollte der Inspektor.

Im selben Augenblick stieß der Baron einen Schrei aus:

»Die Gemälde! Der Kredenztisch!«

Er stotterte erstickt und wies mit der Hand auf die leeren Plätze, die nackten Wände, aus denen die Nägel herausstachen und die unnützen Stricke herabhingen. Der Watteau, verschwunden! Die Rubens, gestohlen! Die Wandteppiche, abgehängt! Die Vitrinen, ihrer Schmuckstücke beraubt!

»Und mein Ludwig-XVI.-Armleuchter! Und der Leuchter des Kaisers! Und meine Jungfrau aus dem zwölften Jahrhundert!«

Er lief von einer Ecke in die andere, erschüttert und verzweifelt. Er zählte die Kaufpreise auf, rechnete die Verluste zusammen, häufte die Zahlen an, bunt durcheinander in zusammenhanglosen Worten und abgerissenen Sätzen. Er stampfte mit den Füßen auf den Boden, sein Gesicht verzerrte sich krampfhaft, außer sich vor Wut und Schmerz. Man hätte meinen können, er wäre ein ruinierter Mann, der sich nur noch eine Kugel in den Kopf zu jagen brauchte.

Wenn etwas ihn hätte trösten können, dann wäre es der Anblick des dummen Gesichts von Ganimard gewesen. Im Gegensatz zum Baron rührte sich der Inspektor nicht. Er schien versteinert, mit unbestimmtem Blick betrachtete er die Dinge. Die Fenster? Geschlossen. Die Türschlösser? In Ordnung. Keine Spalte in der Decke. Kein Loch im Boden. Die Ordnung war tadellos. Alles musste methodisch nach einem unerbittlich funktionierenden Plan ausgeführt worden sein.

»Arsène Lupin …«, murmelte er niedergeschmettert.

Plötzlich sprang er auf die beiden Gehilfen zu, als ob ihn die Wut und der Zorn endlich doch gepackt hätten, er schüttelte sie wütend und beschimpfte sie lauthals. Sie wachten nicht auf! »Teufel«, sagte er, »sollte zufällig …«

Er beugte sich über sie und betrachtete sie nacheinander aufmerksam. Sie schliefen, aber keinen natürlichen Schlaf.

Er wandte sich zum Baron:

»Man hat sie betäubt.«

»Aber wer?«

»Na, er, zum Donnerwetter! Oder seine Bande, die aber von ihm geführt wurde. Das ist ein Coup nach seiner Art, die erkenne ich wieder.«

»Dann bin ich verloren, nichts zu machen.«

»Nichts zu machen.«

»Aber das ist abscheulich, einfach ungeheuerlich.«

»Reichen Sie eine Klage ein.«

»Was nützt sie?«

»Verdammt! Versuchen Sie es wenigstens, das Gericht hat Möglichkeiten …«

»Das Gericht? Aber Sie sehen ja selbst … In diesem Augenblick, da Sie nach einer Spur suchen, etwas entdecken könnten, rühren Sie sich ja nicht einmal von der Stelle.«

»Bei Arsène Lupin etwas entdecken! Aber, mein lieber Herr, Arsène Lupin hinterlässt nie etwas. Bei Arsène Lupin gibt es keinen Zufall! Ich bin so weit, mich zu fragen, ob er sich in Amerika nicht freiwillig von mir hat verhaften lassen!«

»Also muss ich auf meine Gemälde verzichten, auf alles verzichten! Aber er hat die Perlen aus meiner Sammlung gestohlen. Ich würde ein Vermögen geben, um sie wiederzufinden. Wenn man schon nichts gegen ihn unternehmen kann, soll er wenigstens seinen Preis nennen!«

Ganimard sah ihn scharf an.

»Das ist ein vernünftiges Wort. Sie nehmen es nicht zurück?«

»Nein, nein, nein. Aber warum?«

»Ich habe eine Idee.«

»Was für eine Idee?«

»Wir werden darüber sprechen, wenn die Ermittlungen ergebnislos verlaufen. Nur, ich möchte mit keinem Wort erwähnt werden, wenn Sie Wert darauf legen, dass ich etwas erreiche.«

Und zwischen den Zähnen murmelte er noch:

»Außerdem habe ich wirklich keine rühmliche Figur abgegeben.«

Die beiden Gehilfen kamen nach und nach wieder zu Bewusstsein, ihre Gesichter waren so stumpfsinnig wie die von Menschen, die aus einem hypnotischen Schlaf erwachen. Sie machten erstaunte Augen, versuchten zu verstehen. Als Ganimard sie ausfragte, erinnerten sie sich an nichts.

»Ihr habt doch jemanden sehen müssen.«

»Nein.«

»Denkt mal nach.«

»Nein, nein.«

»Und ihr habt nichts getrunken?«

Sie überlegten, dann sagte der eine von ihnen:

»Doch, ich habe etwas Wasser getrunken.«

»Wasser aus dieser Karaffe?«

»Ja.«

»Ich auch«, erklärte der andere.

Ganimard roch an dem Wasser, probierte es. Es hatte keinen besonderen Geschmack, keinen Geruch.

»Los«, sagte er, »wir verlieren unsere Zeit. Man kann nicht in fünf Minuten die Probleme lösen, die Arsène Lupin stellt. Aber bei Gott, ich schwöre, dass ich ihn erwischen werde. Ich gewinne die zweite Runde. Der Sieg ist mein.«

Am gleichen Tag reichte Baron Cahorn gegen den in der Santé inhaftierten Arsène Lupin Klage wegen schweren Diebstahls ein. Diese Klage bereute der Baron noch oft, als er den Malaquis den Polizisten, dem Staatsanwalt, dem Untersuchungsrichter, den Journalisten und allen Neugierigen, die sich überall dort einschleichen, wo sie nicht sein sollten, ausgeliefert sah.

Die Affäre erregte die Öffentlichkeit. Sie hatte sich unter so besonderen Umständen zugetragen, und der Name Arsène Lupins steigerte die Fantasie so sehr, dass fantastische Geschichten die Spalten der Zeitungen füllten und bei den Lesern Glauben fanden.

Der erste Brief Arsène Lupins, den die Zeitung Echo de France veröffentlichte (niemand erfuhr jemals, wer der Zeitung den Text in die Hand gespielt hatte), jener Brief, in dem der Baron so unverschämt vor dem, was ihn bedrohte, gewarnt worden war, erregte ganz besonders die Gemüter. Sofort wurden fantastische Erklärungen aufgestellt. Man erinnerte an das Vorhandensein der berühmten Kellergewölbe. Und die beeinflusste Staatsanwaltschaft unternahm ihre Ermittlungen in dieser Richtung.

Das Schloss wurde von oben bis unten durchsucht, jeder Stein beklopft. Man prüfte die Täfelungen und die Kamine, die Fensterrahmen und die Deckenbalken. Bei Fackelschein untersuchte man die gewaltigen Kellerräume, in denen die Herren von Malaquis früher ihre Munition und Vorräte aufbewahrten. Selbst das Innere der Felsen wurde durchröntgt. Alles war vergeblich. Nicht die kleinste Spur eines Kellergewölbes wurde gefunden. Es gab keinen geheimen Weg.

Gut, erwiderte man von allen Seiten, aber die Möbel und Gemälde lösen sich nicht wie Gespenster in nichts auf. So etwas wird durch Türen oder Fenster fortgetragen, und die Leute, die das vornehmen, gehen ebenfalls durch Türen oder Fenster ein und aus. Wer sind diese Leute? Wie sind sie hereingekommen? Und wie sind sie wieder fortgegangen?

Die von ihrer Ohnmacht überzeugte Staatsanwaltschaft von Rouen bat um die Unterstützung von Pariser Kriminalbeamten. Herr Dudouis, der Chef des Sicherheitsdienstes, schickte seine besten Polizeispione von der Eisernen Brigade. Er selbst hielt sich zwei Tage im Malaquis auf. Auch er erreichte nicht mehr.

Also bestellte er Inspektor Ganimard zu sich, dessen Dienste schätzen zu lernen er schon oft Gelegenheit hatte.

Ganimard hörte schweigend der Darstellung seines Vorgesetzten zu, schüttelte nur den Kopf und sagte:

»Ich glaube, dass man mit der Durchsuchung des Schlosses auf der falschen Spur ist. Die Lösung liegt woanders.«

»Und wo?«

»Bei Arsène Lupin.«

»Bei Arsène Lupin! Wenn wir das annehmen, geben wir seine Beteiligung an der Affäre zu.«

»Ich gebe sie zu. Mehr noch, ich halte sie für vollkommen sicher.«

»Aber, das ist doch absurd. Arsène Lupin sitzt im Gefängnis.«

»Arsène Lupin sitzt im Gefängnis, gut. Er wird bewacht, ich gebe es zu. Aber selbst wenn er Eisen an den Füßen, Ketten an den Handgelenken und einen Knebel im Mund hätte, würde ich meine Meinung nicht ändern.«

»Und woher haben Sie diese Überzeugung?«

»Weil nur Arsène Lupin der Mann ist, ein Ding von dieser Größe zu drehen, und zwar so zu drehen, dass es gelingen muss … wie es gelungen ist.«

»Nichts als Worte, Ganimard.«

»Die wahr sind. Es ist zwecklos, nach Kellergewölben, Drehscheiben und anderen Albernheiten dieser Art zu suchen. Der Kerl gebraucht keine so uralten und abgenutzten Spielereien. Er ist ein Mann von heute oder eher noch von morgen.«

»Und was beschließen Sie?«

»Ich bitte Sie nur um die Erlaubnis, eine Stunde mit ihm zu verbringen.«

»In seiner Zelle?«

»Ja. Auf der Rückreise von Amerika haben wir uns auf der Überfahrt sehr gut verstanden, und ich glaube sagen zu können, dass er dem, der ihn hat verhaften können, einige Sympathie entgegenbringt. Wenn er mir, ohne sich bloßzustellen, Auskünfte geben kann, wird er nicht zögern, mir eine unnütze Reise zu ersparen.«

Es war kurz nach Mittag, als Ganimard in Arsène Lupins Zelle geführt wurde. Dieser lag auf seinem Bett, hob kurz den Kopf und stieß einen Freudenschrei aus.

»Also, das ist eine echte Überraschung. Der liebe Ganimard, hier!«

»Er persönlich.«

»Ich habe mir viel in meiner selbstgewählten Zurückgezogenheit gewünscht … aber nichts so leidenschaftlich, wie dich zu sehen.«

»Zu gütig.«

»Aber nein doch, ich empfinde für dich die größte Hochachtung.«

»Ich bin stolz darauf.«

»Ich habe es immer gesagt: Ganimard ist unser bester Detektiv. Er taugt fast so viel – du siehst, ich bin ehrlich, er taugt fast so viel wie Sherlock Holmes. Aber wirklich, ich bin untröstlich, dir nur diesen Schemel anbieten zu können. Und keine Erfrischung, kein Glas Bier! Entschuldige bitte, ich bin hier nur vorübergehend.«

Ganimard setzte sich lächelnd, und der Gefangene, froh, sprechen zu können, fuhr fort:

»Mein Gott, wie gut, ein ehrliches Gesicht vor sich zu haben! Ich habe genug von diesen Schnüffler- und Spitzelgesichtern, die zehnmal am Tag meine Taschen und meine bescheidene Zelle untersuchen, um sicherzugehen, dass ich keine Flucht vorbereite. Zum Teufel! Was die Regierung für Wert auf mich legt!«

»Sie hat allen Grund.«

»Aber nein! Ich wäre so glücklich, wenn man mich in meinem kleinen Winkel ruhig leben lassen würde.«

»Mit den Einnahmen der anderen.«

»Nicht wahr? Das wäre so einfach. Aber ich schwätze, ich rede dummes Zeug, und du hast es vielleicht eilig. Also zum Thema, Ganimard! Was verschafft mir die Ehre des Besuches?«

»Die Affäre Cahorn«, erklärte Ganimard ohne Umschweife.

»Moment! Eine Sekunde … Ich habe so viele Affären! Ich muss in meinem Gehirn erst die Akte der Affäre Cahorn finden. Ah, ja, ich habe es. Affäre Cahorn, Schloss des Malaquis, Seine-Inférieure. Zwei Rubens, ein Watteau und einige kleinere Gegenstände.«

»Kleinere!«

»Ach, mein Gott, das alles ist von zweitrangiger Bedeutung. Es gibt Besseres. Aber es genügt, dass die Sache dich interessiert … Sprich doch, Ganimard.«

»Muss ich dir erklären, wie weit wir mit unserer Untersuchung sind?«

»Nicht nötig. Ich habe heute früh die Zeitungen gelesen. Ich erlaube mir sogar die Bemerkung, dass ihr nicht gerade schnell vorankommt.«

»Genau deswegen wende ich mich an dich.«

»Voll und ganz zu deinen Diensten.«

»Zunächst das: Die Affäre ist von dir eingefädelt worden.«

»Von A bis Z.«

»Der Brief mit der Drohung? Das Telegramm?«

»Sind von mir. Ich muss sogar irgendwo die Posteinlieferungsscheine haben.«

Arsène öffnete die Schublade eines kleinen Tisches aus weißem Holz, der mit dem Bett und dem Schemel die ganze Einrichtung bildete. Er entnahm ihr zwei Zettel und reichte sie Ganimard.

»Das ist doch die Höhe«, rief dieser aus, »ich glaubte dich ständig bewacht und für nichts und wider nichts durchsucht. Und du liest Zeitungen, du sammelst Einlieferungsscheine der Post …«

»Pah! Diese Leute sind so dumm! Sie trennen das Futter von meiner Jacke auf, untersuchen die Sohlen meiner Schuhe, horchen die Wände dieses Raumes ab, aber keiner von ihnen kommt auf die Idee, dass Arsène Lupin so einfältig sein könnte, ein so leichtes Versteck zu wählen. Genau damit habe ich gerechnet.«

Ganimard lachte:

»Was für ein komischer Bursche! Du bringst mich aus der Fassung. Also los, erzähl mir das Abenteuer.«

»Oho, wie du rangehst! Dich in alle meine Geheimnisse einweihen … dir meine kleinen Einfälle enthüllen … Das ist bedenklich.«

»Habe ich mich zu Unrecht auf deine Gefälligkeit verlassen?«

»Nein, Ganimard, und da du darauf bestehst …«

Arsène Lupin durchmaß mit großen Schritten zwei-, dreimal seine Zelle, dann blieb er stehen:

»Was hältst du von meinem Brief an den Baron?«

»Ich glaube, dass du dich amüsieren, ein wenig aufschneiden wolltest.«

»Aha, aufschneiden! Ich versichere dir, Ganimard, ich hielt dich für gescheiter. Vertu ich meine Zeit mit solchen Kindereien, ich, Arsène Lupin! Hätte ich diesen Brief geschrieben, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, den Baron ohne Brief auszuplündern? Aber versteht doch endlich, du und die anderen, dass dieser Brief der notwendige Ausgangspunkt ist, die Triebfeder, die alles ins Rollen gebracht hat. Lass uns der Reihe nach vorgehen, und, wenn du willst, den Diebstahl des Malaquis zusammen vorbereiten.«

»Ich höre.«

»Also, nehmen wir ein streng verschlossenes, verriegeltes Schloss, wie das des Barons Cahorn. Soll ich die Partie aufgeben und auf die Schätze, die ich haben will, unter dem Vorwand verzichten, dass das Schloss, in dem sie sich befinden, unerreichbar ist?«

»Natürlich nicht.«

»Soll ich den Ansturm wie früher an der Spitze einer Truppe Abenteurer versuchen?«

»Kindisch.«

»Soll ich mich heimlich einschleichen?«

»Unmöglich.«

»Dann bleibt nur noch eine Möglichkeit, die einzige nach meiner Meinung: mich vom Eigentümer des besagten Schlosses einladen zu lassen.«

»Die Möglichkeit ist originell.«

»Und so einfach! Nehmen wir an, dass der besagte Eigentümer eines Tages einen Brief bekommt, in dem er vor dem gewarnt wird, was ein Mann namens Arsène Lupin, ein bekannter Einbrecher, gegen ihn einfädelt. Was wird er tun?«

»Er schickt den Brief zum Staatsanwalt.«

»Der sich über ihn lustig macht, da eben derselbe Lupin gegenwärtig hinter Schloss und Riegel sitzt. Also, Entsetzen des guten Mannes, der bereit ist, jeden, der ihm in die Hände läuft, um Hilfe zu bitten, nicht wahr?«

»Daran besteht kein Zweifel.«

»Und wenn er zufällig in einem Käseblatt liest, dass ein berühmter Kriminalbeamter in der Sommerfrische im Nachbarort weilt …«

»Wendet er sich an diesen Kriminalbeamten.«

»Du sagst es. Aber nehmen wir andererseits an, dass Arsène Lupin in Voraussicht dieses unvermeidlichen Schrittes einen seiner fähigsten Freunde gebeten hat, sich in Caudebec niederzulassen, Verbindung mit einem Redakteur der Reveil aufzunehmen, der Zeitung, die der Baron abonniert hat, und verlauten zu lassen, dass er der und der ist, nämlich ein berühmter Kriminalbeamter, was geschieht dann?«

»Dass der Redakteur in der Zeitung Reveil die Anwesenheit des besagten Kriminalbeamten in Caudebec verkündet.«

»Richtig, und da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder beißt der Fisch – ich meine Cahorn – nicht an, dann geschieht nichts. Oder, und das ist die wahrscheinlichere Hypothese, er eilt zitternd herbei. Und so fleht mein Cahorn einen meiner Freunde um Hilfe gegen mich an.«

»Es wird immer origineller.«

»Natürlich verweigert der Pseudo-Kriminalbeamte zunächst seine Hilfe. Darauf folgt das Telegramm von Arsène Lupin.

Entsetzen des Barons, der meinen Freund von Neuem anfleht und ihm soundsoviel dafür bietet, wenn er ihn bewacht. Der Freund nimmt an, bringt zwei Burschen aus unserer Bande mit, die nachts, während Cahorn von seinem Beschützer bewacht wird, eine Reihe von Gegenständen durch das Fenster transportieren und sie mit Hilfe von Seilen in eine zu diesem Zweck gemietete Schaluppe gleiten lassen.

Das ist so einfach wie Lupin.«

»Das ist herrlich«, rief Ganimard, »und ich kann die Kühnheit des Einfalls und die Scharfsinnigkeit der Einzelheiten nicht genug bewundern. Aber ich kann mir kaum einen so berühmten Kriminalbeamten vorstellen, durch dessen Namen der Baron dermaßen hätte beruhigt werden können.«

»Es gibt einen, es gibt nur einen.«

»Welchen?«

»Den des berühmtesten, des persönlichen Feindes Arsène Lupins, kurz, des Inspektors Ganimard.«

»Ich!«

»Du selbst, Ganimard, deswegen wird es ja so delikat: Wenn du dorthin fährst und der Baron sich entschließt, auszuplaudern, wirst du zu dem Schluss kommen, dass es deine Pflicht ist, dich selbst zu verhaften, wie du mich in Amerika verhaftet hast. He! Die Revanche ist köstlich: Ich lasse Ganimard durch Ganimard verhaften!«

Arsène Lupin lachte aus vollem Hals. Der ziemlich verärgerte Inspektor biss sich auf die Lippen. Ihm schien der Spaß keinen solchen Freudentaumel zu rechtfertigen.

Der Eintritt eines Wärters gab ihm Zeit, sich wieder zu fassen. Der Mann brachte die Mahlzeit, die sich Arsène Lupin durch Sondergenehmigung von einem benachbarten Restaurant bringen ließ. Nachdem er das Tablett auf den Tisch gestellt hatte, entfernte er sich. Arsène setzte sich zurecht, brach sein Brot, aß zwei, drei Brocken und fuhr fort:

»Aber sei ruhig, mein lieber Ganimard, du wirst nicht dorthin fahren. Ich will dir eine Sache anvertrauen, die dich in Erstaunen versetzen wird: Die Affäre steht kurz davor, zu den Akten gelegt zu werden.«

»Was?«

»Kurz davor, zu den Akten gelegt zu werden, sagte ich.«

»Das ist nicht möglich, ich habe gerade den Chef des Sicherheitsdienstes verlassen.«

»Und? Weiß Herr Dudouis mehr über mich als ich? Du wirst erfahren, dass Ganimard – entschuldige –, dass der Pseudo-Ganimard sehr gute Beziehungen zu dem Baron aufrechterhalten hat. Dieser, und das ist der Hauptgrund, warum er nichts gestanden hat, hat ihn mit der sehr delikaten Aufgabe betraut, mit mir geschäftlich zu verhandeln, und zu dieser Stunde ist es mit Hilfe einer bestimmten Summe wahrscheinlich, dass der Baron wieder in den Besitz seiner lieben Kleinigkeiten gekommen ist. Als Gegenleistung wird er seine Klage zurückziehen. Also, kein Diebstahl mehr. Also muss die Staatsanwaltschaft wohl oder übel aufgeben …«

Ganimard betrachtete den Häftling verblüfft.

»Und woher weißt du das alles?«

»Ich habe gerade das Telegramm erhalten, das ich erwartete.«

»Du hast eben ein Telegramm erhalten?«

»Im Augenblick, lieber Freund. Aus Höflichkeit wollte ich es nicht in deiner Gegenwart lesen. Aber wenn du erlaubst …«

»Du machst dich über mich lustig, Lupin.«

»Sei so gut, mein Lieber, und schlag vorsichtig das obere Ende von diesem weichen Ei. Du wirst selbst feststellen, dass ich mich nicht über dich lustig mache.«

Mechanisch gehorchte Ganimard und schlug das Ei mit der Messerklinge auf. Ein überraschter Schrei entfuhr ihm. Die leere Schale enthielt ein blaues Blatt Papier. Auf Arsènes Bitte faltete er es auseinander. Es war ein Telegramm, oder eher der Teil eines Telegramms, von dem man die Stempel der Post abgerissen hatte. Er las:

»Vertrag abgeschlossen. Hunderttausend Piepen ausbezahlt. Alles in Ordnung.«

»Hunderttausend Piepen?« fragte er.

»Ja, hunderttausend Francs. Das ist wenig, aber die Zeiten sind schlecht … Und ich habe so viele Ausgaben. Wenn du mein Budget kennen würdest … ein Großstadtbudget!«

Ganimard stand auf. Seine schlechte Laune war verflogen. Er überlegte einige Sekunden, durchging die ganze Affäre noch einmal in Gedanken, um einen schwachen Punkt zu finden. Dann sprach er in einem Ton, der offen die Bewunderung des Kenners durchblicken ließ:

»Gott sei Dank gibt es kein Dutzend von deiner Sorte, sonst könnten wir uns alle zur Ruhe setzen.«

Arsène Lupin setzte eine bescheidene Miene auf:

»Pah, ich musste mich zerstreuen, meine freie Zeit totschlagen … umso mehr, als die Sache nur gelingen konnte, während ich im Gefängnis saß.«

»Wie?« rief Ganimard: »Dein Prozess, deine Verteidigung, die Untersuchung, alles das genügt dir also nicht zur Zerstreuung?«

»Nein, denn ich habe beschlossen, meinem Prozess nicht beizuwohnen.«

»Aha!«

Arsène Lupin wiederholte bedächtig:

»Ich werde meinem Prozess nicht beiwohnen.«

»Wirklich?«

»O nein, mein Lieber! Glaubst du, dass ich auf dem feuchten Stroh krepieren will? Du beleidigst mich. Arsène Lupin bleibt nur so lange im Gefängnis, wie es ihm gefällt, keine Minute länger.«

»Es wäre vielleicht klüger gewesen, gar nicht erst hineinzugehen«, wandte der Inspektor ironisch ein.

»Ah, der Herr verspottet mich? Der Herr erinnert sich daran, dass er die Ehre gehabt hat, meine Verhaftung zu bewirken? Du solltest wissen, mein ehrwürdiger Freund, dass niemand, du nicht mehr als ein anderer, hätte Hand an mich legen können, wenn mich nicht eine weitaus interessantere Sache in diesem kritischen Augenblick beschäftigt hätte.«

»Du verblüffst mich.«

»Eine Frau schaute mich an, Ganimard, und ich liebte sie. Verstehst du, was in dieser einfachen Tatsache liegt: von einer Frau angeschaut zu werden, die man liebt? Alles andere war mir unwichtig, das schwöre ich dir. Darum bin ich hier.«

»Schon ziemlich lange; du erlaubst mir doch diese Feststellung?«

»Ich wollte es eigentlich vergessen. Lach nicht. Das Abenteuer war so entzückend gewesen, ich denke noch mit Rührung daran. Außerdem habe ich etwas schwache Nerven. Das Leben ist heutzutage so gehetzt. In gewissen Augenblicken muss man das, was man eine Kur der Zurückgezogenheit nennt, machen können. Dieser Ort ist der geeignetste, den es für Kuren dieser Art gibt. Man erlebt hier die Kur der Santé in vollem Ausmaß.«

»Arsène Lupin«, warf Ganimard ein, »du machst dich über mich lustig.«

»Ganimard«, versicherte Lupin, »wir haben heute Freitag. Nächsten Mittwoch rauche ich um vier Uhr nachmittags in der Rue Pergolèse meine Zigarre bei dir.«

»Ich erwarte dich.«

Sie drückten sich die Hände wie zwei gute Freunde, die sich nach ihrem wahren Wert schätzen, und der alte Kriminalbeamte wandte sich zur Tür.

»Ganimard!«

Er drehte sich um.

»Was ist los?«

»Ganimard, du vergisst deine Uhr.«

»Meine Uhr?«

»Ja, sie hat sich in meine Tasche verirrt.«

Er gab sie ihm unter Entschuldigungen zurück.

»Verzeih… eine schlechte Gewohnheit … Weil sie mir meine weggenommen haben, habe ich noch lange keinen Grund, dich deiner zu berauben. Umso mehr, als ich hier einen Chronometer habe, über den ich mich nicht beklagen kann und der meinen Bedürfnissen vollauf entspricht.«

Er zog aus der Schublade eine große goldene Uhr, kompakt und praktisch, die eine schwere Kette schmückte.

»Und die, aus welcher Tasche kommt die?« fragte Ganimard. Arsène Lupin untersuchte lässig die Initialen.

»J. B. … Wer zum Teufel kann das sein? Ah! Ja, ich erinnere mich: Jules Bouvier, mein Untersuchungsrichter, ein reizender Mensch.«

Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner

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