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Karl Adalbert Fischer war Polizeichef in Bad Quellenberg. Er war klein und untersetzt, und sein schmaler Kopf bildete einen merkwürdigen Kontrast zu seinem gedrungenen Körper. Er hatte kurze Arme, einen langen Hals und klare, scharfe Vogelaugen. Wenn er in seinem langen Mantel und seiner hohen Schirmmütze durch die Stadt ging, sah er einer Ente sehr ähnlich.

Leutselig wie er war, besaß er eine Vorliebe für dralle Bauernmädchen und Schnaps. Seinen Dienst versah er mit genialer Großzügigkeit, und dieser Eigenschaft hatte er nicht nur seine Beliebtheit bei den Quellenbergern zu verdanken, sondern auch die Tatsache, daß er in den letzten fünfzehn Jahren unbehelligt geblieben war: Er hatte ein gutes Dutzend Säuberungsaktionen der großdeutschen Verwaltung überstanden und damit gerechnet, sich dank seiner Geschicklichkeit und Erfahrung bis zur Pensionierung ungestört im Amt zu halten. Jetzt war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher.

Als Max Holzinger sein Büro betrat, wärmte er gerade sein Hinterteil am Ofen, mit einem Schnapsglas in der Hand, den Mund voller Kuchen. Er machte eine unbestimmte Handbewegung und murmelte: »Grüß Gott, Herr Bürgermeister. Schenk dir ein und wärm dich auf.«

Holzinger warf seinen Hut auf den mit Papieren bedeckten Tisch und zog seine Handschuhe aus. Er goß sich ein Glas der klaren Flüssigkeit ein und leerte es in einem Zug.

Der kleine Polizeibeamte beobachtete ihn aus schlauen, aufmerksamen Augen. Er grinste: »Du bist aufgeregt, mein Lieber. Ich nehme an, du kommst eben von dem Engländer.«

»Das stimmt. Der Kommandant sagte, er hätte mit dir telefoniert.«

»O ja, er hat mit mir telefoniert.« Fischer unterdrückte ein Lachen und schluckte an seinem Schnaps. »Zuerst dachte ich, es sei ein Scherz. Er spricht wie ein Wiener.«

»Das ist kein Scherz. Ihm ist es sogar sehr ernst.«

»Ich weiß. Ich habe ihm schon unsere volle Unterstützung zugesichert und unseren aufrichtigen Wunsch, ihm zu helfen.«

Holzinger sah ihn scharf an. »Unterschätze ihn nicht, Karl. Er ist intelligent und tüchtig. Er weiß, was er will, und wird alles dransetzen, es zu bekommen. Dieser – dieser Mord bedeutet einen schlechten Anfang für uns.«

»Einen sehr schlechten Anfang.« Fischer stellte sein Glas nieder und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich habe meine Leute ausgeschickt, damit sie die Spuren untersuchen. Ich hoffe, sie kommen vor Einbruch der Dunkelheit an.«

»Vor Einbruch der Dunkelheit?« Holzinger sah ihn überrascht an. »Es ist doch kaum Mittag, und der Tatort ist keine zehn Kilometer von hier entfernt.«

»Der Wagen ist alt«, meinte Fischer. »Die Reifen sind abgefahren. Das Steuer ist auch nicht in Ordnung, und die Straße ist vereist. Wenn sie einen Unfall haben, müßten die Leute zu Fuß gehen – und die Besatzungsmacht müßte uns einen neuen Wagen besorgen. Wir könnten ihn wirklich gebrauchen! Außerdem«, er ließ seinen komischen Kopf sinken und zog die Luft durch die Nase ein, »dürfte es am Nachmittag Schnee geben. Wenn er früh genug kommt, gibt es keine Spuren mehr.«

Holzinger starrte ihn ungläubig an, mit einer Mischung von Ärger und Verwunderung. »Karl, die Situation ist wirklich ernst; mit dieser Angelegenheit kannst du nicht herumspielen.«

»Ich spiele nicht.«

»Was denn? Dies ist Mord – und wir beide sind dem Kommandanten gegenüber verantwortlich.«

Fischer entnahm seinem Lederetui eine Zigarette und klopfte damit nachdenklich auf seinen Daumennagel. Seine Augen blickten ausdruckslos ins Leere. »In den letzten zehn Jahren sind viele Morde geschehen, Max«, sagte er bitter. »In gewisser Hinsicht sind wir dafür ebenfalls mitverantwortlich. Ich sehe nicht ein, warum so ein armer verrückter Teufel für sie alle hängen soll.«

»Er hat einen Engländer getötet.«

»Bis vor wenigen Monaten wurden sie genau dafür bezahlt – und wenn sie es nicht getan hätten, wären sie erschossen worden. Vielleicht wußte er nicht, daß der Krieg zu Ende ist.«

»Das Gericht würde das ...«

»Das Gericht!« Der kleine Kopf fuhr in die Höhe. »Das Standgericht, meinst du. Wo die Richter sitzen mit dem Gestank der Krematorien und Konzentrationslager in der Nase und uns alle in einen Topf werfen als Henker und Folterknechte! Ich kann es ihnen auch gar nicht verdenken. Nur, ich werde ihnen diesen Jungen nicht ans Messer liefern. Schau ...« Er ging zu der anderen Seite des Zimmers, an deren Wand noch immer eine Karte mit den Schlachtfeldern Europas hing, die mit kleinen bunten Fähnchen markiert waren. Die Fähnchen hingen traurig herab, und die Karte war bedeckt mit Spritzern von Wein und Kaffee, die von der letzten verzweifelten Feier vor dem Waffenstillstand herrührten.

Es war typisch für Fischer, daß er nicht daran gedacht hatte, sie abzunehmen. Nun stand er daneben und zog die Linien mit seinem kurzen Zeigefinger nach, während ihm der Bürgermeister mit wachsender Verwunderung zusah.

»Ich werde dir zeigen, woher er kam, und du sollst hören, was er unterwegs erlebt hat. Er fing an in der Ukraine, in Mukachevo, dem Feldlazarett für unsere Quellenberger Jungen. Er war Arzt, weißt du, ohne große Erfahrung. Aber unsere Jungen waren ja alle nicht alt, nicht wahr? Er hatte bald mehr Erfahrung, als er wünschen konnte: Amputationen, Bauchschüsse, Erfrierungen, Typhus und all die anderen verdammten Sachen, die anfielen, als die Iwans uns auf der ganzen Front zurückdrängten. Als das Regiment abgeschnitten war, arbeitete er Tag und Nacht weiter, ohne Medikamente, ohne Betäubungsmittel, bis er mit dem Gesicht in das Blut eines Toten fiel und liegenblieb. Das hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet, denn als die Kosaken durchbrachen, zogen sie schreiend und grölend mit ihren Bajonetten durch die Lazarette. Daher hat er die Narbe im Gesicht. Wäre er wach gewesen, hätte er es in den Bauch gekriegt. Als er zu sich kam, lag er unter den Toten, und selbst als er schrie, hörte ihn niemand, denn die Kosaken waren schon weitergezogen, und über die Steppe fegte der Schneesturm. Die eine Gesichtshälfte war bis zum Kiefer offen, doch hatte die Kälte das Blut gestillt. Er suchte in den Trümmern nach einem Spiegel und nach Nähmaterial und nähte die Wunde zusammen. Dann durchsuchte er die Taschen der Toten nach Brotresten und Zigaretten. Er zog ihnen die wollenen Kleidungsstücke aus und umwickelte seine Beine mit blutiger Unterwäsche. Dann nahm er ein Gewehr, ein Seitengewehr und die Pistole eines Toten und zog los, um sich nach Hause durchzuschlagen. Weißt du, wie lange er brauchte?« Fischer deutete anklagend mit dem Finger auf seinen Freund. »Zwölf Monate! Zweimal haben sie ihn gefangen, zweimal ist er entkommen. Er lief von Mukachevo nach Budapest, durch halb Ungarn. Die Iwans schlossen die Stadt innerhalb einer Woche ein; also machte er kehrt und kam nach Salonta in Rumänien. Dann ging er nach Süden, nach Jugoslawien, und dann nach Norden, nach Kärnten. Er hat drei Leute getötet. Er hat bei Huren geschlafen und Bauernmädchen verführt, damit sie ihm Essen gaben und ihn versteckten. In Jugoslawien fingen ihn die etniks und folterten ihn so, daß er für keine Frau mehr taugt. Danach lachten sie und warfen ihn zum Sterben vor die Tür. Wie durch ein Wunder blieb er am Leben, seine Wunden verheilten, aber sein Gesicht ist durch die Narbe entstellt wie eine Krampusmaske. Und wie alle gejagten, hungrigen Männer wurde er fast verrückt. Er sah Feinde hinter jedem Baum. Er träumt von nichts als Scheußlichkeiten – noch jetzt, obwohl er seit Wochen zu Hause ist. Nachts wacht er schreiend auf. Das Haus ist für ihn wie ein Gefängnis, und manchmal geht er hinaus mit seinem Gewehr und seiner Pistole und streift durch die Berge. Sie haben versucht, ihm seine Waffen abzunehmen, aber dann tobte er wie ein angeschossener Wolf. In letzter Zeit glaubten sie, es ginge besser mit ihm. Die Alpträume wurden seltener. Er wanderte nicht mehr so oft draußen umher. Und dann mußte das geschehen.«

»Du sprichst, als ob du ihn gut kenntest«, sagte Holzinger langsam.

»Ja, ich kenne ihn gut: Er ist der Sohn meiner Schwester.«

»Gott im Himmel!«

»Du – du verstehst jetzt, warum ich nicht will, daß sie ihn finden.«

»Ich verstehe. Nur sehe ich nicht, wie du ihn schützen willst. Die Besatzung kann Jahre dauern.«

Fischers Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. »Ich werde ihn verstecken. Ich bringe ihn von einem Tal ins andere und von einem Bauernhof auf den andern und lasse den Engländer jeden Berg absuchen, nur den richtigen nicht. Wenn es sein muß, verstecke ich ihn zehn Jahre lang; Hanlon wird niemals auch nur auf Schußweite an ihn herankommen.«

»Dergleichen kannst du niemals geheimhalten, Karl. Die Leute reden – unsere eher mehr als andere. Es wird Hanlon zu Ohren kommen, und dann wird er sich an dich halten.«

Das Gesicht des Polizisten entspannte sich wieder. Er nickte gutmütig, schenkte sich einen Schnaps ein und schlürfte ihn bedächtig. Dann ging er auf den kleinen Stahlschrank in der Ecke des Raumes zu, schloß ihn auf und entnahm ihm ein großes in Leder gebundenes Buch. Er trug es zum Tisch und blätterte darin. Holzinger sah, daß Seite für Seite mit einer kleinen deutschen Schrift gefüllt war.

»Was ist das?« fragte er erstaunt.

»Akten, Herr Bürgermeister. Meine persönlichen Notizen über jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in Bad Quellenberg. Tatsachen, Klatsch, Vermutungen. Geheimnisse, die mir im Bett anvertraut wurden; Gespräche, die ich auf Beerdigungen belauscht habe. Das steht alles hier. Das meiste habe ich niemals benutzt, aber es ist da, für den Fall, daß ich es brauche.«

»Hast du mich auch dabei?« fragte Holzinger verlegen lächelnd.

Fischer nickte. »Dich und deine Frau und deine Tochter – und deinen Sohn, Gott hab’ ihn selig. Du bist in guter Gesellschaft; du hast die Seite vor Pater Albertus.«

»Hast du Kunzli auch?«

»Kunzli!« Er grinste verächtlich. »Über den habe ich ein langes Kapitel. Warum fragst du?«

»Ich brauche es vielleicht eines Tages«, antwortete Holzinger leise. Fischer machte eine abwehrende Bewegung. »Nicht einmal für dich, Bürgermeister! In diesem Buch steckt die Arbeit eines Lebens. Ich habe meine Informationen niemals benutzt, um jemanden anzuzeigen, und werde es hoffentlich auch niemals tun. Aber meinen Nutzen werde ich doch daraus ziehen – auf die eine oder andere Art.«

»Du ziehst schon jetzt deinen Nutzen daraus, Karl.«

»Wirklich?« Er hob seinen Kopf empor wie ein Vogel, der bereit ist, bei der geringsten Gefahr davonzufliegen.

»Ja. Siehst du, ich habe alles vergessen, was du mir über den Sohn deiner Schwester erzählt hast. Soviel ich weiß, ist er in Rußland gefallen.«

»Gut.« Fischer stieß das Wort mit tiefer Befriedigung aus, während er sich über den Tisch beugte und zwei Gläser Schnaps einschenkte. »Ich wußte, du würdest mich verstehen, Max. Und wenn du mit Kunzli Schwierigkeiten hast, laß es mich wissen.«

»Das werde ich«, erwiderte Holzinger ruhig. »Prost!«

»Prost!«

Sie hoben ihre Gläser und tranken. An der Wand hinter ihnen befand sich die Landkarte; die Weinflecke darauf sahen aus wie vergossenes Blut.

Wir haben es verdient, dachte Holzinger bitter. Wir haben alles verdient, was über uns hereinbricht: die Regierungen, die wir bekommen, die Söhne, die wir verlieren, die Frauen, die uns verraten. Das Joch liegt wieder auf unseren Schultern – und dennoch überlegt jeder im stillen, wie er dem anderen schaden kann. Verflucht – was für erbärmliche Kreaturen!

Er leerte sein Glas, nahm Hut und Handschuhe und ging, den Ablauf des Begräbnisses mit Pater Albertus zu besprechen.

Die Tür des Pfarrhauses wurde ihm von der Haushälterin, einer Witwe mit straffen, geröteten Wangen und scharfer Stimme, geöffnet. Der Pfarrer sei nicht da, erklärte sie; er sei auf dem Kirchhof und schaufele Schnee wie ein gewöhnlicher Arbeiter. Und ehe Holzinger es verhindern konnte, brach sie in lautes Lamentieren aus über die sonderbaren Gewohnheiten des Pfarrers und über die unerträgliche Last, die er damit auf ihre breiten Schultern lade.

»Er bringt sich noch ins Grab, ganz gewiß. So alt wie er ist, könnte er doch wirklich vernünftiger sein. Wer muß ihn pflegen, wenn er sich jetzt eine Lungenentzündung holt? Ich natürlich! Man wird, weiß Gott, schon schwer genug mit ihm fertig, wenn er gesund ist. Ißt wie ein Spatz, verdünnt seinen Wein, daß er wie Spülwasser schmeckt und schläft des Nachts vielleicht zwei Stunden. Ich will ja nichts sagen, wenn er wenigstens mich schlafen ließe. Ich bin zwei Stockwerke unter ihm, aber ich höre doch, wie er ständig auf und ab geht und seine Gebete murmelt. Und manchmal peitscht er sich so heftig, daß seine Hemden blutig sind. Ich muß sie dann waschen. Man braucht ihn nur anzusehen, da weiß man ...«

»Schon gut, schon gut. Das ist nicht meine Sache.« Holzinger hatte mit wachsender Ungeduld zugehört; er hatte selber Sorgen genug, auch ohne diese Klagen über die asketische Lebensweise des alten Pfarrers. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und ging. Die Haushälterin schlug die Tür zu; sie ging in ihre Küche zurück und brummte etwas vor sich hin über Amtspersonen, die wichtig tun und deren Frauen daheim sich auch besser aufführen könnten.

Die Quellenberger hatten für die blonde Hamburgerin mit der tiefen Stimme niemals viel übrig gehabt, und die Eskapaden der Tochter bildeten einen willkommenen Gesprächsstoff rund um die Öfen der Bauernstuben.

Holzinger schlug seinen Pelzkragen hoch und steckte die Hände in die Taschen. Er ging mit vorgeschobenem Kopf, den Blick auf das vereiste Pflaster gesenkt. Die Leute auf der Straße grüßten ihn, doch er sah und hörte nichts, und sie gingen weiter und wußten nicht, was sie davon halten sollten – sie kannten ihren Bürgermeister als einen sehr zuvorkommenden Mann, der jeden Gruß erwiderte.

Vor der hohen Mauer, die den Kirchhof von der Straße trennte, trat ihm ein schmächtiges blondes Mädchen in den Weg und streckte ihm einen Strauß Schneerosen entgegen. Mit ihrer hohen Stimme sagte sie:

»Schneerosen, Herr Bürgermeister! Für die Armen, bitte ...«

Holzinger erschrak, als sie so unerwartet vor ihm auftauchte, aber es lag soviel Unschuld in ihrem kleinen verfrorenen Gesicht, daß er sich zu einem Lächeln zwang; er griff in die Tasche und gab ihr einige Münzen.

Sie dankte ihm mit einem Knicks, drückte ihm die Blumen in die Hand und hüpfte davon, auf das Tal zu. Holzinger betrachtete die zierlichen weißen Blüten mit ihren wächsernen Blättern und fragte sich, was er damit anfangen sollte.

Als er in den Kirchhof trat, fiel sein Blick auf das alte holzgeschnitzte Kruzifix, das sich über dem Wald von Kreuzen erhob. In plötzlicher Eingebung legte er die Blumen zu Füßen des Christus nieder, bekreuzigte sich verlegen und entfernte sich mit einem unbestimmten Schuldgefühl, wie ein Junge, den die Mutter über dem Marmeladeglas erwischt hat.

Dann erblickte er Pater Albertus.

Er schlug das Eis von den grauen Steinstufen des Eingangs und schaufelte es hinter dem nächsten Strebepfeiler zu einem Haufen auf. Mit seinem vollen weißen Haar und seinen gebeugten Schultern, dem abgetragenen Mantel und den schweren Stiefeln sah er aus wie einer der alten Bergbauern. Doch als er sich beim Klang der sich nähernden Schritte aufrichtete und umwandte, um Holzinger zu begrüßen, war er ein völlig anderer Mann.

Als erstes bemerkte man die außergewöhnliche Transparenz seines Gesichtes; es war, als brenne hinter seinen klaren Zügen ein Licht – ein Feuer, das langsam das Fleisch aufzehrte, so daß unter der alten durchscheinenden Haut nur die schmalen Knochen übrigzubleiben schienen.

Dann sah man seine kornblumenfarbenen Augen. Sie blickten klar und unschuldig und waren erfüllt von jener eifrigen Zärtlichkeit, die in den Augen eines Kindes aufleuchtet, wenn es mit einem geliebten Menschen ein Geheimnis teilt. Um seinen herben Mund spielte ein Lächeln, das die tiefen Linien, die das Leid in seine Wangen gegraben hatte, Lügen strafte. Seine Stimme klang dunkel und tief wie eine Glocke.

An seine Hände erinnerte man sich erst nachträglich. Sie waren knochig und krumm wie Habichtskrallen, die Gelenke breitgedrückt und steif, so daß er nur noch die Daumen und Zeigefinger bewegen konnte.

Schon kurz nach dem »Anschluß«, als er Leiter des Jesuiten-Noviziates in Graz war, hatte man ihn in »Besserungshaft« nach Mauthausen gebracht. Einer seiner Aufseher, ein früherer Schüler von ihm, hatte sich als Rache ausgedacht, ihm jede Woche einen Finger zu brechen und ihn der furchtbaren Angst auszusetzen, daß schließlich auch die geweihten Finger an die Reihe kämen und er nie wieder die Messe lesen könne.

Pater Albertus glaubte an die Kraft des Gebets – und in Mauthausen konnte er nichts tun als beten. Noch ehe die sechste Woche zu Ende war, hatte der Erzbischof von Wien seine Entlassung durchgesetzt. Dank der Voraussicht des Erzbischofs konnte Pater Albertus wählen zwischen seiner Ausweisung aus Österreich und der Anstellung als Pfarrer in den Bergen.

Und so stand er jetzt auf dem Kirchhof von Sankt Julian, wie ein Bauer auf die Schaufel gestützt, und hörte sich Holzingers kläglichen Bericht über seine Unterredung mit Hanlon an. Er ließ ihn in Ruhe ausreden. Dann sagte er langsam mit traurig verschleiertem Blick: »Sie müssen das verstehen, Max. Es ist für jeden von uns schwer, sich in einer solchen Situation richtig zu verhalten.«

Das war eine weitere Eigenart des Alten: Niemals sagte er das, was man erwartete. Er verschwendete keine Worte für höfliche Einleitungen, als habe er nur noch für die Wahrheit Zeit.

»Für uns schwerer als für ihn«, sagte Holzinger verdrossen.

»O nein! Mit der Macht geht es wie mit des Kaisers neuen Kleidern – eine Illusion, die den Menschen nackt läßt und ihn dem Gelächter und dem Schwert aussetzt.«

»Werden Sie ihn aufsuchen?«

»Ja.«

»Dann versuchen Sie doch bitte, ihm begreiflich zu machen, daß ich zwar die Leute zur Beerdigung zusammenrufen kann – aber ich kann nicht garantieren, daß sie alle kommen. Ich kann meine Kollegen nicht zwingen, den Sarg zu tragen.«

»Vergessen Sie einmal Ihre Eitelkeit, Herr Bürgermeister.« In dem Lächeln des alten Mannes lag leise Ironie. »Vergessen Sie, daß es sich um einen Befehl der Besatzungsmacht handelt. Tragen Sie es vor als Ihre persönliche Bitte; machen Sie ihnen klar, daß es eine Sache der Höflichkeit und des Mitgefühls ist. Unsere Leute verstehen das – jedenfalls meistens.«

»Damit machen wir Hanlon den Sieg leicht.«

»Hanlon ...?« wiederholte der Pfarrer überrascht. »Das ist doch kein englischer Name, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht. Ich kenne mich in dieser Sprache nicht so gut aus. Wieso?«

Pater Albertus zuckte die Schultern. »Nur ein Gedanke, eine alte Erinnerung. Es hat nichts zu bedeuten.«

»Übrigens ...« Holzingers Blick glitt über die alten Steine der Familiengräber und den kleinen Wald der Tannenkreuze, die aufgerichtet waren zur Erinnerung an das unbegrabene Regiment.

»Wo sollen wir diesen Mann begraben?«

»Dort drüben.« Pater Albertus deutete auf das hohe Kruzifix. »Zu Füßen des Christus.«

»Mitten, unter unseren Jungen?« fragte Holzinger bestürzt. »Das wird unseren Leuten nicht recht sein.«

»Im Schoß der Mütter und im Schoß der Erde sind wir alle nur eine Familie«, ermahnte ihn ernst der alte Mann. »Wir sind alle Brüder in Christo. Je eher die Leute das einsehen, desto schneller werden sie Frieden finden.«

Holzinger sah nieder auf die knotigen Hände des Pfarrers, auf seine gebrochenen Finger, und begriff, daß hier kein Widerspruch möglich war.

Major Hanlon saß in seinem geräumigen Arbeitszimmer im obersten Stock des Hotels Sonnblick und unterhielt sich mit Captain Johnson über die Aussichten der nächsten Zeit. Ein Ober in weißer Jacke hatte soeben die Reste des Mittagessens abgeräumt; die beiden Männer saßen zurückgelehnt in ihren Sesseln, tranken Kaffee und nippten zwischendurch an einem starken süßen Likör. Das Essen und der Wein hatte sie gelassener gestimmt, die neue Umgebung verlor allmählich ihre Fremdheit, und sie fingen an, sich aneinander zu gewöhnen.

Johnson bot Hanlon von seinen Zigaretten an. Beide rauchten einige Minuten schweigend und betrachteten die blauen Spiralen, die schläfrig zu den Kassetten der Decke aufstiegen. Johnson grinste jungenhaft und sagte halblaut: »Dieses Leben gefällt mir; so kann ich es eine Weile aushalten.«

»Das wirst du schon müssen, Johnny«, meinte Hanlon gleichmütig. »Wir werden hier eine ganze Zeitlang bleiben. Sind unsere Leute untergebracht?«

»Ja. Die einfachen Soldaten im ersten und zweiten Stock, die Unteroffiziere im Parterre. Die Mahlzeiten nehmen sie im großen Speisesaal ein, und als Kantine können sie das Stüberl benutzen. Die Cocktailbar ist für die Unteroffiziere. Den Ballsaal richten wir als Theater her; Aufenthaltsraum und Schreibzimmer können bleiben, wie sie sind. Ich nehme an, du bist zufrieden mit unseren Räumen hier oben – man könnte ein ganzes Regiment hier unterbringen.«

Hanlon nickte nachdenklich und zog an seiner Zigarette. »Sie werden sich schon nach einer Woche langweilen. Wir brauchen Unterhaltung. Sieh zu, daß Mayer ein paar Musiker für uns auftreibt. Ich werde nach Klagenfurt schreiben, daß sie uns einen Projektor schicken und uns regelmäßig mit Filmen versorgen. Du kannst sicherlich einen Schilehrer auftreiben für diejenigen unter unseren Leuten, die Wintersport treiben wollen. Die Bars schließen wir wohl besser um elf Uhr, und um zwölf ist Polizeistunde und Zapfenstreich.«

»Und was machen wir mit dem Fraternisierungsverbot?«

»Danach wird sich wohl kaum jemand richten. Früher oder später muß es doch aufgehoben werden. Wie die Dinge liegen, eher früher. Bis dahin ...« Er brach ab und betrachtete die vergoldeten Stuckleisten an der Decke.

»Bis dahin?« wiederholte Johnson neugierig.

»Ich möchte nicht, daß mir nachher die schwangeren Dienstmädchen ins Hotel gelaufen kommen. Wir müssen schon unsere eigenen Regeln aufstellen. Den Soldaten ist das Betreten der Bars und Gaststuben in der Stadt untersagt. Wenn sie mit den Mädchen Spazierengehen oder Schi laufen wollen, habe ich nichts dagegen. Wenn die Leute sie zu sich nach Hause einladen, soll mir das auch recht sein. Aber keine Fraternisierung in der Öffentlichkeit und keine Frauen im Hotel – es sei denn, wir geben einen offiziellen Empfang. Aber bis dahin wird es noch eine Weile dauern.«

»Nimmst du da nicht etwas viel auf dich, Mark?« fragte Johnson. »Versteh mich richtig«, fügte er hastig hinzu. »Ich glaube, du hast recht. Nur, was werden sie in Klagenfurt dazu sagen?«

»Ich habe nicht die Absicht, ihnen darüber Bericht zu erstatten«, erwiderte Hanlon schroff. »Und ich überlasse es dir und den Unteroffizieren, den Leuten die Lage vernünftig darzulegen und aufzupassen, daß sie weder ihre Stellung mißbrauchen – noch die Mädchen. Wenn es Scherereien gibt, greife ich durch, und zwar scharf.«

»Ganz recht.« Johnson nickte zustimmend. »Ein oder zwei Wochen lang werde ich sie kurzhalten; danach lasse ich die Zügel allmählich locker. Ich glaube, so geht es am besten.«

»Das kannst du halten, wie du willst. Ich habe jetzt schon alle Hände voll zu tun.« Er blickte finster vor sich hin und preßte die Lippen zusammen.

Johnson sah ihn mit leichtem Unbehagen an. »Stört dich etwas, Mark?«

Hanlon stand hastig aus dem Sessel auf und trat ans Fenster. Er betrachtete die grauen Wolken, die über den Paß heraufzogen und die weißen Hänge des Grauglockners langsam verdeckten.

»Es wird bald schneien«, sagte er abwesend.

»Das ist doch keine Antwort auf meine Frage.«

»Es ist die Antwort, du weißt es selber.« Hanlon wandte sich um und sah ihn an. »In zwanzig Minuten sind alle Spuren verdeckt. Die Polizisten werden zurückkommen und uns erzählen, daß sie von dem Mann, der Willis getötet hat, nicht das geringste entdecken konnten.«

»Das hast du erwartet, nicht wahr?«

»Allerdings. Aber ich freue mich wahrhaftig nicht, wenn es eintrifft.«

»Er ist tot«, sagte Johnson mit der ganzen unbewußten Grausamkeit der Jugend. »Du kannst ihn nicht ins Leben zurückholen. Er fiel, als der Krieg schon abgeblasen war, und damit wird aus einer Kriegstat ein Verbrechen. Die Maschinerie, die den Verbrecher fangen soll, hast du in Bewegung gesetzt. Ich sehe keinen Grund, wieso du dir jetzt noch Vorwürfe machst. Wir richten Willis ein anständiges Begräbnis und vergessen ihn – einfach weil wir an ihn nicht mehr denken können als an die Millionen anderer, die in den letzten Jahren umgekommen sind. Komm, trink noch einen Schluck!«

Er schob ihm die Flasche und das Glas über die polierte Tischplatte zu. Trotzdem war er etwas überrascht, als Hanlon vom Fenster zurückkam, die Flasche nahm und sich randvoll einschenkte. Er warf Johnson einen bitteren Blick zu und hob das Glas.

»Auf die neue Ordnung! Prost!«

»Es gibt keine neue Ordnung«, meinte Johnson vergnügt. »Die Männer bleiben stets die gleichen, und die Mädchen sind immer anders. Aber das ist kein Grund, den Alkohol zu verachten. Prost!« In diesem Augenblick läutete das Telefon. Als Hanlon den Hörer abnahm, meldete ihm der Sergeant der Wache, daß Pater Albertus ihn sprechen wolle.

»Lassen Sie ihn drei Minuten warten, und bringen Sie ihn dann herauf.«

»Zu Befehl!«

Er legte den Hörer auf und wandte sich rasch um.

»Besuch, Johnny! Der Pfarrer. Wir müssen etwas Ordnung in dieses Durcheinander hier bringen und versuchen, wieder wie ordentliche Menschen auszusehen.«

»Meinst du, deine Besucher durchschauen das nicht manchmal?« fragte Johnson, der sich nach dem guten Essen und unter dem Einfluß des Alkohols dem gewöhnlichen Leben weit entrückt fühlte.

Hanlon warf ihm einen scharfen Blick zu und erwiderte verstimmt: »Wenn sie es durchschauen, sind wir selber schuld. Beeil dich, Johnny! Leer den Aschenbecher aus und räum den Likör weg!«

Sie liefen hin und her wie zwei Dienstmädchen. Als wenige Minuten später Pater Albertus hereingeführt wurde, saß Hanlon hinter seinem Schreibtisch und Johnson stand neben ihm – beide vom Scheitel bis zur Sohle Besatzungsmacht.

Der Sergeant trat zur Seite, und der alte Pfarrer ging langsam über den breiten Teppich auf den Schreibtisch zu. Er streckte seine Hand aus mit den Worten: »Grüß Gott, Herr Major.«

Johnson war verblüfft von der tiefen, volltönenden Stimme mit dem Glockenklang. Hanlon starrte ihn mit offenem Munde an, als hätte er ein Gespenst vor sich. Statt die Hand zu ergreifen, die ihm der Pfarrer noch immer entgegenhielt, erhob er sich langsam aus seinem Sessel, den Blick starr auf das hagere, klare Gesicht und die weißen Haare gerichtet.

»Allmächtiger Gott! Nein!« brachte er ungläubig hervor.

Johnson und der Sergeant beobachteten ihn verwundert. Mit einer knappen Kopfbewegung sagte Hanlon zu beiden: »Lassen Sie uns bitte allein.«

Einen Augenblick zögerten sie, dann salutierten sie korrekt und verließen den Raum. Erst nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, ergriff Hanlon die Hand des alten Mannes. Er fühlte die steifen gebrochenen Finger in seiner Hand und blickte erschrocken darauf nieder; dann sah er wieder auf in das gütige Gesicht des Pfarrers.

»Ihr Name sagte mir gar nichts, als ich ihn eben hörte. Ich kann noch immer nicht glauben, daß Sie es wirklich sind.«

»Bruder Mark! Der rastlose Löwe. Mir fiel der Name gleich auf, als Holzinger ihn erwähnte. Sie haben sich verändert, mein Sohn.«

»Sie auch, Vater. Wollen Sie sich nicht setzen?«

Hanlon verließ seinen Platz hinter dem Schreibtisch und brachte einen Sessel für den alten Mann. Er bot ihm Zigaretten und Likör an, doch Pater Albertus lehnte beides ab. Dann zog Hanlon einen zweiten Sessel für sich selber heran und setzte sich dem Pater gegenüber; es schien, als schäme er sich, in Gegenwart seines früheren Lehrers den Platz des Mächtigen einzunehmen.

»Gott führt uns seltsame Wege, mein Sohn«, sagte der Pfarrer, der gelassen die Falten in Hanlons Gesicht betrachtete. »Ich bin gekommen, um meine Knie vor Cäsar zu beugen, und finde auf dem Adlerthron meinen früheren Novizen.«

»In Ihrem Studiensaal fühlte ich mich wohler«, entgegnete Hanlon trocken.

Der alte Pfarrer lächelte und schüttelte den Kopf. »Sie hatten auch damals keine Ruhe. Die Kutte lag schwer auf Ihren Schultern.« Und mit einem Blick auf die glänzenden Kronen der Schulterklappen fragte er: »Drückt die Uniform Sie nicht etwas weniger?«

»Sie paßt mir besser, Vater. Ich war nicht dazu geboren, ein Leben als Mönch zu führen.«

»Ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht. Sie waren unglücklich, als Sie uns verließen. Sind Sie glücklich geworden?«

»Ich bin älter geworden.« Hanlon wog seine Antwort sorgfältig ab. »Ich bin nicht unglücklich im Augenblick.« Er sah wieder auf die gekrümmten Hände, die wie Krallen um die Armlehnen des Sessels griffen. »Erzählen Sie von sich selber. Was ist mit Ihren Händen geschehen?«

»Mauthausen«, sagte Pater Albertus. »Ein unglücklicher Mensch, der glaubte, er könne die Qualen seines eigenen Gewissens erleichtern, indem er andere quälte. Er hatte zu meinen Schülern gehört, bevor ich Novizenmeister wurde. Ich muß ihn sehr enttäuscht haben. Ich habe das Gefühl, daß dies eine Art Strafe für mein Versäumnis ist.«

»In diesem Lande geht es zu wie in einem Irrenhaus«, stöhnte Hanlon mit unerwarteter Bitterkeit. »Was ist mit den Leuten hier geschehen, daß sie so etwas tun können – Brutalitäten, Folter und Mord! Als ich damals mit Ihnen in Graz lebte, war es anders. Die Leute waren nett, gemütlich und eher weich – wie englischer Pudding. Was ist geschehen?«

Pater Albertus entgegnete ernst: »Nichts, als daß die Saat des Bösen, die wir schon immer in unseren Herzen trugen, aufgegangen ist. Nichts, was mit Ihnen, mein Sohn, nicht auch hätte geschehen können.«

»Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen«, erwiderte Hanlon verstimmt.

»Ich glaube, Sie verstehen mich recht gut. Sie haben lange unter uns gelebt – lange genug, um unsere Sprache zu lernen wie unsere eigenen Kinder. Und ich irre wohl nicht, wenn ich annehme, daß Sie deswegen zurückgekommen sind – weil Sie uns wiedersehen wollten, uns vielleicht helfen wollten. Habe ich recht?«

»Mehr als Sie glauben. Sechs Monate habe ich gebraucht, um die Voraussetzungen für meine jetzige Stellung zu schaffen. Nach all dem entsetzlichen Durcheinander des Krieges sah ich hier eine Möglichkeit aufzubauen, statt zu zerstören.« Er lächelte und spreizte wehmütig die Hände.

»Vater Novizenmeister, Sie haben mich mehr Dinge gelehrt, als Ihnen sicher bewußt ist. Sie haben den Küssen die Glut und dem Wein den Wohlgeschmack genommen. Sie haben mir diesen Drang, die Welt zu verbessern, ins Herz gepflanzt – aber Sie haben mich niemals gelehrt, wie man behaglich in ihr lebt. Das mußte ich allein herausfinden. Und doch – Sie haben recht: Ich wollte zurückkommen, ich wollte helfen. Ich habe diese Leute geliebt.«

»Bis Ihr Freund ermordet wurde.«

»Ja, so ist es.«

»Es sind nicht alle Leute hier wie dieser eine.«

»Trotzdem werden sie alle diesen einen vor mir verstecken.«

»Gehen Sie nicht zu hart ins Gericht mit ihnen. Sie haben fast alle ihre jungen Männer verloren. Viele Mädchen in diesem Tal werden niemals heiraten. Können Sie es ihnen verübeln, wenn sie diesen Mann retten wollen, so entstellt er sein mag?«

»Auf diese Art werden sie ihn doch nicht retten können. Ist es denn so schwer, zu begreifen, daß Gesetz und Recht ...«

»Gesetz und Recht sind zum Gespött geworden bei uns. Das sollten Sie bedenken, Mark.«

»Aber inzwischen gibt es neue Gesetze.«

Der alte Mann lächelte mit leiser Ironie und schüttelte den Kopf. »Ja, die Gesetze des Siegers. Sie sind von Anfang an verdächtig.«

»Das weiß ich ebensogut wie Sie. Aber sehen Sie denn nicht ein, daß man es mit diesen neuen Gesetzen versuchen muß? Anders ist ein neuer Anfang nicht möglich. Sie sollten die Gesetze mehr achten als alle anderen, Vater.«

»Ich achte sie, mein Sohn – nur konnte ich niemals glauben, daß der Henker der beste Ausleger des Gesetzes ist.«

»Gott im Himmel, ich bin kein Henker!« rief Hanlon aufgebracht. »Ich habe dafür zu sorgen, daß das Recht gewahrt wird! Und ich erinnere mich gut genug an mein Leben in Österreich, um seine Härte durch Gnade zu mildern.«

»Sie können weder für das Recht noch für die Gnade garantieren«, sagte Pater Albertus mit Nachdruck. »Sie sind höherer Autorität unterstellt, wie der Zenturio. Sie können diesen Burschen verhaften. Sie können ihn vor Gericht stellen. Aber Sie können weder seinen Verteidiger spielen, noch können Sie den Wortlaut des Gesetzes ändern, nach dem er gerichtet wird.«

»Ersparen Sie mir Ihre Dialektik, Vater!« rief Hanlon ungeduldig. »Es handelt sich um eine ganz eindeutige Angelegenheit. Ein Mord ist begangen worden. Wenn die Einwohner nicht helfen, den Mörder vor Gericht zu bringen, machen sie sich mitschuldig. Sie stellen sich damit gegen die einzige Macht, die ihnen den Weg zurück ins normale Leben ermöglichen kann. Bis dieser Mann gefunden ist, gibt es für sie keinen Frieden.«

»Und die Liebe, die Sie ihnen entgegenbringen, Mark? Worin zeigt sich die Liebe?«

»Wir müssen ohne sie auskommen«, antwortete Hanlon scharf. »Weil Liebe ohne Gegenliebe bitter ist und niemandem nützt. Wir werden regieren mit Hilfe des Gesetzes und das Land verwalten entsprechend den Vorschriften. Wahrscheinlich ist das auf die Dauer auch das Beste.«

»Sind Sie sicher, daß Sie auf die Liebe verzichten können?«

»Ja. Es geht nicht anders.«

Der alte Pfarrer erhob sich und zog seinen Mantel enger um die Schultern. Seine Augen hatten ihren Glanz verloren; es war, als ob das Feuer hinter seinen müden Zügen nur noch schwach glimmte. Er sagte ruhig: »Der Bürgermeister hat mir gesagt, was Sie wünschen. Ich habe alles vorbereitet für das Requiem und die Beerdigung. Ich habe mir überlegt, daß Sie vielleicht bei der Messe ministrieren könnten, wenn Sie wollen. Es – es wäre dann wie früher.«

Hanlons Blick wurde weicher, als er jetzt seinen früheren Lehrer ansah; ihm fiel auf, wie alt, müde und gebrechlich er war. Er zögerte einen Augenblick, bevor er mit verhältnismäßig freundlicher Stimme antwortete: »Lieber nicht, Vater. Ich habe seit langer Zeit nicht das Sakrament genommen. Außerdem ist da die politische Seite zu berücksichtigen. In Bad Quellenberg leben Katholiken und Protestanten. Der Vertreter der Besatzungsmacht kann es sich nicht leisten, sich mit einer Gruppe zu sehr zu identifizieren. Ich werde bei der Messe und der Beerdigung dabeisein. Das ist das beste, was ich tun kann.«

Der alte Pfarrer sah ihn mit einem langen Blick an. Dann richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und sagte mit seiner tiefen sicheren Stimme: »Sie haben gefragt, mein Sohn, was aus diesem Land ein Irrenhaus gemacht hat. Sie haben selber die Antwort gegeben: zuviel Politik und zuwenig Liebe.«

Dieses Mal reichte er Hanlon nicht die Hand; er verbeugte sich nur steif und wandte sich zum Gehen.

»Servus, Herr Major.«

»Auf Wiedersehen, Vater«, erwiderte Hanlon kühl.

Der zweite Sieg

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