Читать книгу Der zweite Sieg - Morris L. West - Страница 5

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Oberhalb des Talkessels, in dem Bad Quellenberg lag, führte ein Promenadenweg die Hänge entlang. An seinem höchsten Punkt hatte man vor Jahren ein Haus errichtet. Ein Morgen Tannenwald war gefällt und zu Bauholz verarbeitet worden. Die Lichtung wurde dann hinter einer Stützmauer aus Felssteinen eingeebnet und auf diesem kleinen künstlichen Plateau das Haus erbaut: dreistöckig, aus Stein und Holz, mit dem Blick auf die Stadt und den Ausgang des Tals.

Den Blicken der Vorübergehenden war es durch einen Tannenstreifen entzogen; eine Gitterpforte mit elektrischem Schloß hielt neugierige Besucher fern. Hinter den Tannen lag ein Stück Rasen, das im Frühjahr unter Blumen und blühenden Sträuchern verschwand. Die gepflasterte Terrasse am Haus bekam das ganze Jahr hindurch Sonne und war durch die Berge geschützt gegen den Wind, der über die Pässe hereinwehte.

Das Haus war, wie manches andere damals, Walhalla genannt worden; doch die Quellenberger hatten einen anderen Namen dafür: das Spinnenhaus. Auf einer Messingplatte am Torpfosten stand der Name des Besitzers: Dr. Sepp Kunzli, Rechtsanwalt und Notar.

Niemand hatte auf den ersten Blick weniger Ähnlichkeit mit einer Spinne als dieser kleine, gepflegte und wendige Advokat. Sein glattes schwarzglänzendes Haar und seine bräunliche Haut erinnerten an die Römer, die vor Jahrhunderten an der Donau ihre Garnisonen errichtet hatten. Er war fünfundvierzig, doch wirkte er jünger durch die beherrschte Anmut seiner Bewegungen.

Seine Augen jedoch verrieten ihn. Sie waren dunkel und leblos, wie Insektenaugen. Es schien, als ob sie aus einer Vielzahl von Facetten in alle Richtungen blicken könnten. Aber sie waren ohne jeden Glanz; sie ließen nichts ahnen von den Gedanken, die hinter ihnen vorgingen. Es waren die Augen einer Spinne: gierig, berechnend, mitleidslos.

Die Wahrheit über Sepp Kunzli war einfach und erschreckend: Er war schon vor langer Zeit gestorben.

Die meisten Menschen sterben langsam – unter den kleinen Schlägen, die das Leben Tag für Tag für sie bereithält. Sie erliegen voller Dankbarkeit dem letzten schlaftrunkenen Verfall des Alters und des Vergessens. Nur wenige Glückliche erleben das vollere Aufblühen ihrer geistigen Kräfte, je mehr ihre körperlichen Kräfte sie verlassen.

Sepp Kunzli war plötzlich und in höchster Verzweiflung gestorben, an einem strahlenden Frühlingstag. Der Mann, der nachher noch in seiner Gestalt umherging, war nur ein Gespenst mit hoher Intelligenz und einem Eisstück an der Stelle seines Herzens.

In den dreißiger Jahren war er ein junger Rechtsanwalt in Wien mit glänzenden Aussichten. Er war von der Universität unmittelbar in die Praxis seines Vaters eingestiegen; es war ein altes Familienunternehmen mit Verbindungen zu Bayern, Ungarn, der Schweiz und allen Provinzen Österreichs. Viele Ländereien wechselten damals rasch ihre Besitzer; vorausblickende Leute verkauften ihren Besitz und legten ihr Geld im Ausland an, und so kamen mehr und mehr Kunden in das alte barocke Anwaltsbüro nahe der Ringstraße.

Kunzli hatte eine junge Jüdin kennengelernt und sie geheiratet. Sie war die Tochter eines kleineren Bankiers und brachte eine nette Mitgift in die Ehe. Sie hatten keine Kinder, aber ihr Leben in dem letzten Frühling vor dem Anschluß war außergewöhnlich glücklich.

Eine Woche nachdem die ersten deutschen Truppen in Wien einmarschiert waren, kam Kunzli heim und fand seine Frau tot, mit dem Kopf im Gasofen und einem Zettel in der Hand:

Ich habe Dich zu sehr geliebt, als daß ich Dir jetzt eine Last werden möchte. Vergib mir.

Ein anderer Mann hätte sich vielleicht erschossen, wäre wahnsinnig geworden oder hätte sich in einen verzweifelten Feldzug des Hasses und der Rache gestürzt. Kunzli tat nichts dergleichen. Er begrub seine Frau in aller Stille, verkaufte sein Haus, suchte sich in einem anderen Stadtteil eine kleine Wohnung und ging mit einem kalten Eifer, der seine Freunde empörte und ihn seiner Familie entfremdete, seinen Geschäften nach.

Er schloß die Konten seiner alten Klienten und eröffnete neue für Parteileiter, Angehörige der neuen Verwaltung, Deutsche, die ihr Geld günstig anlegen wollten. Er kaufte und verkaufte für sie Grundstücke und Häuser. Er beriet sie bei ihren Kapitalanlagen im Inland und fand Hintertüren für ihre Geschäfte mit dem Ausland. Er wurde der Vertraute ihrer Ehegeheimnisse und der Anwalt in ihren Scheidungsprozessen. Wenn sie ihm nahelegten, der Partei beizutreten, machte er ihnen klar, daß er ihnen so besser dienen könne. Aber er machte der Partei beachtliche Schenkungen und konnte dank einer Sondergenehmigung ungehindert ins Ausland reisen.

Schließlich verließ er Wien und kam nach Bad Quellenberg – und seine Klienten kamen ebenfalls, nachdem er ihnen erklärt hatte, wie vorteilhaft es für sie sei, so nahe der Grenzen zu Italien, Jugoslawien und der Schweiz einen Vertreter ihrer Interessen zu haben, weitab von den schmutzigen Intrigen der Hauptstadt.

Er erzählte ihnen jedoch nicht, daß er damit für immer mit der ihm verhaßten Welt gebrochen hatte und jetzt daranging, diejenigen auszunutzen, die seine Frau in den Tod getrieben und in seinem Herzen den letzten Rest von Liebe ausgelöscht hatten.

Doch er fand keine Freude daran, denn er war unfähig, sich noch zu freuen. Ihm war nur die kalte Leidenschaft des Schachspielers geblieben, der die Bauern einen nach dem anderen aus dem Feld schlägt und unnachgiebig vorwärtsrückt, bis er den Gegner mattgesetzt hat – wenngleich er auch darüber am Ende keine Freude empfand.

Schloß er für seine Klienten Geschäfte in der Schweiz ab, so verlangte er für seine Vermittlung ungeheure Summen. Als Berlin in neuen Verordnungen den Geschäftsverkehr mit dem Ausland lahmlegte, errichtete er auf seinen Namen Konten für seine Klienten, worauf er dann deren Sicherheiten als Deckung für seine eigenen Transaktionen benutzte und den Einfluß höherer Parteileiter in Anspruch nahm, um seine Immunität zu sichern. Die Schüchternen unter seinen Kunden erpreßte er und horchte sie aus; die Mutigen stachelte er zu übermäßigen Ausgaben an, durch die sie tiefer und tiefer in seine Schuld gerieten. Er war jederzeit bereit, Hypotheken zu gewähren und Schuldscheine anzunehmen. Verschwenderische Ehefrauen konnten sicher sein, daß er ihnen Geld leihen würde – er ließ ihnen Zeit mit der Rückzahlung.

Parteigrößen, die nach Bad Quellenberg kamen, bewirtete er freigebig. Wurden sie dann zu ihren Dienststellen zurückberufen, so verführte er ihre Frauen, ihre Töchter und Geliebten mit kalt berechnender Leidenschaft, die ihnen zuerst den Atem verschlug und sie später in unbestimmter Furcht zurückließ.

In Bad Quellenberg besaß er Anteile an den besten Baugrundstücken und Schuldverschreibungen der größten Hotels. Die Unternehmer waren in seiner Hand, und die Mitglieder des Stadtrates befolgten seine Richtlinien.

Das Netz, an dem Kunzli knüpfte, wurde im Laufe der Zeit immer fester und engmaschiger, und seine Fäden waren an den ungewöhnlichsten Punkten verankert. Da gab es in Zürich einen Mann namens John Winters, mit dem Kunzli durch einen verschwiegenen Schweizer Bankier in Verbindung getreten war. Jedesmal, wenn er in die Schweiz fuhr, traf er im Privatkontor dieses Bankiers mit John Winters zusammen und übermittelte ihm Informationen aller Art, von Truppenbewegungen an der Tauernstrecke bis zu den neuesten Indiskretionen einer Ministersgattin. Er weigerte sich, für diese Informationen Geld anzunehmen und stellte sich dar als ein Patriot, dem die wahren Interessen seines Vaterlandes am Herzen lagen.

Auch bei sorgfältigsten Nachprüfungen in London konnte man unter seinen Informationen keine Falschmeldungen entdecken, und es gab auch keine Anhaltspunkte, daß Kunzli für beide Seiten arbeitete. So wurde er als »sicherer Agent« geführt, als ein Mann, an den man sich später zu erinnern hatte.

Dieses war das gefährlichste seiner Spiele und zugleich das einzige, das ihm einen endgültigen Triumph sichern konnte. Denn welchen Sinn hatte es schon, einen Feind zugrunde zu richten, wenn man selber in seinen Sturz verwickelt wurde? Jetzt endlich schien sich der Einsatz bezahlt zu machen. Die Alliierten hatten den Krieg gewonnen. Die Männer, die seine Frau getötet hatten, fanden einer nach dem anderen ihre verdiente Strafe. Ihre Furcht und ihre Gier hatten ihm ein Vermögen eingebracht. Jetzt endlich zappelten die Fliegen im Netz, und die Spinne konnte ihnen in Ruhe das Blut aussaugen.

Kunzli saß an diesem Winternachmittag, als die ersten Schneeflocken sich auf den Hängen und den Schwarztannen niederließen, in seinem Arbeitszimmer und überlegte, wie er am günstigsten den Kontakt zur Besatzungsmacht aufnehmen könne.

Er lächelte kühl, als er daran dachte, daß man Holzinger wie einen Laufboten herzitiert, Fischer an die Arbeit getrieben und offenbar selbst die Kirche zur Ordnung gerufen hatte.

Mayer hatte ihn vom Hotel Sonnblick per Telefon ausführlich über das Kommen und Gehen der Besucher unterrichtet. Ein nützlicher Mann, dieser Mayer, und für solche Lageberichte genau am richtigen Platz. Kunzli hatte ihn seit Jahren aus eigener Tasche bezahlt, und Mayer hatte seinen Lohn zehnfach abgeleistet, mit Schlafzimmergeheimnissen und Indiskretionen aus dem Konferenzsaal.

Der neue Kommandant schien ihm eine etwas rätselhafte Figur. Er sprach fließend deutsch. Er handelte wie ein Mann, der wußte, was er wollte. Man mußte ihm mit Zurückhaltung entgegentreten. Zusammenarbeit unter gleichen Bedingungen – das konnte man ja wohl fordern. Die Gelegenheit dürfte nicht lange auf sich warten lassen –

Der Mord war bereits zum Stadtgespräch geworden. Holzinger und Fischer saßen einigermaßen in der Klemme. Fingen sie den Burschen, dann würden sie vermutlich einen großen Teil der Einwohnerschaft gegen sich haben. Fingen sie ihn nicht, würden sie Schwierigkeiten mit den neuen Herren bekommen. Es wäre interessant, zu wissen, ob die Engländer ihn auf jeden Fall gefangen haben wollten oder ob es ihnen lieber war, die Angelegenheit nach einer gewissen Zeit zu vergessen. Sie waren ein Volk, das den größten Respekt für die Gesetze mit einer einzigartigen Fähigkeit verband, sie zu seinen Gunsten auszulegen.

Er fragte sich, ob man den Namen des Mörders bereits kannte und ob er aus den Bergen war oder aus der Stadt. Das war von entscheidender Bedeutung. Gehörte er nämlich zu einer ihrer alten Familien, so würden ihn die Bauern für Jahre versteckt halten und alle Nachforschungen stur und halsstarrig über sich ergehen lassen. Gehörte er dagegen in die Stadt, vielleicht zu einer der Familien, die aus Salzburg, Wien oder Graz zugezogen waren, so würde man ihn wahrscheinlich ausliefern, schon, um sich Schwierigkeiten zu ersparen.

Eins war sicher: Was auch geschehen mochte, Sepp Kunzli würde in jedem Fall seinen Nutzen daraus ziehen. Auf beiden Seiten würde ein Vermittler gebraucht werden, und jede Seite würde für seine Dienste in ihrer eigenen Münze zahlen.

Er war noch dabei, diesen befriedigenden Gedanken auszuloten, als seine Nichte ins Zimmer trat.

Sie trug die übliche Bergkleidung: Schihosen, Bergstiefel und einen Wintermantel mit Pelzkragen. Ihr blondes Haar war aufgesteckt, der grüne Tirolerhut saß ihr leicht schräg auf dem Kopf, und ihr Gesicht strahlte wie das einer Porzellanpuppe.

Mit raschen Schritten ging sie auf ihren Onkel zu und küßte ihn leicht auf die Stirn. Er erwiderte ihre Geste nicht und fragte nur gleichmütig: »Du gehst aus?«

»Ja, ich gehe ins Krankenhaus. Wir haben eine Therapiestunde mit den Amputierten.«

»Wie geht es ihnen denn?«

Die Antwort interessierte ihn wenig; er hatte die Frage mit jener kühlen und unpersönlichen Höflichkeit gestellt, die ihm notwendig schien, um die angenehme Beziehung zu seiner Nichte aufrechtzuerhalten.

»Einige machen gute Fortschritte. Der kleine Dietrich wird heute zum erstenmal an Stöcken gehen. Und Heinz Reitlinger kann mit seiner künstlichen Hand schon Zigaretten anzünden. Ich bin stolz auf sie.«

»Das freut mich.«

»Ich – ich wollte dich noch etwas fragen, Onkel.«

»Ja, bitte?«

»Würdest du erlauben, daß ich ein paar von ihnen ins Haus einlade, an einem der nächsten Abende? Sie würden mit dem Krankenwagen gebracht, und ...«

»Es tut mir leid, Anna. Ich habe eine Menge Geld dafür gegeben, daß sie in der Stadt genügend Unterhaltung haben; ich sehe wirklich keinen Grund, ihnen auch noch mein Haus zur Verfügung zu stellen.«

»Wie du meinst, Onkel.« Wenn sie enttäuscht war, ließ sie es sich nicht anmerken. Ihre Stimme war ebenso ruhig wie seine, aber dabei warm und freundlich. »Übrigens werde ich heute nicht zum Kaffee zurück sein.«

»Warum denn nicht?«

»Pater Albertus hat angerufen. Heute abend ist Chorprobe. Der englische Soldat wird morgen begraben – und wir singen das Requiem.«

Zum erstenmal leuchtete in Kunzlis dunklen, leblosen Augen so etwas wie Interesse auf. »Für unsere eigenen Jungen werden keine Requiems gesungen«, bemerkte er mit leichter Ironie. »Ich möchte wissen, warum.«

»Wahrscheinlich, weil es zu viele sind.«

Er blickte forschend auf, doch in ihrem Gesicht fand er nichts als die freimütige und verwirrende Unschuld, die sie in sein Haus mitgebracht hatte und gegen die seine Ironie machtlos war. Anfangs hatte er sich darüber geärgert; er hatte sie für eine Art wohlberechneter Dreistigkeit gehalten, wie Kinder sie im Umgang mit Leuten entwickeln, die sie nicht leiden können. Er hatte versucht, sie ihr durch bissige Bemerkungen auszutreiben, bis sie, ein schlaksiges, unbeholfenes Schulmädchen, ihn mit leiser Stimme bat: »Du mußt nicht so hart mit mir sein, Onkel. Du tust dir nur selber weh und machst mich unglücklich, und am Ende können wir nicht mehr zusammen leben.«

An diesem Tag hatte er seine Waffen gestreckt – vor einer Unschuld, an die er nicht glaubte. Und jetzt tat er dasselbe, wenn er die Schultern zuckte und sagte: »Gut, aber komm nicht zu spät zum Abendessen.«

»Ich komme rechtzeitig heim. Auf Wiedersehen, Onkel.«

»Wiedersehen, Anna.«

Sie strich ihm leicht über das Haar und ging. Sepp Kunzli fragte sich zum hundertstenmal, in welcher Gemütsverfassung er diesem Mädchen den Zutritt in sein Leben gewährt hatte.

Sie war die Tochter seines Bruders, doch hatte er, seit er Wien verlassen hatte, nichts mehr von ihr gehört, bis sie eines Tages auf seiner Türschwelle stand, ängstlich und mit rotgeweinten Augen, in Begleitung einer derben burgenländischen Bauersfrau.

Die Burgenländerin hatte keine gute Meinung von Sepp Kunzli und war gekommen, um ihrem Schützling zu seinem Recht zu verhelfen. Sie sagte Kunzli in ihrem harten Dialekt, daß Annas Vater tot war – abgeschossen über England –, und daß sich ihre Mutter in einem Wiener Sanatorium die Lunge aus dem Halse huste und in wenigen Wochen ebenfalls tot sein werde. Die Großeltern waren gestorben, und Sepp war der einzige ihrer Verwandten, der noch am Leben war. Würde er jetzt seine Pflicht erfüllen oder nicht? Bei allen Heiligen – wie konnte er in diesem Palast wohnen, während seine arme Nichte mutterseelenallein auf der Welt stand! Ihr könne es ja gleich sein; sie würde das Kind gern zu sich nehmen und es in ihrer Heimat großziehen. Am Ende wäre es wahrscheinlich überhaupt besser für das Kind, wenn es in einer braven und gottesfürchtigen Familie aufwüchse. Aber Anna hätte ja wohl Ansprüche – und wenn der feine Herr sich nicht um sie kümmern wolle, solle er sich schämen.

Nachdem die Bäuerin zehn Minuten auf ihn eingesprochen hatte, gab sich Sepp Kunzli geschlagen. Er nahm das Mädchen, das damals fünfzehn Jahre alt war, in sein Haus, überließ es seiner Haushälterin, für sie zu sorgen, und versuchte, sie zu ignorieren. Der Haushälterin und Anna selbst schien es Freude zu machen, ihm dabei zu helfen. Als die Mutter Annas starb, tröstete die Haushälterin sie in ihrem Kummer, während Kunzli in die Schweiz fuhr und so wenig wie möglich an seine Nichte dachte, die zu Hause saß und weinte.

Die Haushälterin kaufte ihr Kleider, ermunterte sie, sich mit anderen Mädchen anzufreunden und brachte sie mit der Unterstützung von Pater Albertus in den Kirchenchor und zum Hilfsdienst ins Krankenhaus.

Eines Tages wurde es Kunzli zu seiner Überraschung klar, daß eine Frau in seinem Hause lebte – eine junge und hübsche Frau, die ihm eine seltsame, nachsichtige Zuneigung entgegenbrachte und dabei doch ein kritisches Auge hatte für seine Sonderheiten. Er konnte sie nicht länger übersehen, und er wollte auch gar nicht mehr ohne sie auskommen. Sie gehörte zu seinem Leben wie ein Stück seines Mobiliars – und ihre Anwesenheit wirkte ebenso beruhigend auf ihn.

Als sie ihn mit einfachen Worten bat, er möge ihr ein kleines Taschengeld geben, damit sie ihn nicht jedesmal um Geld für Kleidung oder Toilettenartikel bitten müsse, war er ohne weiteres einverstanden und gab ihr die doppelte Summe. Er war sogar bereit, ihren gesunden Menschenverstand anzuerkennen. Sie bedachte ihn mit kleinen Geschenken zum Geburtstag und zu den Festtagen, und er sah sich genötigt, diese Höflichkeiten zu erwidern. Er hatte ihr nicht ein einziges Mal über das Haar gestrichen oder einen Gute-Nacht-Kuß gegeben, aber sie nahm ihm seine Lieblosigkeit nicht übel. Sein beißender Humor konnte ihr nichts anhaben. Und wenn sie auch seine Liebesaffären mißbilligte, sagte sie doch nichts und blieb gleichgültig gegenüber der affektierten Galanterie seiner männlichen Besucher. In dieser dem Wahnsinn verfallenen Welt schien sie den frühlingshaften Geist des Gartens Eden zu bewahren. Doch für Sepp Kunzli war das Paradies schon seit so langer Zeit verloren, daß ihm das kaum noch bewußt war.

Das Mädchen war da. Wahrscheinlich würde sie bleiben, bis ein Mann käme und sie heiratete – je eher das geschah, desto besser. Bis dahin war ihre Gegenwart auch immer eine Mahnung daran, daß junge Mädchen erwachsen und reiche Männer alt würden – und daß Rache und Geld nur einen sehr schmutzigen und flüchtigen Triumph gewährten.

Das Schrillen des Telefons auf seinem Schreibtisch machte seinen Träumereien ein Ende. Er nahm den Hörer ab.

»Doktor Kunzli?« fragte eine ihm unbekannte Stimme mit Wiener Akzent.

»Ja. Hier ist Kunzli.«

»Hier spricht Mark Hanlon, Kommandant der Besatzungsmacht.« Kunzli wurde sofort freundlich: »Major Hanlon! Wie nett, daß Sie anrufen! Ich wollte warten, bis Sie sich im Hotel ganz eingerichtet hätten, ehe ich Ihnen meine Aufwartung machte. Ich wußte, Sie würden allerlei zu tun haben, und ...«

»Ich habe von Klagenfurt über Sie Bescheid erhalten«, unterbrach Hanlon kurz. »Ich würde Sie gern möglichst bald sprechen.«

»Selbstverständlich, Herr Major. Hätten Sie vielleicht Lust, heute bei mir zu Abend zu essen? Ich könnte einen Wagen schicken –«

»Ich bedaure, aber das ist leider nicht möglich. Könnten Sie wohl gegen fünf Uhr heute nachmittag in mein Büro kommen?«

»Hm – Sie sagen es mir ein wenig spät, aber ...«

»Danke schön, Doktor Kunzli. Ich erwarte Sie. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Herr Major«, sagte Kunzli, doch Hanlon hatte bereits aufgelegt. Kunzli legte langsam den Hörer auf die Gabel und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er stützte das Kinn in die Hand und sah hinaus in den lautlos fallenden Schnee und den grauen Nebel, der sich im Tal sammelte.

Je mehr sich der erste Tag seiner Amtsausübung dem Ende näherte, desto trüber wurde Hanlons Stimmung. Pater Albertus’ Besuch hatte Erinnerungen aufgerührt, die er lieber verdrängt hätte, und Fragen angeschnitten, die sein Privatleben ebenso betrafen wie seine Stellung als Kommandant und die seine ohnehin schon schwierige Aufgabe nur weiter komplizieren konnten. Die Vertreter der Behörden im Ort ließen bereits jetzt eine Art passiven Widerstandes erkennen; und Captain Johnson erwies sich als ein liebenswürdiger Zyniker, der zwar auf militärischem Gebiet recht tüchtig sein mochte, im übrigen aber zu jung war, um ihn mit moralischer Unterstützung oder brauchbarem Rat zur Seite zu stehen.

Schneller als er sich hätte träumen lassen, kam Mark Hanlon zu dem Schluß, daß solche gefühlsbedingten Reisen in die Vergangenheit stets ein Fehler seien und daß alte Liebe ruhig in der Truhe der Erinnerung welken solle. Liebe beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie verlangte Gleichheit, das Eingeständnis beider Partner, daß sie einander brauchten. Daran hatte es schon in seinem Privatleben gefehlt, und jetzt mußte er die gleiche Erfahrung im Beruf machen. Einseitige Liebe ging bald zugrunde. Wenn er ruhig im Bett liegen wollte, mußte er allein schlafen, mit bewachter Tür, den Dienstrevolver stets griffbereit. Und wenn Leute kamen, die in der Sprache der Liebe redeten und mehr boten als die kalte Münze, die sie dem Eroberer schuldeten, so mußte er ihnen mißtrauen. Wenn er sich mit ihnen einließ, dann nach den Regeln des Freudenhauses: Geld für erhaltene Dienste. Und wehe dem, der sich dabei nicht vorsah!

So erklärte sich der wenig freundliche Empfang, der Karl Adalbert Fischer zuteil wurde, als er zum erstenmal Bericht erstattete. Er mußte wie ein Schuljunge vor Hanlons Schreibtisch stehen und wurde mit kalter Gründlichkeit ausgefragt.

»Der Wagen ist kaputt, sagen Sie?«

»Jawohl, Herr Major. Die Straßen sind vereist, wie Sie wissen. Die Reifen waren abgefahren, und die Steuerung war schon lange defekt. Ein Reifen ist geplatzt, und der Wagen wurde die Böschung hinuntergeschleudert. Es ist ein Glück, daß keiner meiner Leute zu Schaden gekommen ist.«

»Merkwürdig, daß das nur fünf Kilometer außerhalb der Stadt geschehen ist.«

Fischer zuckte die Schultern. »Wie soll man wissen, an welcher Stelle sich ein Unfall ereignen wird? Meine Leute haben sich vorbildlich verhalten. Einer kam zurück, um mich von dem Unfall in Kenntnis zu setzen, die beiden anderen gingen zu Fuß weiter zum Tatort des Verbrechens. Doch als sie ihn erreichten, schneite es schon stark. Alle Spuren waren verdeckt. Nachforschungen im nächsten Bauernhaus haben auch keine Anhaltspunkte ergeben.«

»Sehr günstig.«

»Herr Major, wenn Sie damit sagen wollen ...« Fischer errötete und warf entrüstet seinen Kopf zurück.

»Sparen Sie sich Ihre Entrüstung«, unterbrach ihn Hanlon trocken. »Wie stellen Sie sich Ihre Arbeit ohne Wagen vor?«

»Ohne Wagen können wir nichts ausrichten.«

»Dann nehmen Sie Ihren Privatwagen. Legen Sie das Geld für Benzin und Unterhalt aus – ich werde Ihnen einen meiner Leute als Fahrer mitgeben. Er spricht deutsch und kann Ihnen bei Ihren Nachforschungen helfen.«

Fischer schluckte. »Wir – wir sind dankbar für jede Hilfe, die Sie uns zukommen lassen.«

»Daran zweifle ich nicht. Sie werden jeden Tag mehrere Gruppen von Schiläufern aussenden, die die entlegeneren Bauernhäuser durchsuchen. Unter meinen Leuten sind vier gute Schiläufer; ich werde einen zu jeder Ihrer Gruppen beordern.«

»Meine Gruppen!« Fischer riß überrascht die Augen auf. »Herr Major, wissen Sie, wie viele Leute ich habe? Sechs! Und außerdem bin ich noch für die Ordnung in der Stadt verantwortlich – und Sie erwarten, daß ich Schigruppen ausschicke, um die Berge und Täler abzusuchen!«

»Es gibt hier vier Bergführer und mindestens zehn Forstarbeiter, die im Winter ohne Arbeit sind. Aus denen können Sie doch Schigruppen zusammenstellen. Die Gruppen werden jeden Morgen hierherkommen und von mir ihre Befehle empfangen. Ich möchte auf jeden Fall verhindern, daß man in den Gebieten, die durchsucht werden sollen, schon vorher Bescheid weiß.«

»Herr Major, ich bin nicht hierhergekommen, um mich beleidigen zu lassen! Ich muß Sie bitten ...«

Hanlon fuhr mit der gleichen gelassenen Ironie fort: »Sie haben in Ihren Stadtarchiven sicher ein Verzeichnis der Angehörigen des Quellenberger Regiments. Desgleichen haben Sie ein Verzeichnis der Toten, der Vermißten und der in die Heimat Entlassenen. Nehmen wir die Toten aus – und das ist die Mehrzahl –, so haben wir schon die erste Liste der Familien, die Näheres über den Soldaten mit der Narbe wissen könnten. Haben Sie mich verstanden, Fischer?«

»Nein«, sagte der kleine Polizeichef ärgerlich. »Ich kann mit einem Mann, der an mir zweifelt, nicht zusammen arbeiten.«

Hanlon lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte ihn mit überlegener Genugtuung. »Sie irren sich, mein Lieber. Ich zweifle keineswegs – ich bin sicher, daß Sie diese Nachforschungen auf jede Ihnen mögliche Weise verzögern! Ich kann es Ihnen nicht einmal übelnehmen; vielleicht würde ich an Ihrer Stelle ebenso handeln. Ich hoffe allerdings, Sie überzeugen zu können, daß Sie einen Fehler machen.«

Er beugte sich wieder vor und schlug eine Mappe auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Mit gespielter Freundlichkeit fuhr er fort: »Ich kann Sie jederzeit entlassen, Fischer – auf Grund Ihrer früheren Parteizugehörigkeit und Ihrer jetzigen Unfähigkeit oder, sagen wir: mangelnden Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Ich könnte den Fall sogar hochspielen und Sie festnehmen lassen, um Sie vor eine Kommission des Militärgerichts zu bringen. Sie würden kein Gehalt mehr bekommen und Ihre Pensionsansprüche verlieren. Ihr Name würde auf einer schwarzen Liste erscheinen, die auch den Behörden der anderen Besatzungszonen zugeleitet wird; es dürfte Ihnen dann schwerfallen, jemals wieder Arbeit zu finden – und sei es als Straßenkehrer.«

»Weshalb wollen Sie mich dann behalten?«

»Ich bin ein Mann der Tatsachen«, erklärte Hanlon mit verbindlichem Lächeln. »Meiner Meinung nach verläuft das Leben in einer Stadt reibungsloser, wenn man die bestehende Verwaltung beibehält. Über Bad Quellenberg habe ich nichts Belastendes in den Akten. Wenn es dabei bliebe, hätten alle ihren Nutzen davon. Es beständen bessere Aussichten, ausreichend Nahrungsmittel, Brennstoff und Penicillin für das Krankenhaus zu bekommen. Ich könnte der Kommandantur in Klagenfurt mit gutem Grund vorschlagen, den Ort zu einem Erholungszentrum für Besatzungssoldaten zu machen. Das würde bedeuten: vermehrte Einkünfte für die Stadt und einen neuen Anfang für den Fremdenverkehr. Wir könnten ein Musterstück daraus machen, Fischer, ein Beispiel für ganz Österreich – wenn Sie mit uns zusammenarbeiten.«

»Das heißt, wenn ich einen österreichischen Soldaten an den Galgen liefere.«

»Wenn Sie es so sehen wollen ...«

»Wie sollte ich es sonst sehen, Herr Major?«

»Jedes Ding hat zwei Seiten«, sagte Hanlon einlenkend. »Sie können es auch die Anerkennung eines allgemein gültigen Gesetzes nennen: Mord ist ein Verbrechen und muß zum Schutze der Gemeinschaft bestraft werden. Diesen Grundsatz können Sie nicht ändern, nur weil das Opfer zufällig eine britische Uniform trug. Wenn Ihnen diese Überlegung nicht behagt, versuchen Sie es doch mit der Bibel: ›Es ist uns besser, ein Mensch sterbe für das Volk, denn daß das ganze Volk verderbe.‹«

»Zu viele sind schon für das Volk gestorben«, entgegnete Fischer mit überraschender Bitterkeit. »Das Volk! Das Vaterland! Großdeutschland! Millionen sind dafür gestorben – und Sie fordern ein weiteres Opfer!«

»Ich fordere keine Opfer«, sagte Hanlon ruhig. »Ich versuche lediglich, Ihnen klarzumachen, daß Sie nicht in zwei Welten zugleich leben können. Wenn Sie in einem Rechtsstaat leben wollen, müssen Sie die Gesetze anerkennen. Wollen Sie im Dschungel leben, so steht Ihnen auch das frei, aber es kostet seinen Preis. Sie brauchen sich nur zu entscheiden.«

»Haben Sie je einen Menschen getötet, Herr Major?«

Die Frage traf Hanlon unerwartet. Er starrte den kleinen Polizeichef an, der steif und unbeweglich und in seltsamer neuer Würde vor ihm stand. Er antwortete zögernd:

»Ja. In fünf Kriegsjahren habe ich wohl einige getötet.«

»Und warum reden Sie jetzt wie der liebe Gott beim Jüngsten Gericht?«

Hanlon schlug mit der Faust so heftig auf die Tischplatte, daß das Schreibzeug klirrte und ein paar lose Blätter zu Boden fielen. »Weil es meine Pflicht ist! Weil einer den lieben Gott spielen muß, um Ordnung in dieses verdammte Durcheinander zu bringen!«

»Wenn Sie uns die Möglichkeiten dazu geben, tun wir es gern selber.«

Ein schwaches Lächeln überzog das Gesicht des Polizeichefs. Der Major war jedenfalls auch nur ein Mensch. Er steckte voller Bitterkeit, und wie alle verbitterten Menschen konnte er leicht eine Unvorsichtigkeit begehen. Deshalb war Fischer überrascht, als Hanlon sein Lächeln erwiderte und ihm sein Argument zurückspielte:

»Sicher könnten Sie selber Ordnung schaffen, Fischer – aber ich will nicht meinen Kopf für Ihre Fehler hinhalten. Sie arbeiten also entweder mit mir zusammen oder ich lasse Sie heute abend unter Bewachung nach Klagenfurt bringen. Was ist Ihnen lieber?«

»Ich werde mit Ihnen zusammen arbeiten«, sagte Karl Adalbert Fischer. So wie er dastand, mit gebeugtem Kopf und hängenden Schultern, die Augen auf den Boden gesenkt, bot er das Bild eines Mannes, der eben den letzten Rest seiner Ehre weggeworfen hatte. In Wirklichkeit war er tief zufrieden. Der Engländer hatte Angst; die Angelegenheit wuchs ihm über den Kopf. Er würde zu einem Kompromiß bereit sein, wenn er es auch nicht zugeben wollte. Doch mit dem nächsten Satz zerstörte Hanlon auch diese Illusion.

»Schön. Sagen Sie – wie heißt der Mann? Wo hält er sich auf?«

Fischer richtete seinen komischen Kopf in die Höhe und starrte Hanlon mit offenem Mund an. »Ich verstehe Sie nicht.«

»Ich glaube doch. Sie würden doch nicht Ihren Posten aufs Spiel setzen für jemanden, den Sie gar nicht kennen. Sagen Sie es schon! Wie heißt er?«

»Sie irren sich, Herr Major«, erwiderte Fischer steif und würdevoll. »Ich kenne den Mann nicht. Sonst hätten Sie ihn jetzt schon.«

»Gut. Ich nehme Sie beim Wort. Wenn ich herausfinde, daß Sie die Unwahrheit gesagt haben, lasse ich Sie als Mitschuldigen verhaften. Und jetzt an die Arbeit!«

Er ließ Fischer eine gute halbe Stunde lang alle Einzelheiten wiederholen, die bei der Suche nach dem Mann in den Bergen von Bedeutung waren. Am Ende dieses Verhörs schwitzte Fischer aus allen Poren und fragte sich, wessen Kopf in größerer Gefahr sei, der seines Neffen oder sein eigener.

Dann entließ ihn Hanlon und rief im Spinnenhaus an, um Sepp Kunzli zu sich zu bestellen.

Dieser kam, wie ein Mann, der es sich leisten konnte, in seinem eigenen, von einem Chauffeur in Dienstkleidung gefahrenen Wagen. Der Chauffeur stieg aus und verhandelte mit der Wache, so daß der Herr Doktor, als er ausstieg, nicht wie die anderen in der Kälte zu warten brauchte, sondern in aller Förmlichkeit ins Hotel geführt und sofort ins obere Stockwerk geleitet wurde.

Die umherstehenden Soldaten betrachteten neugierig diesen schmächtigen Mann, der mit schwarzem Hut, Mantel mit hohem Pelzkragen, Schweinslederhandschuhen und elegantem Spazierstock daherkam. Mayer und die Angestellten grüßten ihn mit tiefer Verbeugung, Kunzli nur mit einer Kopfbewegung.

Johnson und der Sergeant waren nicht wenig überrascht, als Hanlon sich zu seiner Begrüßung erhob, ihn bat, in einem Sessel Platz zu nehmen, und ihm Zigaretten anbot.

Kunzli nahm diese Höflichkeit mit gefälligem Anstand und großer innerer Genugtuung an. Allem Anschein nach waren seine Befürchtungen grundlos gewesen. Hanlons Ungeduld am Telefon erklärte sich leicht aus der Tatsache, daß er eben ein vielbeschäftigter Mann war. Er besaß Charme und Intelligenz, und es konnte nicht schwerfallen, mit ihm in gutes Einvernehmen zu kommen.

Die Begegnung nahm einen vielversprechenden Anfang. Hanlon schlug eine Aktenmappe auf und entnahm ihr einen Brief, den er vor sich auf dem Schreibtisch ausbreitete. »Ich habe einen Brief aus Klagenfurt bekommen. Er kam aus Zürich über London.«

»Es würde mich interessieren, den Inhalt zu hören.«

»Der Brief ist ziemlich kurz. Es heißt hier: Doktor Sepp Kunzli aus Bad Quellenberg ist uns seit neunzehnhundertdreiundvierzig als zuverlässiger Mitarbeiter bekannt. Wir empfehlen, ihm die in diesem Fall üblichen Vergünstigungen zu gewähren, und wir nehmen an, daß seine Dienste auch für den Ortskommandanten von Bedeutung sein könnten. Unterschrift: John Winters, Oberstleutnant, Britischer Militärattaché, Genf, Schweiz.«

»Ich bin betroffen und dankbar; die Engländer halten ihr Wort.«

»Wir erinnern uns gern an unsere Freunde«, bemerkte Hanlon leichthin. »Wir sind in dieser Zeit auf Unterstützung angewiesen. Ich wüßte gern, ob Sie Interesse haben, mit uns zusammen zu arbeiten.«

»Natürlich, Herr Major. Ich werde tun, was in meinen Kräften steht. Die Zeiten sind schwierig – für uns alle.«

Sein Mund lächelte, doch der Blick seiner schiefergrauen Augen war nichtssagend. Seine Hände lagen ausdruckslos auf den Armlehnen des Sessels.

»Gut. Sagen Sie mir, Herr Doktor, wie beurteilen Sie die Stärke und politische Bedeutung der nationalsozialistischen Partei in Bad Quellenberg?«

»Die Partei hatte viele Mitglieder, aber nicht die geringste Bedeutung.« Kunzli antwortete rasch und sicher. »Es kamen führende Persönlichkeiten hierher, wichtige Probleme wurden hier besprochen, aber die Ortsgruppe der Partei bestand aus unbedeutenden Leuten: Polizisten, Lehrer – Leute, deren Beförderung von ihrer Mitgliedschaft abhing. Der Rest ...« Kunzli zuckte die Schultern. »Sie wissen, wie diese Gebirgsleute sind: Hinterwäldler und Eigenbrötler, voller Mißtrauen gegen die Behörden und die Fremden. Die Partei hat ihr Leben kaum berührt.«

Hanlon nickte. Die Antwort war durchdacht und treffend. Sie stimmte überein mit den Unterlagen, die ihm zur Verfügung standen, und mit seinen eigenen früheren Erfahrungen.

»Gab es Verfolgungen von Juden oder Gegnern des Regimes?«

Kunzli schüttelte den Kopf. »Keine, die in den Bereich Ihrer Nachforschungen fielen, Herr Major. Es gab keine Gewaltverbrechen. Dieses Gebiet ist überwiegend katholisch, und die Partei ging mehr als vorsichtig zu Werk. Ganz zu Anfang wurden heimlich die Juden fortgebracht. Aber hier in diesem Tal waren Gewalt und Terror nur eine Legende.«

»Für einen Mann mit so tragischer Vergangenheit urteilen Sie sehr objektiv, Herr Doktor.«

Kunzli zuckte wieder die Schultern; sein Gesicht nahm einen kläglichen Ausdruck an. »Neue Lügen bringen die Toten nicht zurück. Neue Verfolgungen löschen das Andenken an die vergangenen nicht aus. Diese Leute hier – was sind sie schon? Provinzler, die nicht über ihr Tal hinaussehen und in ihren eigenen kleinen Sorgen aufgehen. Wir können es uns leisten, ihnen gegenüber großzügig zu sein, Herr Major.«

Er hatte das »wir« sorgsam bedacht und im rechten Augenblick eingeflochten. Er deutete damit eine Gleichheit der Interessen an, ohne doch so weit zu gehen, sie deutlich auszusprechen. Die Engländer besaßen eine Vorliebe und Begabung für solche Feinheiten. Doch Hanlon lächelte abwesend und ging zum nächsten Punkt über.

»Sie waren selbstverständlich niemals Mitglied der Partei.«

»Niemals.«

»Aber Sie haben immerhin beachtliche Geschäfte mit Parteimitgliedern abgeschlossen, und zwar durchaus zu deren Vorteil.«

Kunzli verspürte ein schwaches unangenehmes Gefühl der Furcht, wie leichte Messerstiche in der Herzgegend, doch seine Augen blieben kühl und ruhig, als er mit unbewegter Miene antwortete: »Ich bin Geschäftsmann, Herr Major. Hätte ich in meinem Beruf nach politischen oder religiösen Überzeugungen gefragt, dann wäre ich schon vor Jahren verhungert – jeder andere Geschäftsmann übrigens auch.«

»Darauf wollte ich gar nicht hinaus«, murmelte Hanlon. »Dem Brief aus der Schweiz war ein Hinweis beigefügt über den Umfang Ihrer geschäftlichen Unternehmungen, besonders über den Handel mit Grundstücken und Papieren im Auftrag führender. Parteimitglieder.«

»Das ist das tägliche Brot jedes Notars.«

»Anscheinend war das Ihre aber dick mit Butter bestrichen.«

»Zugegeben, diese Geschäfte haben einen ansehnlichen Verdienst abgeworfen. Ich hätte noch mehr dabei herausgeschlagen, wenn ich gekonnt hätte. Es gehörte zu meiner Rache an diesen Leuten für das, was sie mir angetan haben.«

»Wir freuen uns an dem Erfolg unserer Freunde.« Hanlon lächelte entwaffnend. »Es ergibt sich jedoch die Frage, wie viele dieser Besitztümer ursprünglich enteignet worden waren – späteren Häftlingen von Konzentrationslagern beispielsweise – und wie viele davon noch aufzufinden sind, um ihnen oder ihren Erben den enteigneten Besitz zurückzuerstatten.«

Das also war es. Die Messerspitzen stachen jetzt schärfer. Hinter den Spinnenaugen arbeitete ein besorgtes Gehirn wie eine Rechenmaschine, wog mögliche Vorteile, Risiken und Gewinne gegeneinander ab. Kunzli zögerte einen Augenblick, dann antwortete er mit betonter Aufrichtigkeit:

»Soweit ich es jetzt übersehen kann, ist eine große Anzahl enteigneter Ländereien durch meine Hände gegangen, und zwar zu den verschiedensten Zeitpunkten. Wie viele, wüßte ich im Augenblick nicht zu sagen. Viele bekam ich aus dritter oder vierter Hand. Um eine genaue Aufstellung zu machen, müßte man monatelange und vielleicht sogar jahrelange Untersuchungen anstellen.«

»Aber Sie wären bereit, uns bei diesen Untersuchungen zu helfen?«

»Selbstverständlich.«

»Würden Sie uns Ihre eigenen Unterlagen zur Verfügung stellen?«

»Natürlich.«

»Die Dokumente, die bei Schweizer Banken deponiert sind, inbegriffen?«

»Gewiß. Ich müßte allerdings selber hinfahren und sie aus den einzelnen Safes abholen. Sie sind nämlich auf verschiedene Namen ausgestellt, und alles per Post zu regeln wäre doch ein etwas zu kompliziertes Verfahren.«

»Ich werde Ihnen die Ausreise- und Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz ausstellen«, sagte Hanlon erleichtert. »Und während Sie weg sind, können unsere Leute wohl schon mit der Durchsicht Ihrer Akten beginnen, nicht wahr?«

»Ich glaube kaum, daß sie sich darin zurechtfinden werden.« Kunzlis Stimme klang etwas verstimmt. »Sie müssen bedenken, daß ich mich in ein gefährliches Unternehmen eingelassen hatte, und wie bei Ihrem berühmten Chronisten Pepys sind auch viele meiner Papiere in einem Geheimcode geschrieben, den nur ich lesen kann.«

»In diesem Fall muß ich Ihre Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz auf sieben Tage beschränken. Sie werden gewiß so bald wie möglich zurückkommen wollen.«

»Selbstverständlich.«

»Wann wollen Sie fahren?«

»Das hängt von Ihnen ab«, antwortete Kunzli sauer. »Ich brauche natürlich eine genaue Aufstellung Ihrer Wünsche, die ich zunächst mit meinen Akten vergleichen werde, um festzustellen, was ich an zusätzlichen Unterlagen aus der Schweiz benötige.«

»Ich werde Ihnen meine Anweisungen morgen zugehen lassen. Sagen wir, Sie fahren morgen in acht Tagen?«

Er überflog die Seiten seines Terminkalenders und wartete mit dem Bleistift in der Hand auf die Zusage.

»Acht Tage werden genügen.«

»Gut.« Hanlon schrieb eine kurze Notiz in seinen Kalender. »Ihre Papiere werden einen Tag vor Ihrer Abfahrt fertig sein. Ich werde sie Ihnen zuschicken.«

»Wie Sie wünschen, Herr Major.«

»Dann will ich Sie nicht länger aufhalten, Herr Doktor. Ich danke Ihnen vielmals, daß Sie gekommen sind. Auf Wiedersehen.« Er erhob sich und reichte ihm die Hand.

Kunzli ging mit erhobenem Kopf und unbewegtem Gesicht. Doch hinter den metallischen Augen gewann ein bitterer Gedanke Gestalt. Zum erstenmal seit vielen Jahren hatte er die Marktlage falsch eingeschätzt. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, wann alle Werte ins Bodenlose fielen. Es war höchste Zeit, zu verkaufen, schnell zu verkaufen.

Der zweite Sieg

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