Читать книгу Der rote Wolf - Morris L. West - Страница 4
Erstes Kapitel
Оглавление»Jetzt werden wir erst mal eine Flagge hissen«, sagte Ruarri Matheson, »nur um zu zeigen, wer wir sind. Dann werden wir die Segel setzen und hier herausfahren.«
Er stand am Steuerrad, warf einen Blick auf meine Arbeit, als ich das Beiboot an Bord zog und es am Lukendeckel befestigte. Es war eine seltsame Flagge, das fletschende Maul eines Wolfs, rot auf weißem Grund. Ich fragte, was das bedeute. Er lachte.
»Man könnte es meine Hausflagge nennen. Es ist der Name des Schiffs, wissen Sie. Mactire ist ein altes gälisches Wort für Wolf. Und auf der Insel nennt man mich so: Red Ruarri, der rote Wolf. Ich bin nicht sicher, ob das ein Kompliment ist, aber sie haben mir nun einmal den Namen gegeben.«
»Ich dachte, Sie seien selber ein Insulaner.«
»Das bin ich auch, obwohl ich zehn Jahre weg war und erst seit drei Jahren wieder hier bin.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Dies und das.«
»Und was machen Sie jetzt?«
»Ich bestelle mein Land. Außerdem fange ich Fische. Wenn ich Zeit habe, mache ich Fahrten mit diesem Segelschiff.«
Ich zog das Großsegel hoch, setzte den Klüver und den Besan, befestigte sie mit Klampen, dann kroch ich nach vorn, um den Anker zu lichten. Als ich wieder in der Plicht war, segelte Ruarri schon an der Mole entlang in den Kanal hinaus. Von da an hatten wir schwer zu schuften, denn der Wind kam von Westen, und wir mußten das Schiff in ihn hineintreiben, damit es nicht gegen die Riffe am Eingang zum Loch lief, und uns selber von der Küste fernhalten, ehe wir die lange Fahrt in nördlicher Richtung durch den Minch begannen.
Als ich die Segeltaue straffgezogen hatte, lächelte Ruarri mich an und sagte lakonisch:
»Gute Arbeit, Seannachie!«
»Was heißt Seannachie?«
»Ach, die Unwissenheit des Engländers! Ein Seannachie ist ein Geschichtenerzähler – wie Sie, wenn auch nicht ganz so, denn er hat alles im Kopf: die Geschichten der Clans, die bis weit in die Vergangenheit zurückreichen, und die Märchen aus der Zeit vor den Clans, und die Geschichten, die mit Orts- und Inselnamen zusammenhängen. Manchmal ist er auch ein Barde und kann die alten Lieder singen oder einem ein neues Gedicht für eine Hochzeit oder ein Begräbnis machen. Es gibt noch immer ein paar von ihnen auf den Inseln, und vielleicht werden Sie, wenn Sie zu einem Ceilidh gehen, einen hören; freilich müßten Sie dann Gälisch können, um ihn zu verstehen.«
»Wenn ich lange hierbleibe, werde ich es lernen müssen.«
»Werden Sie denn lange hierbleiben?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Und wo werden Sie wohnen?«
»Bei Alastair Morrison drüben in der Nähe von Laxay. Kennen Sie ihn?«
»Ich kenne ihn. Ich mag ihn. Obwohl ich nicht sicher bin, daß er immer mit mir oder dem, was ich tue, einverstanden ist. Übernehmen Sie jetzt das Steuerrad, ich werde uns einen Grog machen, damit wir nicht frieren. Halten Sie es fest in den Wind. Sonst werden wir nach Vaternish Point abgetrieben.«
Er machte mir damit ein Kompliment, und so klein es auch war, ich war groteskerweise stolz darauf. Es gibt kein reineres oder heilsameres Vergnügen für einen Mann, als bei kräftigem Wind ein Segelschiff zu steuern und den Wellenschlag des Meers zu spüren und das weiße, sich blähende, gut gesetzte Segel zu betrachten. Nachdem ich so lange in mir und in einer Gesellschaft gefangen gewesen war, an die ich nicht mehr glauben konnte, fühlte ich mich plötzlich befreit, beschwingt, frei wie die Seemöwe, die mit kaum zitternden Flügeln genau über dem Topp dahinschwebte.
Aber ich will ehrlich sein und gleich gestehen, daß ich kein guter Seemann bin. Mir fehlen die Muskeln und die Nerven, die Nase für Wind und Wetter und die hellsichtige mathematische Begabung, durch die man ein tüchtiger Navigator wird. Ich liebe das Meer, aber ich fürchte es auch. Ich fürchte seine Einsamkeit und sein Geheimnis, sein unberechenbares Toben, die unheimliche Drohung seiner Ruhe, und doch weiß ich genau: wenn die Tyrannen mit ihren Spionen und Verfolgern und Bürokraten und Manipulierern wiederkämen, würde ich lieber das Segel hissen, den Anker lichten und mich dem Wind, den tosenden Wellen aussetzen, ohne Hoffnung, Land zu sichten, als zu riskieren, wieder zu einem Sklaven zu werden.
Und plötzlich sang ich: ein altes Lied, an das ich mich aus meiner längst vergangenen Kindheit erinnerte. Ruarri kam mit zwei Bechern in der Faust auf Deck: schwarzer Kaffee mit einem kräftigen Schuß Malzwhisky. Er reichte mir den einen, prüfte unsere Fahrtrichtung und blickte mich dann mit seinen hellen Augen fragend an.
»Sie können also doch Gälisch, Seannachie?«
»Nein. Warum?«
»Das Lied – es heißt ›Morag of Dunvegan‹ –, und Sie haben es auf gälisch gesungen.«
»Aber ich verstehe kein Wort davon. Ich habe es wie vieles andere auswendig gelernt. Ein alter irischer Mönch, der Harfenspieler war und behauptete, jedes irische und schottische Lied zu kennen, und der aus uns allen Missionare machen wollte, hat es mich gelehrt.«
Er schien erleichtert, als hätte er mich einer Lüge verdächtigt und müsse nun Abbitte tun. »Sie sind ein guter Steuermann.«
»Ich habe selber ein Boot besessen. Ich habe mit ihm an Wettkämpfen teilgenommen, aber ich war nie wirklich ehrgeizig. Mir fehlt der Killerinstinkt.«
»Das ist aber ein komisches Wort.«
»Eine Redensart.«
Er war wachsam, bissig wie ein Tier des Waldes, immer auf der Hut. Er war zu jung, um am Krieg teilgenommen zu haben, aber er hatte die umsichtige Haltung eines Mannes, der zu einem Kommandotrupp gehört, den mißtrauischen Blick und das schnelle Reaktionsvermögen, und er hielt stets ein Lächeln bereit, um seine innere Spannung zu verbergen. Seine Sprache hatte etwas Chamäleonhaftes. Meistens sprach er in dem weichen, singenden Ton der Inselbewohner. Er verdrehte die Sätze, wie es ein Kelte tut, aber manchmal wich sein Akzent einem ganz fremden. Er sprach nie ausführlich über ein Thema, wie es ein Gebirgler tut, redete immer wieder drum herum, webte das Gespräch wie ein Stück Stoff. Er hatte alle möglichen witzigen Einfälle, sprach von diesem, bald von jenem, so daß man nie recht wußte, worauf er hinauswollte.
»Sagen Sie, Seannachie, was ist zwischen Ihnen und dieser Doktorin?«
»Nichts. Sie hat durch ihren verdammten Leichtsinn ihren Wagen zu Bruch gefahren. Ich habe mich erboten, sie nach Uig mitzunehmen.«
»Nicht interessiert?«
»Nein.«
»Sie sieht aber sehr gut aus.«
»Es gibt Haufen sehr gut aussehender Frauen.«
»Sie wäre vielleicht zu allem bereit.«
»Ich habe sie nicht danach gefragt.«
»Vielleicht werde ich sie eines Tages fragen.«
»Dies ist ein freies Land.«
»Von wegen, mein Lieber!« Er leerte seinen Becher in einem Zug und stellte ihn dann so energisch ab, daß er laut klapperte. »Ich bin seit drei Jahren wieder hier, und ich kann Ihnen nur sagen, man wird hier mit Vorschriften kastriert, wird zu einem fetten Eunuchen durch diese elende Krankheit, die sie den britischen Sozialismus nennen. Selbst hier oben rings um die lange Insel, wo das Meer von Fischen und Hummern überquillt, die in Europa ein Vermögen einbringen würden, selbst hier – was geschieht? Die Kleinbauern müssen alles mit der Hand machen, und das Weben wird von der Regierung subventioniert, und die Heringsflotten schwinden immer mehr dahin, weil man nicht einmal Leute bekommt, die die Trawler steuern, selbst wenn sie einen Teil des Fangs abbekommen. Es ist ein Touristenland, sagt man uns! Nirgends in der Welt kann man soviel Lachse fangen wie hier, doch von Berneray bis zum Butt O’Lewis ist kein Zimmer mit Bad zu haben. Die Hotels verdienen trotzdem – das Geld der Weber und das Geld der Kleinbauern und das Geld des Hochlandentwicklungsamtes fließt herein. Aber es geht aufs Festland zurück, über die Bars und in die Taschen der Brauer. Und darum arbeiten die Frauen noch wie Zugpferde, und die Männer lassen sich am Samstag vollaufen, und am Sonntag marschieren sie alle in die Freie Kirche, um Schwefel und Sirup zu bekommen! Das heißt, außer in Eriskay und Barra, weil sie dort katholisch und Jakobiter sind und etwas duldsamer den Lüsten des Fleisches gegenüber. Dennoch ist es schwer, dort etwas zu finden, nach dem es einen gelüstet, denn die Mädchen gehen in Stellung aufs Festland und nach London, wo sie sich die neuen Abtreibungsgesetze zunutze machen können.«
»Und warum bleiben Sie dann hier?«
»Das, Seannachie, ist eine ernste Frage. An einem der nächsten Abende, wenn es Ihnen gelingt, mich genügend betrunken zu machen, werde ich versuchen, sie zu beantworten. Übrigens – das, was dort steuerbord liegt, ist die Score Bay, und die Landzunge ist Rubba Hunish. Wir werden diesen Kurs noch eine Stunde halten, dann fahren wir auf die Shiants zu, wo ich einen Kunden von mir aus Drontheim in Norwegen zu treffen hoffe.«
Ich fragte ihn nicht, wer sein Kunde war oder welche Art von Geschäft da getätigt werden sollte. Ich war glücklich, das Schiff zu steuern und die Kliffs allmählich im Sommerdunst verschwimmen zu sehen. Aber Red Ruarri war zum Sprechen aufgelegt und tat es. »Und nun zu Ihnen. Was führt Sie hierher?«
»Ich bin krank gewesen. Ich hatte die Städte satt und den Streit. Morrison schlug mir vor, herzukommen. Eine ganz einfache Geschichte.«
»Aber Sie selber sind nicht einfach, Seannachie. Sie haben viel erlebt, wie man in Ihrem Gesicht lesen kann, und Sie glauben nicht an die Inseln der Seligen und all den mittelalterlichen Schwindel.«
»Vielleicht hatten die etwas, was wir verloren haben, und vielleicht ist davon noch etwas da.«
»Auf den Hebriden?« Er warf den Kopf zurück und lachte. Dann hörte er auf zu lachen und runzelte die Stirn, weil ihm ein neuer Gedanke kam. »Nun, Sie könnten recht haben. Als ich – es spielt keine Rolle, wo ich war, aber es war abenteuerlich und aufregend, und die Risiken waren groß, doch das Geld war ein Goldregen, solange es währte –, jedenfalls träumte ich da oft von den alten Wikingern. Es war eine verwegene, blutrünstige Horde, aber wissen Sie, sie waren auch Träumer. Betrachten Sie eine Karte und sehen Sie, wohin sie mit ihren Schiffen gefahren sind: zu den Färöern und den Orkneys und Shetlands, nach Island und Grönland und an die Küste Amerikas und die Flüsse hinunter bis Kiew. Auf dem Fußboden in der Hagia Sophia in Istanbul stehen Runenworte – wußten Sie das? –, und sie regierten die Hebriden bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts, und die Hälfte unserer Gestade haben norwegische Namen, Tolsta und Seilebost, Taransay und Grjomaval. Wir haben immer noch Blondköpfe und Rotbärte als Erinnerung an die Zeit ihrer Herrschaft hier. Sie haben mich gefragt, warum ich zurückgekommen bin. Aus einem Grunde: Ich konnte die Sonne und den Schweiß, der alles Salz aus eines Mannes Blut saugt, nicht mehr ertragen. Ich sehnte mich nach dem dunklen Wasser und den Stürmen und dem Wild in den Bergschluchten und dem Land, das wieder fruchtbar werden muß, und das kann es nur, wenn jemand es mit aller Kraft bestellt.«
»Und nun haben Sie, was Sie sich wünschten?«
»Ganz und gar nicht, Seannachie. Aber das kommt noch. Bis dahin treibe ich mich ein wenig herum und gehe ein bißchen auf Raubzüge, und wenn Sie sich mit den frommen Leuten von Lewis gut stehen wollen, dann ist es das beste, Sie verbringen nicht zuviel Zeit in meiner Gesellschaft.«
»Ich werde tun, was mir Spaß macht. Wie lange, glauben Sie, wird es dauern, bis wir in Stornoway sind?«
»Wenn der Wind so bleibt, werden wir’s in acht Stunden unter Segel schaffen. Und das bedeutet, daß wir zu Hause sein werden, ehe die Bars schließen. Ich werde Ihnen einen Whisky spendieren, werde ein Bett für Sie finden und werde Sie einer kleinen blonden Taube vorstellen, die es für Sie wärmen wird, falls es Sie danach gelüstet. Und am Morgen fahre ich Sie nach Tarbert, damit Sie dort wieder in Ihren Wagen steigen können. Aber Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie von unserem Treffen in der Nähe der Shiants nichts erwähnten.«
»Das ist Ihre Sache. Ich habe keinen Grund, darüber zu sprechen.«
Da entspannte er sich. Er setzte sich auf den Süll der Plicht und begann in freundschaftlicher Weise mich in die Folklore der nördlichen Meere einzuweihen. Trotz seiner Ausgekochtheit hatte er eine poetische Ader und erzählte seine Geschichten in einem hypnotisierenden Ton, der zu dem Rhythmus der Wellen und dem warmen Hauch des Westwinds paßte.
Da waren Geschichten von den alten Walfängern und den Fischerfehden und den Robbenjägern und von Schiffbrüchen bei den schweren Stürmen auf dem Atlantik. Da waren die Legenden vom Riesen Ochull Glas und dem kleinen, dunklen Pygmäen von Ness und den alten Vergessenen, die die Stehenden Steine aufgerichtet haben. Wieviel wußte er von Meeresvögeln, dem weißen Seeraben, der Möwe, dem Eissturmvogel, der schwarzen Lumme, dem Tordalk und der arktischen Seeschwalbe zu berichten! Da gab es auch Seemannsgarn von dem Mörderwal, der eine Strecke von dreißig Knoten längs der Küste schwimmen konnte, und dem sich sonnenden Hai, der ein Boot meilenweit zog, selbst wenn ihm eine Harpune im Rücken steckte, der grauen Robbe mit der Römernase, diesem scheuen Einzelgänger, und den Heringsschwärmen, die eine ohrenbetäubende Musik machten, wenn sie durch eine flache Sommersee schwammen.
Es war alles ungewöhnlich, merkwürdig und wunderbar, ein alter Vorhang, der mich von der Welt trennte, die ich hinter mir gelassen hatte. Nach einer Weile machten mich all diese Wunder schläfrig; und als wir die Strecke, die wir in westlicher Richtung fahren mußten, zurückgelegt hatten und den Minch hinauf nordwärts fuhren, nahm Red Ruarri das Steuerrad und schickte mich hinunter, damit ich ein Mahl für uns beide bereite.
Die Kajüte war blitzsauber und funkelte wie ein neuer Penny. Es waren dort zwei Kojen, jede mit wasserdichtem Vinyl bedeckt und jede mit einer Lampe am Kopfende und einem Bücherregal in Reichweite. Ferner gab es einen Kartentisch mit einem Funkgerät, durch das man mit der Küste verbunden war, eine große Kombüse mit Spülbecken und einem kardanisch aufgehängten Herd und einem Hocker in Kardangelenken, auf dem man bei hoher See sitzen konnte, ohne hinunterzufallen. Und so war es mit allen anderen Dingen auch. Es herrschte hier keine Junggesellenunordnung; alles war gediegen. Jede Schraube saß fest. Jedes Schloß war geölt und funktionierte. Die Töpfe waren blank geputzt, die Bestecke sauber, selbst die Tischtücher waren schneeweiß. Und es roch nach einem Desinfektionsmittel. Red Ruarri, der Wolf, mochte ein Rauhbein und ein Räuber sein, aber er war äußerst systematisch. Er aß auch gut. Und sein Likörschrank war so reich gefüllt, daß man keine kalte Nachtwache zu fürchten brauchte.
Während das Essen warm wurde, warf ich einen Blick auf seine Bücher. Noch eine Überraschung. Hier war keiner jener Schundromane mit Eselsohren, die man so oft auf dem Bücherregal eines Matrosen findet. Dies waren die Bücher eines ernsthaften Lesers und sogar eines Spezialisten. Da war die Laing-Übersetzung der Olafsagas, der Sagas der norwegischen Könige. Dasents Version der Geschichte des verbrannten Njal und eine frühere Ausgabe der Saga von den Männern von Lagsdale. Auch das Buch von Frank O’Connor über irische Literatur und ein Band von Macdonalds Tagebüchern über die Folklore der Insel Lewis und ein Exemplar von Broggers ›Auswanderer von einst‹, sowie zwei Grammatiken, eine norwegische und eine dänische. Für wen er sich auch halten mochte – einen heimgekehrten Gälen oder einen alten Wikinger –, Ruarri Matheson las sich zu seinen Ursprüngen zurück; oder las er sie in sich hinein, um das Vakuum eines zehnjährigen Exils zu füllen? Das war ein interessanter Gedanke, aber ich hatte keine Zeit, ihn zu verfolgen, denn das Stew begann zu kochen, und ein hungriger Seemann rief laut nach Essen und einem Krug Bier.
Ich nahm das Steuerrad, während Ruarri mit einer Hand aß und immer wieder über seine Unbeholfenheit fluchte. Dann aß ich selber und ging hinunter, um die Kombüse aufzuräumen. Ich war mit der Arbeit erst halb fertig, als Ruarri von neuem rief. Die Shiants tauchten auf, und sein Kunde kam uns entgegengefahren: in einem altmodischen Fischdampfer aus Holz, dessen sehr schmutzige Dieselmotoren braunen Rauch ausspien. Ich mußte mich darum beeilen. Ruarri wollte, daß die Segel eingezogen und die Fender ausgehängt wurden. Dann nahm er wieder das Steuerrad, während ich den Motor abstellte und die Mactire neben den Fischdampfer dirigierte.
Das Schiff hielt. Und Ruarri ging an Bord des Fischdampfers. Er wurde von einem stämmigen Mann begrüßt, von dem ich annahm, daß es der Kapitän war. Dann verschwanden die beiden im Unterdeck. Zehn Minuten später kam Ruarri mit einer kleinen ledernen Aktentasche unterm Arm und einer Flasche Schnaps in der Hand zurück. Und weiter ging die Fahrt. Als ich die Segel wieder gesetzt hatte und wir weiter in nördlicher Richtung fuhren, goß er mir einen großen Schluck von dem Schnaps ein und gab seinen einzigen Kommentar zu der Transaktion: »Braver Bursche, der Bollison. Ehrlicher als die meisten. Auch fleißig. Im Sommer geht er auf Fischfang. Im Winter jagt er Robben. Der alte Kahn sieht nicht nach viel aus. Er ist zwanzig Jahre alt, aber er fährt mit ihm um die Arktis herum, als wäre es ein Eisbrecher. Ich habe mich vor anderthalb Jahren an seinem Unternehmen beteiligt und verdiene bereits daran.«
»Wo fährt er jetzt hin?«
»Nach Westen. Zwischen Barra Head und Irland sind gute Heringsgründe, und wenn er Glück hat, fängt er dort auch Dorsch und Weißfisch.«
Wir waren wieder bei den Fischgeschichten angelangt. Ich wollte ihm auf den Zahn fühlen. »Sie sind also jetzt ein Schiffahrtsmagnat?«
Er blickte mich böse an, aber dann lächelte er. »Sie scherzen, Seannachie. Heutzutage muß ein Mann mit einem Bein auf dem Land und mit dem anderen im Meer stehen. Das Land ist fürs Essen, Verdienen, die Staatsbürgerschaft usw., und dorthin zieht man sich zurück, wenn man langsam verdorrt. Aber das Meer ist immer noch frei. Die Justiz kann einen da nicht erreichen, und die Leute von der Steuer werden aus dem privaten Logbuch nicht klug. Das Schiff ist ein Königreich, das zu betreten niemand berechtigt ist, ehe der Kapitän ihn dazu auffordert. Solange man sich im Hafen nichts zuschulden kommen läßt, hat man von allen Gesetzen nur die Vorteile. Die See speist die Ölraffinerien, die Stahlwerke und die Baumwollspinnereien, und sie wird auch eine hungrige Welt speisen, wenn die Hälfte des Landes wieder zu einer elenden Wüste geworden ist.«
»Was wollen Sie aus sich machen, Ruarri? Den Onassis der Hebriden? Oder einen Herrn der Inseln, wie es sie früher einmal gegeben hat?«
Er sprang darauf, schnell wie eine Forelle, die nach einer Fliege schnappt. »Nein. Vielleicht ein bißchen von jedem. Vielleicht etwas Sichereres als beides. Glauben Sie, ich sei verrückt?«
»Nein. Ich frage mich nur, wo Sie sich enden sehen, wenn eine Krankheit Sie befällt oder wenn Sie zu verdorren drohen, wie Sie sagen.«
»Und da irren Sie sich eben, Seannachie. Da irren sich alle. Das Tun ist für mich das Entscheidende, nicht das Sein. Auf das Tun kommt es an und nicht auf das, was dabei herauskommt. Haben Sie schon mal einen Sturm auf dem Atlantik erlebt?«
»Nein, noch nie.«
»Dann werde ich Ihnen sagen, wie der ausbricht. So fängt das an: kalter Himmel, Zirruswolken, die sich türmen und türmen, bis der Wind zuschlägt, die See zu tosen und der Gischt oben auf Deck zu gefrieren beginnt; und da ist das Schiff und die Mannschaft und die See und man selber, und man muß mit dem allem fertig werden. Wenn man damit nicht fertig wird, ist man tot, aber wenn man’s wird, dann ist Geld auf der Bank für einen weiteren Morgen köstliches Land oder für die Anzahlung auf ein anderes Schiff – so daß man das nächste Mal zwei Chancen hat – oder für eine Schiffsladung, die man in Stockholm kaufen und an einem anderen Ort mit Profit verkaufen kann. So haben’s die alten Wikinger gemacht. Sie waren wilde Krieger, aber auch friedliche Händler, und sie nahmen den Sachsen England ab und den Iren Dublin, und die Dänen handeln noch immer mit Teakholz aus Thailand, und Sie essen meinen Schellfisch in Rom. Ist das was oder nicht?«
Ich mußte zugeben: es war was. Ich mußte zugeben, daß die Aktivität Ruarris, des Wolfs, ermunternder war als die meditative Langeweile, der ich allzu lange verfallen gewesen war, aber es war da noch eine andere – und wichtige – Frage, die ich ihm stellen mußte.
»Mir scheint, Ruarri, Sie ziehen sich da eines anderen Schuhe an. Leverhulme versuchte genau das zu tun, was Sie zu tun versuchen, und ihm gehörte die Insel. Er wollte das Fischen und das Robbenjagen und das Spinnen und das Landbeackern organisieren, und er hatte bereits einen Markt für all die Produkte, aber trotz seiner vielen Millionen ist es ihm nicht geglückt.«
Das war offensichtlich für Ruarri kein neues Argument, denn seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Und wissen Sie, warum? Weil ihm die Insel gehörte, er aber nicht dorthin gehörte – und weil er es auf eine altmodische Art versuchte. Der reiche Herr, der sich tief verneigt, um seinen Lehnsmännern eine Gunst zu erweisen . . . Doch sie wollten das nicht, und ich kann ihnen das nicht verübeln. Bei mir ist es anders. Ich bin einer von ihnen. Ich bin der Sohn von Anne Matheson, drüben in Gisla, aber ich weiß nicht, wer mein Vater ist, und ich hab’s aufgegeben, mir darüber Gedanken zu machen. Ja, ich bin ziemlich wild, und die Burschen, die mit mir arbeiten, sind es auch. Aber wir gehören hierher, und obwohl wir den Neid anziehen und die Pfarrer und Missionare uns nicht mögen, wir bedeuten auch Hoffnung, denn wir bleiben, und wir bringen es zu etwas, und wir haben viel Geld auf der Bank. Eines schönen Tages, wenn Sie das Fischen mit Alastair Morrison satt haben, werde ich Sie hinausfahren und Ihnen zeigen, was wir aus dem Moor machen, das jahrhundertelang ungenutzt geblieben ist. Kommen Sie auf einem Fischdampfer mit, und ich zeige Ihnen, was wir dort tun. Geben Sie mir noch ein paar Jahre, und ich werde selber eine Flotte haben, wie die Russen, mit einem Mutterschiff, das die kleinen anführt und den Fang verarbeitet. Herr der Inseln? Vielleicht würde ich das gern sein, aber auf die alte Art, brüderlich zu allen und besser als alle, und wenn ich heirate, falls ich heirate, dann nicht als Ruarri Matheson, der Sohn der Anne Matheson, sondern dann werde ich Ruarri Wolf sein, werde den Namen amtlich ändern lassen, und meine Söhne werden die Söhne des roten Wolfs sein. Was halten Sie jetzt von mir, Seannachie?«
Es war eine peinliche Situation, und ich war daran schuld. Ich hatte ihn dazu verführt, mehr zu sagen, als er wollte, mehr, als ich hören wollte; und darum versuchte ich, ihn mit einem Kompliment abzulenken.
»Sie sind ein Draufgänger, Ruarri, und Sie werden wahrscheinlich erreichen, was Sie wollen – jedenfalls das meiste davon.«
»Aber Sie fragen sich, was mich dazu treibt, nicht wahr? Sie fragen sich, ob sich da nicht irgendwo etwas wie Wahnsinn verbirgt.«
»Etwas wie eine Vision vielleicht, aber das ist ja nichts Schlimmes.«
»Es ist manchmal quälend.«
»Das stimmt.«
»Es macht einen auch einsam. Die Einsamkeit. Die Erinnerungen, die andere Menschen nicht haben. Die Träume, über die andere spotten würden, wenn man sie ihnen erzählte. Und es drängt einen, immer noch mehr als sie zu sein, noch mehr zu trinken, hinter mehr Frauen herzujagen und größere Risiken auf sich zu nehmen, nur damit sie schließlich die Träume glauben. Oder kommen Sie schon nicht mehr mit?«
»Doch. Ich frage mich nur, wie lange Sie unter anderen Menschen leben können, als wären Sie ihresgleichen.«
»Solange ich es muß, Seannachie! So lange, wie es dauert, um sie zu Gläubigen, Anhängern und zu Persönlichkeiten zu machen, und nicht zu Sklaven mit einer Sozialversicherungsnummer statt eines Namens.«
»Wenn Sie glauben, das fertigbringen zu können, dann wünsche ich Ihnen viel Glück. Aber erwarten Sie nicht Blumen bei jedem Nachhausekommen oder einen Willkommenstrunk zu jedem Abendessen.«
Er nahm sich Zeit, um das zu verdauen. Ich konnte seine Wut sehen, und ich verstand jetzt, warum man ihm den Namen Wolf gegeben hatte; doch dann kehrte das strahlende, ungezwungene Lächeln wieder. »Nein, Sie sind noch klüger, als ich dachte, Seannachie. Ich bin froh, daß wir Freunde sind. Sonst würden wir’s uns gegenseitig schwermachen. Was da steuerbord auftaucht, ist Keboch Head. Rufen Sie mich, wenn Sie vom Kurs abkommen, und ich werde Ihnen die richtige Richtung weisen.«
Darauf ging er hinunter, und ich war froh, eine Weile allein zu sein. Er war unangenehm kämpferisch, und ich hatte die weite Reise gemacht, um nichts mehr mit anderer Menschen Streitigkeiten zu tun zu haben. Dennoch, er hatte etwas enorm Anziehendes, etwas Heroisches, das ihn von den grauen Städtern und den zeternden Intellektuellen unterschied, die sich so selbstbewußt in der Dämmerung einer unglaubwürdig gewordenen Zivilisation ergingen. Er forderte einen auch heraus, forderte einen zum Abenteuer heraus, zum Ausbruch aus den geschlossenen Grenzen und der lähmenden Konformität, um sich als Mann mit den Urelementen und den Tyranneien einer aus den Fugen geratenen Zeit zu messen.
Ich fragte mich, was für eine Art von Frau er heiraten würde, um die Wolf-Söhne zu zeugen, die er haben wollte, und wie Kathleen McNeil reagieren würde, wenn er sie umwarb. Ich fragte mich auch, wie er mit einem Rivalen im Geschäft oder in der Liebe umgehen würde und wie weit er sich in seinem Ehrgeiz außerhalb des Gesetzes gestellt hatte oder stellen würde. Er hatte angedeutet, daß er in seiner Vergangenheit Gewalttaten verübt hatte, und der Wolf auf der Flagge verriet, daß er ziemlich stolz darauf war. Dann wurde der Wind stärker, kam in Stößen und Böen von dem westlichen Fjord von Lewis herüber. Und es war nicht leicht, das vom Sturm gepeitschte Schiff sicher zu steuern, bis wir Stornoway erreichten.
Es war fast sieben. Uhr abends, als wir im Innenhafen vor Anker gingen. Es war noch hell: ein klares, kaltes Licht, das einem Menschen, der aus dem Mittelmeerraum kommt, fremd und unwillkommen ist. Das Wasser war grau wie altes Zinn, die Kliffs waren schwarz, die Berge grün und golden und purpurn, seltsam melancholisch in der anbrechenden Dämmerung. Die kleine Stadt mit ihren schwarzen Dächern und ihren weißen, braunen und gelben, mit Stuck verzierten Mauern schien sich schutzsuchend unter die Zinnen eines sehr viktorianischen Schlosses zu kauern. Die Abendessenstille hüllte die ganze Stadt ein, wurde nur gebrochen durch die klagenden Schreie der noch wachen Möwen. Das hohe Fährendeck war verlassen, und auf den von vielen Fahrten auf dem Meer gezeichneten Fischdampfern, die rings im Hafenbecken vor Anker lagen, zeigte sich keine Menschenseele. Die wenigen Menschen auf den Straßen wirkten verschlossen und uninteressiert, als hätten sie der See den Rücken gekehrt und wollten eine Weile nichts mehr von ihr wissen.
»Sie finden, das ist ein trauriger Ort«, sagte Ruarri, der Wolf.
»Ja, so ungefähr.«
»Nun, er ist es. Man blickt aufs Meer und erinnert sich an die Menschen, die es verschlungen, und die andern, die es verschont hat. Das Rettungsboot dort drüben erinnert daran, daß morgen andere dran glauben müssen. Und sehen Sie die Berge: sie sehnen sich nach Menschen, nach den Toten wie den Davongegangenen.«
»Die Glücklichen Inseln?«
»Ja, trotz allem. Und jetzt werden wir die Segel einziehen, wenn Sie nichts dagegen haben. Wir werden sie zusammenlegen und in den Überzug stecken, damit sie an Land trocknen können. Dann werde ich Ihnen zeigen, wo man noch etwas vom Glück findet.«
Ich war völlig zerschlagen und begann zu frieren. Aber die Arbeit lenkte mich wenigstens von meinem Grübeln ab. Ich war mit dem, was ich zu tun hatte, fast fertig, als ich Ruarri wild fluchen hörte. Ich blickte auf und sah einen Zollkutter den Kai verlassen und auf uns zufahren. Ich fragte ihn, was das bedeute. Er antwortete nicht, sondern lehnte wütend am Takelwerk, bis der Kutter uns erreicht hatte. Ich faltete die Segel und spitzte die Ohren, um etwas von dem Gespräch zu erhaschen.
»Ich möchte an Bord kommen, Ruarri.«
»Warum?«
»Routineinspektion.«
»Von wegen Routine, Duggie. Es ist eine Belästigung und Beleidigung, und Sie wissen das ganz genau.«
»Ich möchte trotzdem an Bord kommen. Machen Sie keine Schwierigkeiten, Ruarri.«
»Und ich möchte trotzdem wissen, warum.«
»Eine Routineinspektion! Sie kommen nicht an Land, ehe ich sie durchgeführt habe. Was ist mit Ihrem Arm passiert?«
»Ich habe ihn mir gebrochen.«
»Wer ist da mit Ihnen an Bord?«
»Ein Mann, den ich in Uig kennengelernt habe. Ein Tourist. Er hat mich hierher zurückgesegelt.«
»Ich möchte auch mit ihm sprechen.«
Mir schien es an der Zeit zu sein, einzugreifen, und darum verstaute ich die letzten Segel und ging in die Plicht. Der Zöllner, ein dunkelhaariger Mann mit einem schmalen Gesicht und wissenden Augen, lächelte mich mechanisch an und legte lässig die Hand an die Mütze.
»Bedaure, Sie stören zu müssen, Sir. Darf ich Ihre Papiere sehen?«
»Sie sind in meiner Tasche in der Kajüte. Ich werde sie Ihnen holen.« Während ich hinunterging, begann der Streit von neuem, in gedämpftem Ton jetzt, aber darum nicht weniger heftig.
Ich bin ein Zugvogel, und ich habe gelernt, mit wenig Gepäck zu reisen. Ich habe nur einen einzigen Koffer bei mir, der nie abgeschlossen wird, weil ich Schlüssel ebenso leicht verliere wie Feuerzeuge und Füllfederhalter. Ich stellte den Koffer auf die Koje und öffnete ihn. Die Aktentasche, die Ruarri von dem Fischdampfer mitgebracht hatte, lag oben auf meinen zusammengelegten Kleidungsstücken. Ich war verblüfft, und dann packte mich der Zorn. Ich öffnete den Reißverschluß der Aktentasche und entdeckte, daß sie voller Banknoten war, englische Pfund und amerikanische Dollar. Ich war sofort in einem Dilemma: sollte ich Ruarri selber erklären lassen, was es damit auf sich hatte, oder sollte ich behaupten, sie gehöre mir, und lügen, wenn der Zöllner verlangte, mein Gepäck zu inspizieren?
Ich entschloß mich zu einem Bluff, durch den wir vielleicht beide das Gesicht wahren konnten. Ich nahm die Brieftasche mit meinen Papieren, schob sie in die Aktentasche und stieg an Deck. Ich tat so, als ob ich in der Aktentasche suchte, und reichte dann dem Zöllner die Papiere: Paß, Flugschein, Mietvertrag für das Auto und eine quittierte Rechnung von dem Hotel in Fort Augustus. Damit es noch ehrlicher wirkte, nannte ich ihm den Namen meines Gastgebers in Laxay. Er gestattete sich ein Grinsen über die Vollständigkeit des Dossiers und reichte mir dann die Papiere zurück.
»Alles in Ordnung, Sir. Hoffe, Sie haben einen angenehmen Aufenthalt auf den Inseln.«
Ruarri dagegen befahl er nur:
»Nun, mein Lieber, jetzt wollen wir uns alles einmal ansehen.« Er kletterte an Bord und ging sofort hinunter. Ruarri folgte ihm brummend und fluchend, während ich fröstelnd und schlecht gelaunt mit der geschlossenen Aktentasche auf den Knien in der Plicht saß. Er muß alles sehr gründlich inspiziert haben, denn es dauerte volle zwanzig Minuten, bis er wieder an Deck kam und in nicht mehr bissigem Ton erklärte, wir könnten an Land gehen, worauf er uns verließ.
Ruarri, frech wie Oskar, entschuldigte sich nicht, sondern grinste nur und murmelte:
»Schönen Dank. Ich habe Sie richtig eingeschätzt, Seannachie. Das war schnell geschaltet.«
»Zum Teufel mit Ihnen, Matheson! Sie sind ein Bastard, wie er im Buche steht.«
»Dieses Wort höre ich nicht gern.«
»Das ist mir höchst gleichgültig, ob Sie es gern hören oder nicht.«
»Ich könnte Ihnen das Genick brechen.«
»Nicht mit einer Hand, Ruarri. Wir wollen jetzt das Beiboot ins Wasser lassen, und ich rudere Sie an Land.«
»Wollen Sie keine Erklärung hören?«
»Nein.«
»Einen Schnaps dann zum Abschluß des guten Tages?«
»Nein, danke.«
Wir ruderten schweigend an Land und trennten uns ohne ein Händeschütteln auf dem menschenleeren Kai. Eine halbe Stunde schleppte ich mich durch die Stadt, ehe ich ein belangloses Zimmer fand und etwas Fades zu essen bekam. Ich sank ins Bett, verwünschte Ruarri den Wolf und dachte, ich würde wahrscheinlich auf den Glücklichen Inseln noch verrückt werden.
Es war schon spät am Morgen, einem strahlenden Morgen, als ich erwachte. Ich hatte mich gut ausgeruht, und nachdem ich gebadet und gefrühstückt hatte, machte ich mich auf den Weg, um die Stadt etwas weniger voreingenommen zu besichtigen.
Der Wind hatte sich in der Nacht gelegt, und die See war spiegelglatt. Die ersten Fischdampfer fuhren aus. Ein verrosteter Frachter löschte Kohle, und in den Straßen und rings um die Docks war Leben: Hausfrauen, die mit ihren Einkaufskörben schon früh unterwegs waren, gackerndes Klatschen vor dem Büro des Hafenmeisters, Lastwagen, die Wollballen für die Weber luden, Hin- und Herrennen am Innenhafen, als eine weitere Gruppe Fischerboote sich zum Auslaufen bereit machte. Ein kleiner Junge fischte aus einem Ruderboot. Eine Robbe steckte ihre Schnauze neugierig aus dem Wasser. Ein alter Mann saß auf dem Poller und flickte ein Netz. Ein paar kräftige Männer polierten Metallbeschläge am Boot der Rettungswacht.
Allmählich konnte ich mir ein Bild von dieser Stadt machen. Sie hatte etwas Kühles, Sprödes, Verhaltenes, das Respekt verlangte, auch wenn sie nicht spontane Zuneigung weckte wie sonnigere Orte. Die Häuser waren viereckig und düster, aber sie waren so solide gebaut, daß sie den Stürmen und dem Gischt standhielten. Auch die Menschen waren auf den ersten Blick düster, in Tweed und Homespun gekleidet. Die Frauen apfelbäckig und stämmig, die Männer vom Meer verwittert und schwerfällig im Sprechen. Aber wenn ich sie nach dem Weg fragte, lächelten sie und nahmen sich Zeit. Sie waren zurückhaltend und zu meiner Überraschung gar nicht neugierig Fremden gegenüber. Doch das war gar nicht so erstaunlich, denn die Männer von Lewis waren schließlich überall in die Welt gefahren, viele hatten bei der Handelsmarine gedient, und im Krieg waren Matrosen aus aller Welt in dem kleinen Hafen gewesen.
Aber auch hier war die Angst vor dem Meer, die durch die Erinnerungen an ehemalige Katastrophen und neue Gefahren genährt wurde. Fünfhundert Meter vom Hafen entfernt lauerten die ›Beasts of Holm‹, wo zweihundert heimkehrende Soldaten und Matrosen kurz vor der Küste ertrunken waren. Einst hatte die Heringsflotte aus tausend Schiffen bestanden; jetzt waren es nur noch fünfzig, und keine Saison verging, ohne daß das Boot der Rettungswacht immer wieder auslaufen mußte, weil ein Küstendampfer vor den Flannans in Seenot war oder ein Drifter hilflos auf das Kap Wrath zutrieb. Es war darum kein Wunder, daß die Freuden dieser Menschen bescheiden und sie selber etwas verschroben waren; kein Wunder auch, daß sie eine gesunde Mißachtung für jene hatten, die nach der Richtschnur und Routine der Städter lebten.
In den menschenüberfüllten Ländern, in den Ameisenhaufen der Städte unserer Zeit werden Menschen von Menschen gemacht und vernichtet. Sie werden zerrieben, zerkleinert, poliert, geformt oder entstellt – wie Steine in einem tosenden Fluß. Die Vergangenheit beherrscht sie nicht, weil sie im reißenden Strom der Gegenwart umhergewirbelt werden. Das Land beherrscht sie nicht, weil es unter Asphalt und Beton begraben ist und ihre Füße es nie berühren. Das Meer beherrscht sie nicht, weil sie es weder riechen noch hören, wenn sie in ihren Fluren aus Stein und Mörtel wie Mäuse in einem Labyrinth hin und her laufen. Aber in Orten, die von der Zivilisation noch unberührt sind, auf Inseln und im Gebirge, muß der Mensch sich den Elementen, der Erde und dem Wasser und der wechselnden Luft anpassen, sonst stirbt er. Seine Vergangenheit ist ihm immer gegenwärtig, weil Tag für Tag Wissen und Ausdauer aus ihr geschöpft werden. Sein Gemeinschaftsleben ist weniger zermürbend, weil es mehr Raum hat. Es ist brüderlicher, von etwas wie einem Stammesgefühl erfüllt, weil es der Erde näher ist; geeint auch durch das Gefühl der gemeinsamen Gefahr. Selbst die Ortsnamen erzählen die gleiche Geschichte. Sie feiern keine ehemaligen Tyrannen, keine minderwertigen Politiker, keine belanglosen Idole; sie feiern die Erde und das Meer und deren Früchte. Als mir das alles klarwurde, sah ich Ruarri, den Wolf, als Teil davon, ein Mann in Gefahr wie die übrigen. Sein kleiner dreister Schurkenstreich bekam einen anderen Sinn: der Seeräuber, der den zu Hause Hockenden, der Freibeuter, der den fahrenden Kaufleuten ein Schnippchen schlägt. Es tat mir leid, daß ich von seiner Erklärung nichts hatte hören wollen und sein Angebot abgelehnt hatte, mit ihm einen Whisky zum Abschluß eines guten Tages zu trinken. Ich hatte etwas versäumt. Es gab zu viele solcher Versäumnisse in einem zu flüchtigen Leben.
Es war jetzt fast Mittag und Zeit, ein Taxi zu finden, das mich nach Süden fuhr, wo ich mein Auto abholen wollte; Zeit auch, Alastair Morrison anzurufen und ihm zu sagen, er solle mich in Laxay erwarten. Als ich ins Hotel zurückkam, um meine Rechnung zu bezahlen und meine Sachen zu packen, wartete dort Ruarri auf mich. Er reichte mir einige Schlüssel und ein kleines Paket.
»Ich habe Ihren Wagen von Tarbert hergebracht. Er steht hinter dem Haus. Ich habe die Hotelrechnung bezahlt, weil Sie mein Gast sein sollten. Und das Päckchen ist so etwas wie eine Entschuldigung. Ich hoffe, Sie nehmen sie an.«
Was konnte man mit so einem Menschen machen? Eben noch hätte er einen am liebsten umgebracht, und nun war er leutselig wie ein Fürst. Meine Antwort klang nicht allzu freundlich.
»Das war nicht nötig. Ich habe mich gestern abend selber töricht benommen.«
»Wir werden also den Whisky irgendwann einmal zusammen trinken?«
»Gern.«
»Und vielleicht kommen Sie auch zu einem Ceilidh in mein Haus, wenn i Sie sich erst etwas eingelebt haben.«
»Wann immer Sie wollen.«
»Alles Gute dann.«
Wir schüttelten uns die Hand, und ich blickte ihm nach, wie er davonging, unbekümmert und elegant, als gehörten ihm die Stadt und alle Fische im Meer. Ich setzte mich in mein Auto und packte sein Geschenk aus. Es war eine zwölf Zentimeter hohe Schachfigur aus Walroßelfenbein, die einem Wikingerkrieger glich. Ein Zettel lag dabei, auf dem in der schwungvollen Schrift eines Gebildeten stand:
»Ich habe das auf meinem eigenen Land gefunden. Man sagt, es sei fast tausend Jahre alt. Wenn Sie das Gefühl haben, daß wir Freunde werden können, behalten Sie es. Wenn nicht, schicken Sie es zurück. Alte Dinge brauchen wie Bastarde eine liebevolle Behandlung. Ruarri.«
Ich habe die Figur noch. Sie steht auf meinem Tisch, während ich dies schreibe. Ein vergilbter Zwerg, ein Relikt aus einem heroischen Zeitalter, das mich an eine kurze Leidenschaft erinnert, eine ungestüme Liebe und eine lange Reue.