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Zweites Kapitel

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Das Haus Alastair Morrisons von den Morrisons steht auf einer Landzunge, die sich ins Loch Erisort erstreckt; das ist ein langer, sich zum Nord Minch öffnender Fjord. Um dorthin zu gelangen, nimmt man die Straße südlich von Stornoway, eine schmale Straße aus verwittertem Bitumen, die sich durch Torfland und zwischen ein paar kleinen Höfen hindurch windet. Auf dieser Straße muß man höllisch aufpassen, denn zwei Wagen können dort nicht aneinander vorbei, so daß man, wenn einem ein anderer entgegenkommt oder einer dieser großen fahrbaren Konsumläden, auf einen Rastplatz fahren muß, um den anderen durchzulassen. Da die Straße eine Berg-und-Tal-Bahn ist, muß man damit rechnen, daß man nur langsam vorwärts kommt. Wenn es neblig ist, kann man sie überhaupt nicht befahren, es sei denn an einem Samstagabend, wenn Gott den Menschen der Äußeren Inseln freundlich zublinzelt und sie beschützt, damit sie am Sonntag in der Kirche abgekanzelt werden können. Wenn man nach Laxay kommt, der kleinen Lachsinsel, muß man östlich in eine schlechte Straße einbiegen mit dunklem Wasser auf der einen Seite und Heidehügeln auf der anderen. Auf dieser Straße halten einen die Schafe auf, zottige Herden mit angemalten Hörnern und mit rot, grün oder gelb gefärbtem Steiß, so daß jeder Bauer weiß, welche seine sind, wenn sie nach Hause getrieben werden. Schließlich sieht man einen kleinen Buckel mit zwei Schornsteinen darüber, als wäre dort ein begrabenes Haus. Dieses Haus steht auf der anderen Seite, nach Osten.

Auf den ersten Blick wirkt es verlassen. Es ist aus grauem Stein gebaut, mit spitzen Giebeln und schmalen Dachfenstern, und eine hohe Felsenmauer schützt es vor den Seewinden. Davor erstreckt sich ein dunkler Kieselstrand, der mit Seetang bedeckt ist, und hinter dem Strand ist graues Wasser und das baumlose Vorgebirge der Südküste. Aber sobald man hinter der Mauer ist, ändert sich das Bild. Dort ist ein Garten, wie man ihn in Kent oder Surrey finden könnte, mit Rhododendren, Azaleen, Tulpen, Dahlien und ein paar Gemüsebeeten. Hannah begrüßt einen an der Tür. Sie ist klein, flink, und ihr Alter läßt sich schwer bestimmen. Ihre schwarzen Zigeuneraugen lächeln winterlich und zwinkern sommerlich. Eine klobige Magd nimmt einem den Koffer ab und führt einen in ein Schlafzimmer oben, das warm ist wie frisch gerösteter Toast und in dem es nach Bohnerwachs und Blumen riecht. Auf dem Tisch liegt eine Bibel, und für den Nicht-Frommen gibt es ein Regal mit Büchern. Wenn man sich den Staub der Straße abgewaschen hat, wird man in ein großes eichengetäfeltes Zimmer unten geführt, mit vielen Büchern und alten Drucken, und vom Herrn des Hauses im Kilt empfangen. Er begrüßt einen mit dem Gruß der Inseln: »Zeud Mile Failte« (Hunderttausendmal willkommen), reicht einem ein Glas Malzwhisky, bittet einen, neben dem Torffeuer Platz zu nehmen, und setzt einem dann auseinander, was er ›die Hierarchie des Hauses‹ nennt.

»Erstens bin ich da. Jeden Freitag jeder Woche ziehe ich das Geld ein. Ich höre mir Beschwerden an, wenn ich auch nichts dagegen tue. Ich bin eine Fundgrube meistens nicht ganz stimmender Heimatgeschichte. Wenn ich nicht fische oder schlafe oder meine Memoiren schreibe, die nie jemand veröffentlichen wird, stehe ich für geistlichen oder weltlichen Rat zur Verfügung. Wenn Sie jemanden sehen möchten, werde ich versuchen, das zu arrangieren. Wenn Sie jemandem aus dem Wege gehen möchten, werde ich alles für Sie tun, nur nicht lügen, obwohl ich es zugunsten eines zahlenden Gastes mit der Wahrheit nicht ganz genau nehmen könnte. Dann ist da Hannah. Sie schwört, sie sei zehn Jahre jünger, als auf ihrem Geburtsschein steht, nach dem sie neunundsechzig ist. Hannah kümmert sich mit zwei Mägden, die Sie kaum interessieren werden, um das Haus und die Küche. Frühstück gibt es um acht, Mittagessen um halb eins und Abendbrot um sieben, und wenn Sie dann nicht da sind, bekommen Sie nichts zu essen – obwohl ich es erlebt habe, daß sie ins Zimmer eines Lieblingsgastes ein Sandwich und eine Flasche Bier gestellt hat. Sie hat I auch das Zweite Gesicht, worüber sie aber nicht gern spricht. Doch wenn sie darüber spricht, wäre es klug von Ihnen, zuzuhören. Für das Fischen sind Fergus, der Fischer, und seine Söhne zuständig. Er verkauft Ihnen Ihre Ausrüstung, macht Ihre Angelfliegen und gibt Ihnen umsonst mehr Ratschläge, als Sie brauchen. Wenn er gelegentlich eine Flasche Whisky bekommt, wird das die Ratschläge halbieren und den Fang verdoppeln. Wenn Sie krank werden oder sich ein Bein brechen, behandle ich Sie gratis. Solange Sie wohlauf sind, spendieren Sie mir jeden Abend vor dem Essen einen Whisky, und wenn da irgend etwas ist, das Ihnen nicht gefällt, dann sagen Sie es mir jetzt gleich, denn morgen wird es zu spät sein.«

»Wie lange kann ich bleiben?«

»Solange es Ihnen beliebt.«

»Kann ich mir Gäste einladen?«

»Wenn ich sie mag, ja; wenn nicht, fahren Sie mit ihnen nach Stornoway oder Tarbert. Das Leben ist so kurz, daß man sich nicht mit langweiligen Menschen abgeben sollte.«

»Aber vielleicht bin ich selber so einer?«

»Wenn Sie es sind, werde ich es Ihnen sagen. Dabei fällt mir ein, morgen abend kommt eine gewisse Kathleen McNeil zum Essen – eine Schönheit wie ihre Mutter, die ich einmal heiraten wollte. Sie kennen Sie, glaube ich.«

»Wir sind uns begegnet. Die Welt ist klein, nicht wahr?«

»Auf Lewis ist sie noch kleiner, mein Lieber. Es hat sich auch ein gewisser Duggie Donald von Ihrer Majestät Zoll und Akzise nach Ihnen erkundigt.«

»So etwas!«

»Sie brauchen sich keine Gedanken deswegen zu machen. Ich habe Sie als einen viel besseren Menschen geschildert, als Sie es sind, und darum sind Sie ganz sicher – solange Sie auf Ihren Umgang achten.«

»Meinen Sie Ruarri Matheson?«

»Ich meine, Sie sind ein Fremder, der manches erst lernen muß, weiter nichts.«

»Was zum Beispiel?«

»Sie müssen leise treten, leise sprechen und immer etwas weniger sagen, als Sie wissen.«

»Und was müßte ich über Red Ruarri wissen?«

»Nichts, das nicht bis zum Käse und Kaffee warten kann. Aber jetzt kommen Sie, sonst wird das Essen kalt, und wir werden von Hannah gescholten.«

Das Essen war herrlich und wurde von Hannah selbst feierlich serviert. Es gab Graupensuppe und Lachs aus dem Loch und Lammlende mit dazu passendem Burgunder, Himbeertorte mit Sahne und eine Käseplatte, falls man noch Hunger haben sollte. Es war auch genug Zeit, es zu genießen, ebenso wie das Gespräch mit einem glücklichen Menschen.

»Das Haus hat meinem Vater gehört, der wie ich Arzt war, aber kaum gereist ist, sondern sein ganzes Leben auf Lewis verbracht hat. Er arbeitete am Hospital in Stornoway und starb dort eines Morgens bei einer seiner Visiten, was für so einen Mann eine schöne Art des Davongehens ist. Das Land ist unfruchtbar, wie Sie sehen – nur gut für Schafe und das Stechen von Torf, aber hier sind die besten Fischgründe der Inseln. Das gute Land liegt im Westen, wo sich der Sand im Laufe der Jahrhunderte aufgetürmt hat; das Gras, das dort wächst, ist süß. Man kann dort Vieh züchten und Heu, Klee und Gemüse ernten. Im Winter ist es kalt und stürmisch, aber in den anderen Jahreszeiten ist der Regen weich und die Luft warm vom Golfstrom . . . Und die Menschen? Man lernt sie nur schwer kennen, weil sie sich hinter dem Gälischen verstecken, und sie leben abgeschlossener in ihrem Clan, als man sich’s vorstellen kann. Man braucht auf den Inseln nie ein Auto oder ein Haus abzuschließen, aber man muß am Sonntag Rücksicht nehmen, denn sie sind alle Sabbatarier, und in ihren Augen ist es ungehörig, zu fischen oder zu fahren, während anständige Menschen in ihrem Sonntagsstaat in die Kirche gehen . . . Sie sind religiös und haben einen Hang zur Mystik, wenn auch ein Begräbnis Sie entsetzen wird, denn sie machen vom Tod nicht viel her; und ehe es die Pille gab und manchmal auch danach war ein Mädchen bei der Hochzeit oft schon schwanger. Der Wissensstandard ist verhältnismäßig hoch, weil sie vor Wissen Respekt haben und weil Lernen die einzige Möglichkeit ist, eine Stellung auf dem Festland zu finden, wenn’s einen dorthin lockt. Gewalttaten? Nein. Man ist hier geborgen, ob jung oder alt . . . Aber da ist auch etwas Trauriges: das langsame Sterben einer ganzen keltischen Kultur. Es begann in Cullodon und ging während der Säuberung weiter, aber jetzt gibt es andere Henker: Fernsehen und Radio und Tourismus und die brutalen ökonomischen Verhältnisse des 20. Jahrhunderts. Die kleine Sprache muß schließlich sterben, das kleine Volk muß untergehen oder mehr und mehr zu einer sterilen Enklave zusammenschrumpfen. Im Grunde ist das wohl nicht schlimm. Der Mensch muß sich anpassen, oder er wird ausgelöscht wie die Dinosaurier. Doch es ist trotzdem traurig, denn niemand ist groß genug, um die Kelten um sich zu scharen und ihnen eine Identität wiederzugeben; außerdem ist es sowieso schon zu spät dafür.«

Das brachte uns wieder auf Red Ruarri und seine phantastischen Träume. Ich erzählte Morrison von dem Tag, da ich mit ihm gesegelt war und der so ärgerlich geendet, und von dem Geschenk, das er mir gemacht hatte. Morrison war ein guter Zuhörer, mit Ohren, denen nichts entging, und Augen, die einen durchschauten. Er ließ mich ausreden und erklärte dann:

»Ich habe Ihnen schon gesagt, auf Lewis ist die Welt klein, mein Lieber. Ich werde Ihnen beweisen, wie klein sie ist. Ruarri Matheson wurde in diesem Haus geboren, in eben dem Zimmer, das Sie jetzt bewohnen. Es war Januar, stürmisches Wetter und so viel Schnee, wie ihn die Inseln seit zehn Jahren nicht erlebt hatten. Anne Matheson war hier in Stellung, mein Vater hatte sie hergeholt, als ihre Eltern sie aus Gisla hinauswarfen, nachdem sie entdeckt hatten, daß sie schwanger und niemand da war, der sie heiraten wollte. Sie ist jetzt tot, die arme Frau; als junges Mädchen war sie eine Schönheit, und das machte alles noch schwerer für sie und später für den Jungen. Außerdem war die Kirche damals sehr streng – was sie übrigens noch immer ist, wenn sie auch etwas milder geworden ist –, und in einem so kleinen Ort vergißt man es nicht, daß ein Kind keinen Vater hat.«

»Wer war der Vater?«

»Das hat sie nie verraten.«

»Tapfere Frau.«

»Ach, sie war zäh, genauso wie Ruarri. Er wuchs wild auf, wie es nicht anders sein konnte, da er nun einmal ein uneheliches Kind war. Als die alten Eltern starben, fiel der Hof in Gisla an seine Mutter, und er arbeitete dort mit ihr bis zu ihrem Tode. Dann verkaufte er ihn und ging fort. Von den nächsten zehn Jahren weiß niemand etwas außer dem, was er davon zu erzählen bereit war, und das ist nicht viel. Und er hat eine schillernde Phantasie und lügt das Blaue vom Himmel, wenn er will. Vor drei Jahren kam er mit einem großen Bankkonto zurück. Er kaufte Land drüben im Westen bei Carloway, nahm einen Kredit auf für einen Fischdampfer, den er innerhalb eines Jahres zurückzahlte, und sammelte eine kleine Schar trinkfester und leidenschaftlicher Kartenspieler um sich, die man die Buannas des Roten Ruarri nennt, wie einst die Leibwache des Herrn der Insel hieß. Sie müssen hart arbeiten, werden aber gut bezahlt, und zwischendurch macht er mit ihnen die Insel unsicher.«

»Und warum das Interesse von Ihrer Majestät Zoll und Akzise?«

»Das weiß ich auch nicht; Duggie Donalds ist keine Plaudertasche. Aber Ruarri Matheson läßt sich einen Profit nicht so leicht entgehen, ob es gesetzlich oder ungesetzlich ist.«

»Er hat mich in sein Haus eingeladen.«

»Ich würde hingehen. Sie können ihn auch herkommen lassen, wenn Sie wollen. Er ist ein unterhaltsamer Bursche – nur lassen Sie sich nicht von ihm zu Torheiten verleiten! Wenn Sie jetzt gern einen kleinen Spaziergang machen würden, werde ich Sie wegen des Fischens mit Fergus William McCue bekannt machen.«

Für den Augenblick war das Thema abgeschlossen; aber ich hatte den Eindruck, daß Alastair Morrison weniger erzählt hatte, als er wußte; wenn ich mehr erfahren wollte, mußte ich es wohl selber herausbekommen.

Wenn man schnell ging, waren es zehn Minuten bis zu Fergus William McCues Haus, dem Fischereiaufseher und Faktotum bei den Morrisons. Wir hörten ihn, ehe wir ihn sahen: eine hohe, nasale Altmännerstimme, die ein Lied sang, das »Thoir a’ Nall am Botul«, das Lied der Flasche. Die ganze Zeit, die ich auf den Hebriden war, habe ich ihn nie ein anderes singen hören, und ich bin überzeugt, es war das einzige, das er kannte. Er war ein typischer schwarzhaariger Kelte, klein wie ein Jockei, furchtlos und behende wie ein Kampfhahn, mit einem künstlichen Gebiß, das jedesmal klapperte, wenn er sprach. Gott allein weiß, wie alt er war oder ist, denn nur ein Blitz hätte ihn töten können. Er saß auf einer Holzbank vor dem Hause, eine flache Mütze auf dem Kopf, den Kragen seiner Tweedjacke bis zu den Ohren hochgeschlagen, und war dabei, Lachsfliegen zu machen. Als Alastair mich vorstellte, blickte er mich von oben bis unten an, schätzte mich ab und setzte eine verächtliche Miene auf. »Ach, der Truaghan! Der arme Kerl. Jeder kann sehen, er wird es nicht schaffen. Er hat nicht die Hände. Er hat nicht das Auge. Darum werde ich die ganze Arbeit tun – für einen kärglichen Anteil am Fang.«

»Aber Sie werden’s mit ihm versuchen, Fergus?«

»Ach, Gott helfe mir, ich werde es versuchen. Aber warum bringen Sie sie mir, Mr. Morrison? Warum?«

»Weil Sie das Geld brauchen, darum. Und ich auch.«

»Ja, wir brauchen’s. Wir brauchen’s wirklich.«

Er musterte mich mit wäßrigen, nichts Gutes verheißenden Augen und breitete seine Fliegen auf der Bank aus. »So, und nun wollen wir mal sehen, was Sie in Europa gelernt haben. Nennen Sie mir die verschiedenen Fliegen.«

»Ich kann die eine nicht von der anderen unterscheiden.«

»Wie wollen Sie dann – mögen alle Heiligen Gottes sich unser erbarmen! – fischen? Diese drei hier sind für die Forelle, die schwarze und die bunte Hechelfliege, goldener Würger und Heidemotte, diese hier nennen wir die haarige Marie, und das sind der Professor und der Kutscher, beide haben die richtige Größe für den Lachs. Die da drüben sind für die Meerforelle, Watsons Fliege, Schwarze Mücke und Peter Ross. Haben Sie alles behalten?«

»Nein.«

»Ein langsamer Lerner, Mr. Morrison. Ein langsamer Lerner. Verstehen Sie, eine Angel auszuwerfen?«

»Nein.«

»Was können Sie dann?«

»Nichts. Darum komme ich zu Fergus William McCue, damit er’s mich lehre.«

»Und wieviel Zeit, glauben Sie, habe ich? Ich bin ein alter Mann. Ich könnte tot sein, ehe Sie den ersten Halbpfünder fangen.«

»Wenn Sie sterben, werde ich Sie begraben – mit einer Flasche Glenlivet, damit Sie nicht frieren müssen.«

»Geben Sie zwei – eine für den Kopf und eine für die Füße –, und ich nehme Sie an.«

»Also ich werde Ihr Schüler. Bestimmen Sie die Zeit.«

»Morgens und abends, wenn die Sonne nicht mehr auf das Wasser scheint. Sie bringen das Fahrzeug und ich die Geräte. Kann man sich auf ihn verlassen, Morrison?«

»Eine Woche mindestens, Fergus.«

»Trinkt er?«

»Ich fürchte, ja.«

»Gott sei für kleine Wohltaten bedankt! Also dann morgen um neun. Und bringen Sie auf jeden Fall etwas gegen die Kälte mit. Wünsche Ihnen beiden noch einen guten Tag.«

Ehe wir zehn Schritte entfernt waren, war er bereits wieder mit seinen Ködern beschäftigt und sang das Flaschenlied für die kreisenden Möwen. »Seine Frau ist gestorben, als er noch nicht dreißig war«, sagte Morrison. »Er hat ganz allein zwei kräftige Söhne aufgezogen. Sie sind noch einmal so groß wie er, aber keiner von beiden würde wagen, dem Alten zu widersprechen. Er ist weit über siebzig, geht jedoch noch jeden Tag seine zehn bis zwölf Meilen, und sein Herz und sein Kreislauf sind besser als bei Ihnen oder mir. Wenn Sie sein ewiges Lamentieren und Nörgeln ertragen können, dann wird er Sie alles lehren, was Sie brauchen, um sich im Fliegenfischen auszukennen, und noch eine Menge mehr . . .«

Dessen war ich sicher, aber ich fragte mich, wie ich sein Gezeter in dieser friedlichen, dünn besiedelten Gegend ertragen konnte, wo jeder sich mehr oder weniger nur für sich interessierte, wo man über alles und jedes grübelte und es bis ins kleinste kommentierte. Ich war von Natur ruhelos. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt ein sehr abwechslungsreiches Leben geführt, in beständiger Verbindung mit Menschen aller Rassen, Sprachen und jeder Bildungsstufe. Jetzt war ich gefangen in Monotonie, in einer Kultur isoliert, die so simpel war, daß ich mir nackt und verängstigt vorkam. Ich beneidete jeden Menschen, der seine Tage damit verbringen konnte, Lachse mit Ködern an den Angelhaken zu locken, und seine Abende, indem er hocherfreut von seinem Fang berichtete; ich wußte, ich würde mich nicht immer mit einer so göttlichen Einfachheit zufriedengeben können.

Wir kehrten auf die Straße zurück und folgten ihren Windungen um die hohen Bergvorsprünge herum und dann zu kleinen dunklen Buchten hinunter und wieder hinauf in das Torfland mit seinen Rinnsalen schmutzigen Wassers und seinen dunklen Tümpeln, an deren Rand Schilf und Sumpfblumen wuchsen. Wie er dort dahinschritt, mit wehendem Kilt und vom Wind verwehtem weißem Haar, war Alastair Morrison ganz der alte Angehörige eines Clans, ein sich der Landschaft und ihrer Geschichte harmonisch einfügendes Element. Aber diese Harmonie schien so vollkommen, daß man sich fragte, wie es wohl um sein Innenleben bestellt war. Ich hätte ihn nicht für einen Mönch gehalten, obwohl er bestimmt lange wie einer gelebt hatte. Ich hatte ihn in einem Land kennengelernt, wo ein Mann den verschiedensten sexuellen Neigungen frönen konnte, ohne daß sich jemand darüber empörte. Trotzdem stand er im Ruf, sehr mäßig zu sein. Ich hätte gern gewußt, wo er seine Leidenschaft ausgetobt und womit er sich seine jetzige Zufriedenheit erkämpft hatte. Ich fragte ihn:

»Fühlen Sie sich nach dem Leben, das Sie früher geführt haben, hier nie einsam?«

»Manchmal, mein Lieber. Manchmal. Aber wenn ich es mir genau überlege, war es, glaube ich, klug, zu den Inseln zurückzukehren.«

»Was hat Sie dazu bestimmt?«

»Nichts Dramatisches. Mir war wohl klar, daß ein Augenblick kommt, da es für jeden Menschen zu spät ist, nach Hause zurückzukehren.«

»Waren Sie nie verheiratet?«

»Nein. Vor langer Zeit war ich einmal verliebt, aber das ging schief, und ich hatte nicht den Mut, mich aufs neue zu verlieben. Ich liebte die Arbeit, die ich tat. Sie war ein Ersatz, obwohl sie mich nie ganz ausfüllte. Trotzdem habe ich im großen und ganzen ein glückliches Leben geführt, zumal in den späteren Jahren.«

»Sehnen Sie sich manchmal nach dem Osten?«

»Ja. Mehr, als ich vermutet hatte. Ich träume oft von ihm. Von den Wats mit der Sonne auf ihren Türmen und den Dämonen und ihren Brustschilden aus Glas und Porzellan, die nach den Regenschauern glänzen; von den mit Obst gefüllten Booten auf den Klongs und den beim Fest der Lichter den Fluß hinunterschwimmenden Spirituslampen; vom Lotos in den Dschungelteichen und dem roten Mohn auf den Berghängen. Manchmal wache ich auf und glaube, die Tempeltrommeln und den Gesang der Mönche zu hören und die kleinen schönen Frauen, die auf dem Markt wie Vögel zwitschern.«

»Das ist so ganz anders als hier.«

»Nicht so sehr, wie Sie glauben.« Sein Gesicht erhellte sich von einem faunischen Grinsen, das ihn zwanzig Jahre jünger erscheinen ließ. »Nur wenige Menschen wollen sich heute daran erinnern, aber diese Insel wurde 1844 den McKenzies für 190 000 Pfund Sterling abgekauft – alles Opiumgeld, das Sir James Matheson an der chinesischen Küste verdient hatte. Es war der gleiche Matheson, der das Schloß Stornoway erbaut hat – aus dem gelben Lehm Asiens. Was sagt Ihnen das?«

»Daß die Zeit aus Schurken Heilige macht. Und man soll nie dem Blabla der Reisebüros glauben – oder dem von Leuten, die zahlende Gäste bei sich aufnehmen.«

»Da haben Sie recht, ich bin der erste, der das zugibt. Gewiß, da ist noch die andere Seite des Lebens auf den Inseln. Wir sind eine in sich geschlossene und ein wenig blutschänderische Gruppe. Es gibt hier Fehden, die zwanzig Jahre gedauert haben. Es gibt Aberglauben und Trunkenheit und häusliche Tyrannei und einige sehr merkwürdige Arten von Unzucht.«

»Und jetzt ist ein neuer Matheson im Kommen.«

»Ruarri?«

»Ja, genau. Wo, glauben Sie, wird er enden?«

»Im Reichtum oder im Gefängnis. Das eine ist genausogut möglich wie das andere. Sie mögen ihn, nicht wahr?«

»Ja. Obwohl ich mir vorstellen kann, daß wir uns in die Haare kriegten, wenn wir zu lange zusammen wären.«

»Dann könnten Sie ihm vielleicht einen Dienst erweisen. Sie sind ein weitgereister Mann. Sie haben Dinge getan, die er respektiert. Er ist ein merkwürdiger Kerl, aus dem man nicht leicht klug wird. Er hat eine Geste gemacht, die bedeutet, daß er Ihr Freund werden möchte.«

»An was für einen Dienst denken Sie?«

»Ihn dazu zu bringen, wieder gesetztreu zu werden. Er hat zu lange außerhalb der Gesetze gelebt, und die Lust an der Mißachtung des Gesetzes ist verlockend und gefährlich für ihn.«

»Von einem Außenseiter ist das ein bißchen viel verlangt.«

»Ich würde es sogar vom Teufel verlangen, wenn ich glaubte, daß es etwas nützen würde.«

»Ich könnte das nie und nimmer, Alastair. Ich würde zuviel riskieren, und ich weiß zuwenig, um die richtigen Worte zu finden.«

»Dann werde ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen, mein Lieber. Aber Sie müssen darüber schweigen, müssen mir das als Freund versprechen.«

»Es wäre mir lieber, Sie erzählten sie mir nicht. Ich bin hergekommen, um frei zu sein. Ich kann neue Lasten nicht tragen.«

»Dann werde ich Sie bitten. Ich werde Sie bitten im Namen des Gottes, an den Sie glauben, welcher es auch sein mag. Ruarri Matheson ist mein Sohn – und niemand in der Welt weiß das, außer Ihnen und mir.«

In diesem Augenblick glaubte ich wirklich Alastair Morrison zu hassen.

Er hatte mich die zweitausend Meilen hierher gelockt mit dem Versprechen, daß ich mich hier ausruhen und genesen könnte. Jetzt zog er mich in eine häusliche Tragödie hinein, mit der ich nichts zu tun haben wollte. Ich hatte ihm so sehr vertraut, seiner olympischen Ruhe und seiner pfiffigen Heiterkeit, daß mir sein plötzliches Sichdemütigen wie ein Verrat vorkam. Meine Wut war um so größer, weil ich mich meiner schämte und der Schwäche, die mich gezwungen hatte, von ihm abhängig zu werden. Ich schämte mich, daß ich mich so bedenklich leicht anderen anschloß, was als Höflichkeit gilt, aber manchmal nur auf persönliche oder berufliche Neugier zurückgeht. Ich bin ein williger Zuhörer und werde dadurch allzu oft zu einer Klagemauer für Verzweifelte oder Exzentriker. Und gerade jetzt wollte ich keine Tränen sehen, weder bei einem Mann noch bei einer Frau. Ich hatte den Jammer der Welt und meinen eigenen satt. Ich wollte lernen, wieder zu lachen und mich zu verlieben, wollte mich nicht mehr um das Gestern oder Morgen scheren; und doch konnte ich nicht die rechten Worte finden, um das alles auszudrücken. Ich konnte nur die eine nicht gerade freundliche Frage stellen:

»Um Himmels willen, Mensch! Warum jetzt? Warum ich?«

Er wollte oder konnte mich nicht anblicken. Er stand mit abgewandtem Gesicht da, ein verwitterter Riese auf einer hohen Felsenspitze, der über das Loch hinwegblickte.

»Ich weiß nicht, warum gerade jetzt, mein Lieber. Warum birst ein Damm plötzlich, wenn er ein Jahrhundert gehalten hat? Warum stürzt ein Baum um oder fällt ein Vogel vom Himmel? Warum Sie? Das ist leichter: weil Sie Ruarris Geschenk angenommen und damit gesagt haben, daß Sie zur Freundschaft bereit seien. Weil Sie auf etwas, das Sie in ihm entdeckt haben, reagieren, wie ich nie reagieren könnte, all der vergangenen schweigenden Jahre wegen. Es schien mir eine Chance, und ich ergriff sie. Wenn es ein Fehler war, dann tut es mir leid.«

»Es war ein Fehler, und ich würde lügen, wenn ich sagte, es sei keiner. Ich will Ihnen nichts versprechen, außer, daß ich das Geheimnis bewahren werde. Ich will kein Missionar sein – doch wenn sich die Möglichkeit ergibt, das richtige Wort zu sagen, werde ich versuchen, es zu tun. Aber nicht einmal das kann ich, wenn Sie mich weiter so mit Überraschungen überfallen. Vergessen Sie nicht, daß ich ein Fremder bin! Dieses Keltische ist für mich etwas ganz Neues.«

»Wenn Sie keine Überraschungen wollen, dann ist es besser, Sie hören sich den Rest der Geschichte an. Danach werden wir nie mehr darüber sprechen.«

»Nun, dann erzählen Sie!«

Als wir durch das Torfland heimwärts gingen, nur mit den angemalten Schafen und den Nebelkrähen als Begleiter, erzählte er mir den Rest der Geschichte. Es war eine bittere, seltsam altmodische Geschichte aus dem Anfang der dreißiger Jahre, als der Schatten der großen Depression über dem Land hing, als die Kluft zwischen den Klassen ein Abgrund war, den nur ein besonders mutiger oder törichter Mensch überspringen konnte. Die Dorfleute, die kleinen Bauern bildeten eine Welt, die Leute im Herrenhaus, im Pfarrhaus, im Schloß eine andere. Alastair Morrison, der Medizin studierte, kam in den Semesterferien aus Edinburgh nach Hause und wollte in London sein Studium fortsetzen und Arzt wie sein Vater werden. Er trieb sich auf der Insel herum, wie jeder junge Mann es tat, um zu fischen und zu jagen und hinterher zu trinken und zu tanzen. Außerhalb seiner Welt war Anne Matheson seine Gespielin. Als er wieder einen Monat in Edinburgh war, schrieb sie ihm, sie sei schwanger. Eine Heirat kam nicht in Frage. Abtreibung war ein Verbrechen, an das man auf Lewis nicht einmal im Traum dachte. Darum wurde die Sache in der Art der Zeit geregelt. Man gab Geld, Abmachungen wurden getroffen und den Beteiligten eingeschärft, strengstes Stillschweigen zu bewahren. Alastair Morrison konnte ungestört weiterstudieren und im übrigen sehen, wie er mit seinen Schuldgefühlen fertig wurde. Das ihnen auferlegte Schweigen wurde zu einer Gewohnheit, und der Preis, den sie zahlen mußten, wenn sie es brachen, war für sie alle zu hoch.

»Aber die Wahrheit läßt sich nicht töten. Sie liegt dort, begraben, doch auf den Tag eines besonderen Gerichts wartend, und für mich ist er jetzt, glaube ich, gekommen. Ruarri habe ich für immer verloren. Es wäre mir ein lieber Gedanke, wenn er gerettet werden könnte. Ich habe Ihnen eine Last aufgeladen, ich weiß, aber mir ist etwas wohler zumute, nachdem ich Ihnen das alles erzählt habe. Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen.«

Ich kam mir erbärmlich vor, denn er hatte in seinem Leben soviel mehr getan, als ich in meinem, und alle Vergehen wiedergutgemacht. Als wir das Haus erreichten, waren wir wieder Freunde, obwohl ich wußte, daß ich nie wieder so frei sein würde wie an dem Tage, da ich durchs Glen Shield fuhr und zum erstenmal das Wunder der Berge ohne Menschen sah.

Selbst das Haus war für mich anders geworden. Von dem Augenblick an, da ich den Garten wieder betrat, schienen die Mauern mich zu umschließen wie die Arme eines ungeliebten Liebhabers, der von der Geliebten verlangt, daß sie sich ihm hingibt und ihm ganz gehört. Auch die alte Hannah schien mich mit anderen Augen anzusehen. Sie bemutterte mich wie eine Henne ihr Küken. Die Kissen mußten aufgeschüttelt werden, ehe ich mich auf sie setzte. Das Feuer mußte geschürt werden, damit ich mich nicht erkältete. Die süßen Brötchen waren frisch gebacken, und die Sahne war frisch geschlagen, nur für mich, und sie betete, daß der Tee meinem besonderen Geschmack entspräche. Sie konnte uns nicht verlassen, ohne daß sie mich auf die Schulter klopfte und etwas auf gälisch zu Morrison sagte.

Als ich ihn fragte, was sie gesagt habe, zögerte er, zuckte die Schultern und antwortete: »Der Einfall einer alten Frau. Es ist ein hiesiges Sprichwort: ›Ná m b’e an diugh an dé . . .‹: ›Ich wünschte, heute wäre gestern und es wären Söhne im Hause.‹«

Am nächsten Tage ging ich fischen. Aber das ist viel leichter gesagt als getan. Es ist schwer und schrecklich wie alles am Anfang, auch das ›Fiat lux‹ oder ›Am siebten Tage ruhte Gott aus‹. Es gibt sogar eine ganze Sekte von Männern auf den Inseln, die behaupten, christlich zu sein, nur weil zu den alten Überlieferungen das Bild eines Fisches gehört, die aber genauso bereitwillig vor Dagon, dem Fischgott der Babylonier, oder vor Orpheus niederknien würden, weil er nicht nur Sänger und Saitenspieler, sondern auch Fischer war.

Sie sind alle Fanatiker, wenn auch auf eine stille, monomanische Weise, die den Umgang mit ihnen angenehm macht. Einige von ihnen sind so sehr Mystiker geworden, daß sie Tage und Wochen ohne Frauen und mit sehr wenig Essen oder Trinken auskommen. Sie verrichten ihre Andacht immer an einsamen Orten: an dunklen Teichen und Gebirgsflüssen und versteckten Meeresarmen. Sie wachen eifersüchtig über diese privaten Heiligtümer und können gegen Eindringlinge unangenehm werden. Sie messen das Seelenheil am Pfund und die Verdienste eines Mannes an seiner Fähigkeit, mit einem Fisch zu kämpfen. Man erkennt sie an ihren geduldigen roten Gesichtern, an ihren in die Ferne blickenden Augen und den bunten Ködern, die sie am Hut stecken haben. Sie haben eine Schweige- und Geheimhaltungsdisziplin. Sie erziehen ihre Anhänger mit ständiger Ermahnung und häufiger Demütigung. Sie würden lieber zum Märtyrer werden als ein Sperrnetz benutzen, und einige von ihnen sehnen sich nach der alten Zeit zurück, als ein Wilderer legal mit einer Legebüchse erschossen oder in die Kolonien verbannt werden konnte, wenn er eine Forelle aus einem Gewässer stahl, das einem anderen gehörte.

Fergus William McCue war Mitglied dieser Sekte und hatte ihre höchsten Weihen empfangen. Er war eine Genie der Angelrute und ein Tyrann seinen Novizen gegenüber, von denen ich, wie er mir oft sagte, der täppischste und unwürdigste war. Wenn ich in einer Saison einen winzigen Fisch finge, wäre das ein Wunder, für das ich auf die Knie fallen und dem lieben Gott danken müßte.

Er ließ sich von mir fünf Meilen weit ins Land fahren, ging dann mit mir eine weitere Meile durch das Torfland zu einem verschwiegenen Lochan, wo niemand Zeuge der Torheiten sein würde, die ich beging. Er nahm einen großen Schluck Whisky, um der schweren Prüfung, die seiner harrte, gewachsen zu sein, und hielt mir dann einen halbstündigen Vortrag über die Angelrute und die Rolle und beider Teile, über Angelschnüre und Angelhaken der verschiedensten Art, erging sich über Naß- und Trockenfliegen, über das Auswerfen der Schnur oder wie man sie auf dem Wasser hin und her bewegen mußte, über ›Fischen auf dem Wasserspiegel‹ oder unter ihm. Als er dann fand, ich sei genügend verwirrt, gab er mir eine Angel in die Hand und befahl mir, die Schnur auszuwerfen. Die Katastrophe ließ nicht auf sich warten. Die Schnur schwebte wie Marienfäden dahin und verfing sich im Schilf. Fergus William McCue schüttelte traurig den Kopf, nahm noch einen kräftigen Schluck Whisky, um sich neu zu stärken, und kanzelte mich dann mächtig ab. Ich hatte doch Hände oder nicht? Ich war doch keiner dieser verdammten Roboter, die sich nur ruckweise bewegen und ein Uhrwerk im Bauch haben. Würde ich es jetzt noch einmal versuchen und etwas Respekt vor dem Fisch haben, der ein intelligentes Geschöpf sei und einen intelligenten Angler achte? Ich versuchte es immer wieder, wobei Fergus jammernd und klagend hinter mir stand, bis es mir gelang, die Schnur einigermaßen anständig auszuwerfen; aber kein Fisch biß an, und die Whiskyflasche wurde immer leerer. Schließlich ergriff der Meister selber die Angel, und binnen fünfzehn Minuten hatte er zwei braune Schönheiten gefangen, die beide fast ein Pfund wogen. So gedemütigt war ich für einen weiteren Vortrag bereit. »Es ist ein Geduldspiel, mein Lieber, wie Sie gerade gesehen haben. Wie das Malen eines Bildes oder wie wenn man einen Engel aus einem Stück Marmor meißelt. Es ist die Kunst der Hände, aber auch des Geistes, weil man wissen muß, was ein Fisch tun wird, während man sich anstrengt, ihn zu fangen; und selbst wenn man ihn am Haken hat, muß man wissen, wie weit er davon-schwimmt und wann man beginnen kann, ihn an Land zu ziehen. Die Knickfestigkeit der Schnur beträgt nur vier Pfund, und das ist bei einem großen Fisch mit einem Haken im Maul, der davonschwimmt, nicht viel. Da ist keine Zeit für Philosophieren oder im Kopf Gedichte machen oder von den Mädchen träumen, die man nie geküßt hat. Würden Sie’s jetzt noch mal versuchen, ehe die Sonne das ganze Wasser bescheint?« Ich tat es, und das erste kleine Wunder geschah. Einer biß an, und ich war so aufgeregt, daß ich vergaß, die Rolle zu ergreifen, so daß die Schnur beim ersten Versuch des Fisches, auszureißen, riß und ich Fisch, Fliege und Schnur zugleich verlor. Fergus William McCue überließ sich einer biblischen Verzweiflung. Wenn Inseltweed sich zerreißen ließe, hätte er seinen Anzug zerrissen. Hätten wir ein Feuer gehabt, hätte er Asche auf sein und mein Haupt gestreut. Nichts konnte ihn beruhigen, als ein großer Schluck Whisky. Mir gab er, wenn auch ungern, nur einen kleinen, der meine Hand daran hindern sollte, zu zittern, und vielleicht den Nebel aus dem verwirrten Gehirn eines Engländers vertreiben würde. Ob es der Whisky war oder eine aus Verzweiflung geborene Tollkühnheit, kann ich nicht sagen, jedenfalls hatte ich das nächste Mal Glück. Ein Fisch hing am Haken, ich ließ ihn sich müde zappeln und zog ihn schließlich an Land. Es war ein bescheidener Halbpfünder, der neben Fergus’ Fang winzig wirkte, aber ich war so stolz auf ihn, als wäre er der berühmte Weiße Wal. Selbst Fergus’ mürrisches Lob war Musik für meine Ohren:

»Gar nicht so schlecht – das heißt für den Anfang. Wäre er größer gewesen, hätten Sie ihn nie und nimmer festhalten können. Sie haben eine Hand wie ein Ackerknecht. Nicht ein bißchen Gefühl darin. Doch wenn Sie sich genug Zeit nehmen und genug Geduld haben, kann man immerhin ein klein wenig hoffen.«

»Sie sind hart, Fergus.«

»Ja, bin ich. Wie sollte ich sonst mit all den Idioten fertig werden, die in einer Saison zu mir kommen? Sie sind schon schlimm genug, aber Gott bewahre mich, es gibt noch viel Schlimmere. Im vorigen Jahr – können Sie sich das vorstellen? – hatte ich eine Frau, die mir Morrison persönlich zugeführt hatte! Sie war ein Trumm mit einer Kruppe wie ein Ackergaul und einem Lachen, das selbst die Nebelkrähen erschreckte. Sie sehne sich danach, einen Lachs zu fangen, sagte sie; aber es war ein Mann, den sie fangen wollte: Alastair Morrison. Nach einer Woche reichte ich sie Morrison zurück und sagte ihm, er könne sie heiraten oder erschlagen, aber sie würde nie im Leben eine Anglerin werden. Der arme Kerl verlor einen Gast, doch er hätte mich verloren, wenn sie geblieben wäre. Da können Sie sehen, womit ich mich abplagen muß.«

Er wurde vom Whisky redselig, und ich war so glücklich, daß ich ihn nicht unterbrach. Streit hing mir so zum Halse heraus, Kontroversen und Geschwafel waren mir so zuwider, daß seine Schlichtheit und seine unschuldige Bosheit eine Erquickung waren. Ich lernte eine der Urkünste des Überlebens und fühlte mich durch diese Erfahrung erhoben. Es war gut, wieder ein Schüler zu sein, gut, unwissend zu sein, gut, auf die kleinste Leistung aus zu sein. Es war, wie wenn man nach reichlichem Weingenuß aus einer Quelle trinkt, wie wenn man einen Apfel ißt, den man gerade gepflückt hat. Ich bedauerte plötzlich, wieviel mir in meinem Leben entgangen war. Aber ich war immer noch neugierig, hatte immer noch die Gewohnheit, ausgefallene Fragen zu stellen; als ich darum das Wasser nach einem weiteren Fisch absuchte, suchte ich auch bei dem alten Fergus nach Hinweisen und Schlüsseln für das geheime Leben der Insel.

»Wie ist das mit den Morrisons, Fergus? Ist das ein alter Name hier?«

»Ja, alt und geachtet – obwohl sie nicht immer so respektabel waren, wie sie’s jetzt sind. Lange Zeit waren die Morrisons Brieves auf Lewis, und wenn Sie nicht wissen, was ein Brieve ist, dann werde ich es Ihnen sagen. Er war auf seinem Territorium Richter über Leben und Tod. Der Sohn folgte dem Vater, und jeder schwor, seine Rechtsprechung würde so klar und gerade sein wie die Gräten des Herings auf jeder Seite des Rückgrats. Nicht, daß sie den Eid immer gehalten hätten, denn da waren zum Beispiel Hucheon Morrison, der der Frau des Macleod von Lewis ein Kind zeugte, und die Brüder Allan und Neil, deren Köpfe in einem Sack nach Edinburgh gebracht wurden. Da waren John, der Barde, und Roderick, der Harfenspieler, und ein unehelicher Sohn, der der Brandstifter genannt wurde, weil er die Gewohnheit hatte, anderer Leute Heuschober anzustecken. In dem Clan gab es eine ganze Menge Pfarrer und auch ein paar sehr gute Ärzte wie Hugh, der der Vater von diesem Morrison war. Aber so wie es jetzt aussieht, werden die Ärzte in der Familie aussterben – es sei denn, daß Alastair doch noch eine Familie gründet, was ich freilich bezweifle.«

»Ich hätte geglaubt, viele Frauen seien ihm nachgelaufen.«

»Das stimmt. Und er hat ein Auge für hübsche Mädchen. Das hatte er wenigstens, ehe er fromm wurde und auszog zu den Heiden. Aber er ist noch immer frei. So, wie Sie die Angel halten, werden Sie nichts fangen. Versuchen Sie’s noch einmal unmittelbar am Rand des Schattens . . . Und Sie, sind Sie verheiratet?«

»Im Augenblick nicht. Ich war es.«

»Wollen Sie sich wieder verheiraten?«

»Auf dieser Reise nicht, Fergus.«

»Aber Sie hätten nichts dagegen, wenn ein gut aussehendes Mädchen zufällig des Wegs käme?«

»Denken Sie an ein bestimmtes?«

»Nicht für Sie, mein Lieber. Ich habe selber zwei Söhne, die ich verheiraten muß, denn die treiben sich ein bißchen zuviel auf den heimischen Weiden herum. Die alte Hannah ist diejenige, an die Sie sich wenden müssen, wenn Sie eine Liste der noch Verfügbaren haben wollen. Sie kennt sie alle, weiß, ob sie aus einem guten Stall kommen, ob sie kochen und den Haushalt führen können und wie hoch ihre Mitgift ungefähr sein wird. Sprechen Sie erst mal mit ihr, ehe Sie auf Brautschau gehen.«

»Man hat mir gesagt, sie habe das Zweite Gesicht. Benutzt sie diese Gabe auch zum Ehestiften?«

»Ja, sie hat es, sie hat es wirklich. Sie wußte schon ein Jahr vorher, daß meine Frau sterben würde. Sie hat die Heimkehr Alastair Morrisons vorausgesagt, ehe er selber davon wußte. Und was das Ehestiften betrifft, würde sie Sie warnen, wenn sie Sie mag; wenn aber nicht, dann . . .«

Den Rest des Satzes hörte ich nicht, denn in dem Augenblick biß ein Fisch an. Fergus stand sofort auf, tanzte um mich herum, brüllte Anweisungen auf schottisch und gälisch. Wenn mir dieser wieder entwischte, würde er mir das nie verzeihen. Ich würde es mir auch nie verzeihen. Zum Teufel mit dem Zweiten Gesicht und all dem keltischen Humbug! Ich hatte einen Fisch, und ich konnte spüren, wie er sich wehrte, und ich sollte verdammt sein, wenn ich ihn verlieren würde. Zweimal war ich nahe daran, denn ich rollte die Schnur zu hastig auf, unterschätzte seine Fixigkeit, aber beide Male hielt die Schnur, und schließlich hatte ich ihn an Land gezogen, anderthalb Pfund, die meine Ehre retteten und auf die wohl jeder stolz gewesen wäre. Ich schrie und lachte und hüpfte wie irre am Rand des Lochan herum. Fergus, der weise Lehrer, fand, wir hätten einen Whisky verdient. Und wir tranken einen und dann noch einen. Wir stießen auf unseren prächtigen Fang an. Und dann tranken wir einen letzten für den Heimweg und marschierten schließlich durch das Torfland, ein mißtönendes Duett ›Thoir a’ Nall am Botul‹ singend.

Als ich in das Haus zurückkam, war ich selig wie ein Schuljunge. Alastair Morrison hatte sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen, und darum ging ich geradewegs in die Küche, um meinen Fang Hannah zu bringen, deren Arme bis zu den Ellbogen mit Mehl bestäubt waren, denn sie rollte gerade Pastetenteig für das Abendbrot aus. Sie war so begeistert, als hätte ich den König der Fische gefangen. Dann ermahnte sie mich mit ihrem Winterlächeln: »Falls Sie jedesmal, wenn Sie mit diesem Halunken McCue angeln gehen, eine halbe Flasche Whisky trinken, werden Sie in einer jämmerlichen Verfassung sein, wenn Sie von hier wegfahren. Sie brauchen jetzt einen kalten Wasserguß und einen Gang durch den Garten, sonst schlafen Sie beim Mittagessen ein.«

»Hannah, Sie dürfen mich nicht schelten. Ich bin heute ein glücklicher Mensch. Ich bin ein Fischer, was ich noch gar nicht wußte.«

»Sie sind alles andere als nüchtern, und Sie sollten sich schämen.«

»Blicken Sie mir in die Augen, Hannah, und sagen Sie mir, ob Sie nicht einen glücklichen Menschen sehen.«

»Das habe ich schon getan. Aber nun hinaus mit Ihnen!«

»Sie haben mir aber noch nicht gesagt, was Sie gesehen haben.«

Es war ein harmloses Hänseln, und ich war töricht genug, es nicht zu lassen. Plötzlich lächelte sie nicht mehr. Ihre dunklen Augen waren umwölkt, ihr Körper versteifte sich, und sie streckte eine Hand aus und berührte vorn meine Jacke. Als sie sprach, klang ihre Stimme seltsam monoton, als ob sie ein mühselig auswendig gelerntes Gedicht rezitiere.

»Es ist hell beim Kommen und dunkel beim Gehen. Leben wird begehrt und verweigert. Da ist Schlaf und Sterben und ein Wiedererwachen.«

Dann verging die Starre so plötzlich, wie sie begonnen hatte. Ihre Hand fiel herunter, und sie schüttelte den Kopf wie ein Schläfer, der plötzlich hellwach wird. Sie blickte mich verlegen an und sagte dann:

»Jetzt aber raus aus meiner Küche! In einer halben Stunde wird gegessen, und ich habe keine Zeit, zu schwatzen.«

Das Seltsame war, daß mich das nicht beunruhigte. Ich nahm das Phänomen hin, als wäre es das Normalste von der Welt. Warum? Ich weiß es wirklich nicht. Ich hatte getrunken, aber ich war keineswegs betrunken. Ich wußte, meine eigenen Vorfahren hatten das Zweite Gesicht gehabt. Ich kannte den alten Rat: die es hatten, sollten nie heiraten, damit sie die Gabe nicht vererbten und alles Traurige, das damit verbunden war. Aber es mitzuerleben und unberührt zu bleiben, weder daran zu glauben noch es zu bezweifeln, ja, nicht einmal neugierig zu sein – das kann ich auch heute noch nicht verstehen.

Nur eins kann ich mit Sicherheit sagen: genau von dem Augenblick an verschwamm die Wirklichkeit für mich, und ich begann gefährlich, aber leidenschaftlich in einer Traumwelt zu leben. Ich hätte es vielleicht sowieso getan, aber der Augenblick war kritisch, katalytisch. Ich war ein Mensch auf der Flucht: vor der Vergangenheit, vor einer drohenden Zukunft, vor einem Ich, das ich plötzlich zu meinem Entsetzen als höchst unvollkommen, als aus den Fugen geraten erkannt hatte. Ich war auf der Suche nach etwas unmöglichem Neuen. Wenn ich es nicht finden konnte, würde ich Mythen erfinden und es mir selber schaffen. Ich würde mich jedem Eindruck, jeder Erfahrung öffnen. Ich würde mir jedes Symbol ausleihen, das mir in den Weg kam, und es in eine Kosmogonie privater Illusionen einfügen. Ich wußte gar nicht, wie krank ich war, wie verletzlich in meiner eingebildeten Genesung, wie gefährlich noch für all jene, die Kontakt mit mir hatten. Ich empfinde das heute als Schuld, um so mehr, weil ich, als ich auf jene kleine seltsame Insel kam, sofort dem Wahn der Unschuld verfiel. Ich hatte meine Umwelt gewechselt; ich glaubte mich selber verändert zu haben. Am Ende von Alastair Morrisons Abendgesellschaft war der Wahn vollkommen.

Der rote Wolf

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