Читать книгу Orangen aus Jaffa - Nadine Sayegh - Страница 8
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ОглавлениеMeinen ersten Bodyguard bekam ich mit elf. Er hieß Jamil und war sechzehn. Jamil war ein Indio aus Chile. Mit der Steinschleuder konnte er eine Wespe im Flug abschießen. Er war einmalig. Mein Vater stellte ihn an, nachdem mich ein Bub in der Schule mit einem Taschenmesser attackiert hatte. Im Jaffa des Jahres 1947 war das ein Skandal. Messer saßen nicht locker im Hosensack, schon gar nicht bei Schulkindern in Privatschulen. In dieser Zeit war Jaffa einer der sichersten und gewiss auch einer der schönsten Plätze der Welt.
Die Stadt gab es seit der Antike. Jaffa, Juwel am Mittelmeer, gleich neben dem neu erbauten Tel Aviv. Jaffa, blauer Himmel und eine Sommerluft, gewürzt mit diesem salzigen Hauch von Freiheit. Und immer dieser Duft der Orangenblüten. Jaffa, Zentrum des Zitrushandels und Schauplatz gelebten Feinsinns. Die Herren trugen Anzüge mit Krawatten und einen roten Fez als Kopfbedeckung, die Damen bodenlange Kleider und ein Lächeln im Gesicht. Sie fuhren in Pferdekutschen durch die Straßen oder nahmen den Bus.
Wir Kinder machten Unfug wie alle Jungen in diesem Alter. Wir kickten Fußbälle. Wir ritten auf Eseln wie Cowboys. Wir schlugen mit dem Ball unabsichtlich Fensterscheiben ein, einmal traf es das Haus einer Polizistin, Pech auch. Wir spielten Verstecken am liebsten, wenn es schon dunkel war. Wir brachten unsere Mütter zur Verzweiflung und die Väter zur Weißglut. Wenn der Ärger zu groß wurde, rannten wir mit eingezogenen Köpfen, aber lachend davon. Ach ja, hab ganz vergessen, mich vorzustellen. Nicolas mein Name. Nicolas Sayegh. Das bin ich.
Der Stammbaum unserer Familie reicht zurück bis ins Jahr 1720. Wir sind Palästinenser, Christen. Mein Vater heißt Bechara Sayegh. Ihm gehörten in Jaffa mehrere Orangenplantagen, Zinshäuser und eine Fabrik. Viel Land. Viel Obst. Viel Leben. Meine Mutter heißt Rose Zarifeh. Ihr gehörten auch eine ganze Reihe Orangenplantagen und Zinshäuser. Die beiden hatten sich beim Zahnarzt getroffen. Sie zarte 21, er schon 40. Sie kannten sich vom Sehen. Er trug eine schwarze Krawatte als Zeichen der Trauer um seine Mutter. Tiefe Blicke im Wartezimmer. Beide hielten sich die Wangen. Bis zur Schmerzbehandlung gingen sich noch ein paar Sätze aus. Der Dialog folgte einem gewissen Ritual, das man sagte, um jemandem Beileid auszusprechen.
Mögen Ihre Jahre bleiben. – Mein Beileid, Monsieur Bechara.
Danke, Mademoiselle Rose, mögen Sie leben. – So ist das Leben.
Jeder Abschied sei schwierig. – Ja, aber es gibt immer wieder einen Neubeginn.
Wichtig sei der Glaube. – Der gibt uns Halt und dem Leben Sinn.
Woher sie diese grazile Gestalt habe, vom lieben Gott oder von der Frau Mama? – Ach, jetzt schmeicheln Sie mir aber.
Wie angenehm der Klang ihrer Stimme sei, könne sie etwa singen? – Nicht wirklich, aber danke, Bechara.
Ob sie in dieser guten Gegend wohne? – Ja, nicht allzu weit von hier.
Ob sie öfter beim Zahnarzt sei? – Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.
Oh, der Doktor ruft. Ob wir beide nachher vielleicht weiterreden möchten? – Ich laufe nicht weg.
Im weitesten Sinn könnte man sagen, dass ich aus einem beleidigten Backenzahn heraus entstanden bin. Ebenso meine Schwester Frida und meine jüngeren Brüder Tony und Georges. Wir alle haben einen dentalen Ursprung.
In unserem Viertel galt ich als Rabauke der Nachbarschaft. Ein Fratz sondergleichen. Wir lebten oben auf dem Hügel Jabal Arak-Tinji, wo sich vorwiegend Christen angesiedelt hatten, im Stadtteil Ajami, was auf Arabisch soviel heißt wie Persisch. Eine dezente Erinnerung daran, dass hier an diesem Ort früher auch Perser ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Unser Hügel, auf dem wir lebten, war ein kleines Babel und der Name eine Reminiszenz an die Osmanen. Jabal Arak-Tinji. Der Berg, auf dem Arak gemacht wird.
Berg war vielleicht ein bisschen hochgegriffen, aber ein steiler Hügel allemal. Die Hauptstraße wand sich wie eine müde Boa hinauf auf den, na ja, Gipfel. Viele kleine Straßen, Gassen und Alleen führten seitlich von der Hauptstraße weg, zweigten ab nach links und rechts. Fuhr man ganz nach oben, ans Ende der Hauptstraße, wo der Blick über das Land bis zum Horizont reichte, kam man zu unserem Haus, zur Sayegh-Villa.
Sie steht heute noch da, nicht weit von der steinernen Treppe, über die man, wer gut zu Fuß ist, zurück nach Ajami hinuntergehen kann.
Die Straßen in Jabal Arak-Tinji waren gesäumt von wunderschönen Villen im mediterranen Stil, all das gebettet in eine üppige Vegetation mit hoher Luftfeuchtigkeit, überall sattgrüne Gärten und Leute, die in aller Ruhe ihre Bougainvillea und den Jasmin pflanzten. Hin und wieder flatterte ein gelbweißer Schmetterling durch die Luft. Am Straßenrand wuchsen rote Mohnblumen wie wild.
Die Familien oben auf dem Hügel hatten alte christliche Namen, die lange in der Historie zurückreichten. Saliba heißt Kreuz. Khouri heißt Priester. Zarifeh heißt schön. Farah heißt Freude. Beiruti heißt aus Beirut. Und Sayegh, das sind wir, heißt Goldschmied.
Heute würde man sagen, in dem Viertel lebten anständige Leute. Man musste die Haustür nie versperren. Der Familienname war besser als jedes Schloss, das Vertrauen unsere Versicherung.
Mein Weg zurück von der Schule gestaltete sich immer gleich. Wir waren zu dritt. Mein Freund John, sein Cousin David und ich. John heißt auf Arabisch Hanna, David heißt Dahoud. John hatte den wenig ruhmreichen Beinamen El Satel, was soviel heißt wie Der Eimer. Es gibt die Redewendung Dumm-wie-ein-Wasserkübel, und damit war John gemeint. Hanna El Satel. Woher der Spitzname genau stammte, wusste niemand so genau. John war kein Idiot, im Gegenteil, in Mathematik und grundsätzlich in allen Wissenschaftsfächern war er blitzgescheit, eine Leuchte. Zudem ein verlässlicher Kumpel. Warum sie ihn den Eimer nannten, musste von seiner eigentümlichen Einstellung der Welt gegenüber herrühren. John hatte eine andere Sicht auf alles. Als würde er ein Fernrohr verkehrt herum halten. Alles an ihm und seiner Gefühlswelt schien weit weg. Er hatte zu wenig einen Bezug. Sein Wasserkübel hatte keinen Platz für intensive Gefühle. Reiche Leute nennt man Exzentriker, junge Leute nennt man Spinner. So ist das Leben.
Mich nannten sie zum Glück nur Nicolas. Auf dem Schulweg machten wir drei ziemlichen Unfug, und vor allem ließen wir uns Zeit.
»Was willst du später einmal werden?«, fragte David.
»Na ja«, sagte ich, »bei mir ist das klar. Ich werde die Plantagen und Zinshäuser von meinen Eltern übernehmen und verwalten.«
»König der Orangen!«, sagte David und legte den Kopf in den Nacken. »Nichts für mich. Ich werde um die ganze Welt fahren. Alles sehen. Sie werden mich den Abenteurer nennen. Columbus.«
»Sie werden dich den Affen nennen«, sagte ich, und alle drei lachten.
»Und du, John?«, fragte ich. »Was wirst du machen, wenn du groß bist?«
Er blieb stehen, dachte lange nach und nickte.
»Aha«, sagte David. »Du wirst also ein stummer Eimer Wasser werden. Was für ein Ziel! Vielleicht gut als Feuerwehrmann? Oder als Fischer?«
John sah seinen Cousin von der Seite an und rang sich ein Lächeln ab. Man wusste nie, ob er sich freute oder Schmerzen hatte. Der Mund, den er in Schieflage zog, und die Zähne, die weiß aufblitzten, gaben keinen Aufschluss darüber. Manchmal stellte er seinem Cousin das Bein und tat so, als wäre das unabsichtlich passiert. Einmal sagte er: »Pi ist ein Traum.« Oder: »Bis heute weiß niemand, warum es Geld auf der Welt gibt.« Raufereien gab es nie unter uns. Wir konnten damals noch nicht wissen, dass aus John ein einflussreicher Geschäftsmann werden sollte. Er studierte später Betriebswirtschaft an der amerikanischen Universität in Beirut, kletterte die Erfolgsleiter hoch und heiratete die schönste Frau der Stadt. Nicht schlecht für einen Kübel in staubigen Hosen, der das Leben in seltsame Formeln gegossen hatte. Aber wir drei waren eine Einheit. Unschlagbar.
Unser Weg führte von der griechisch-orthodoxen Schule zum Hügel Jabal Arak-Tinji, wo ich wohnte. Dort zweigte ich ab, nickte John und David zu, und ging den Berg hinauf, während die beiden ihren Weg noch ein Stück weiter bis zum Bezirk Ajami fortsetzten.
»Bis morgen.«
»Hey.«
»Yep.«
Wir hätten ein wunderbares Leben als Rotzbuben fristen können, arglos, sorglos, unbekümmert, wäre da nicht der Drachen gewesen.
Miss Badia. Unsere Arabischlehrerin. So lieblich ihr Name, Badia bedeutet ungewöhnlich schön, so mühsam ihre Herrschaft. Miss Badia hatte ein langes Gesicht und eine ernste Miene, wie Pferde vor einem Rennen. Sie war groß und schlank, das dunkelbraune Haar zu einem Dutt hochgesteckt. Obwohl sie stets hochhackige Schuhe trug, hatte sie nie einen Anflug von Weiblichkeit. Wir waren uns sicher: Das ist keine Frau, das ist eine Nachahmung.
Sie trug immer eine Schultertasche aus Leder bei sich, in der sie unsere Schulhefte mit den Hausübungen mit sich führte. Wenn sie vorne in der Klasse stand und während ihres Vortrags nach links und rechts stöckelte, sah das aus wie ein Exerzieren. Miss Badia hatte die Anmut eines Zweisterne-Generals. Gegen ihren Gesichtsausdruck war jedes Feldherren-Denkmal eine warmherzige Darstellung.
Man konnte es fühlen, wenn man seine Hausübungen vergessen oder einem Fußballspiel geopfert hatte und bei Miss Badia nachsitzen musste. Ihr Lineal saß locker.
Wenn jemand den Anflug von Ungehorsam signalisierte, kam sie zum Pult des jeweiligen Schülers. Sie sah einen an mit ihren blassgrünen Augen und sagte:
»Öffne deine Hand.«
Es half nichts, sich zu entschuldigen oder lächerlicherweise um Nachsehen zu bitten. Miss Badia ließ sich nicht auf Diskussionen ein.
»Ich sagte: Öffne die Hand!«
Sie schlug mit dem Lineal auf die offene Hand, klack. Dann nickte sie, wie um sich selbst zu bestätigen, und machte weiter, wo sie vorher unterbrochen hatte. Es gab oft Unterbrechungen.
Ich hatte einen Trick, damit sie mir nicht wehtat. Ich spannte meine Hand mit gespreizten Fingern und hielt sie ihr hin, Innenseite nach oben und die Finger übertrieben weit nach hinten gebogen. Hätte sie jetzt zugeschlagen, wäre ich bestimmt ernsthaft verletzt worden. Das tat sie natürlich nicht.
»Mach eine normale Hand, Nicolas!«, sagte sie.
»Geht leider nicht anders«, log ich. Sie ließ es bleiben.
Im Unterricht sprachen wir Englisch und lernten Arabisch. Wir hatten Leseübungen, die pädagogisch aus dem Mittelalter waren. Miss Badia ließ uns die einzelnen Wörter buchstabieren. Erst mussten wir Buchstabe für Buchstabe aufsagen, dann das ganze Wort wiederholen. Satz für Satz, Seite für Seite. Immer zuerst buchstabieren. Das war insofern ein Horror, weil es im Arabischen nicht nur Vokale und Konsonanten gibt, sondern auch sogenannte Tashkil. Das sind Markierungen, ob man einen Vokal oder Konsonant lang oder kurz ausspricht. Diese Tashkil sichern, dass der Text richtig gelesen wird.
Das Problem ist: Um ein einziges Wort zu buchstabieren, braucht es oft zehn andere Wörter, und das zieht das Vorlesen in eine ungeahnte Länge, die buchstabierte Ewigkeit. Ich kam mir vor wie in diesen Träumen, wo vor einem ein Korridor liegt und man weglaufen will; aber je schneller man läuft, desto mehr dehnt sich der Korridor aus. So spannend waren unsere Arabischstunden. Einmal verdrehte ich die Augen und seufzte. Miss Badia bemerkte das, obwohl sie mit dem Rücken zu mir stand. Bevor sie sich umdrehte, sagte sie:
»Öffne die Hand, Nicolas.«
Sie hatte einen sechsten Sinn. Anders konnten wir uns das nicht erklären. Miss Badia hatte Augen am Rücken. Es war übernatürlich. Ihre Kräfte erstreckten sich auf alles Unerlaubte. Schummeln, zack, sie fuhr herum und fand den versteckten Zettel. Abschreiben, zack, sie zeigte mit dem Finger auf einen und deutete, man möge vortreten, um seine Züchtigung zu empfangen.
»Ich erwarte Fleiß von dir, Nicolas, und dass du dich bemühst. Du bist nicht fleißig.«
Selbst wenn man das bejahte, kam manchmal das Lineal dran.
»Was habe ich denn getan?«, fragte David einmal.
»Das Falsche gedacht«, sagte sie.
Manchen Menschen kann man es einfach nicht recht machen. Aber die paar Stunden am Tag gingen auch vorbei. Irgendwann rang die Glocke, drrrrrrrrrrrrrrrrr. John, David und ich machten uns auf den Weg. Die Kunst bestand darin, Miss Badia nicht mehr über den Weg zu laufen. Auch außerhalb des Schulgebäudes spie sie Drachenfeuer und legte ihre Umgebung in Schutt und Asche.
Ich versteckte mich, wenn ich sie von der Weite entdeckte. Wir sahen darin eine Art Katz-und-Maus-Spiel am Nachmittag. Unglücklicherweise führte Miss Badias Heimweg durch unsere Gegend, und so kam es oft zu Feindsichtungen. Manchmal war sie schneller. Sie erwischte uns beim Fußballspielen oder überraschte uns, wie wir am Straßenrand saßen und Witze rissen.
»Ah, da hab ich euch ja!« Ihr schmallippiger Mund verzog sich zu einem Grinsen. Sie fixierte uns mit mineralgrünen Augen und deutete auf John, David und mich. »Die drei Musketiere von Jaffa. Dass ich nicht lache. Faulsäcke allesamt, Nichtstuer!«
»Miss Badia, wir h–«
»Still! Nicolas, von dir habe ich mir mehr erwartet. Anstatt dass du um die Zeit in deinem Zimmer sitzt und die Arabisch-Hausübungen machst, hockst du hier mit diesen Taugenichtsen herum. Schäm dich, du Ai.«
»Was bitteschön ist ein Ai?«, warf David ein und musste sich ein Schmunzeln verkneifen.
»Still bist du, Dummer. Ein Faultier heißt so.«
Dann ruckte sie den ovalen Kopf herum, ihr Dutt bewegte sich keinen Millimeter, und zog ab wie ein Soldat bei der Parade, in High-Heels. Sie ging allerdings nicht direkt nach Hause, sondern vorher noch zu meinem Vater, um ihm zu sagen, dass ich a) keine Hausübung gemacht, b) bei der letzten Schularbeit ein Nicht Genügend ausgefasst habe und c) auch jetzt nicht willens bin, nicht für die Schule, sondern fürs Leben zu lernen. Na ja. Mein Vater reagierte so, wie sie das beabsichtigt hatte. Ich bekam eine Standpauke, danach seufzte er und drehte sich weg.
Um diese Denunzierungen in Hinkunft zu vermeiden, brauchte es ein kluges Alarmsystem. Wir fanden es in unseren Freunden Souhail und Emil. Die zwei wohnten ein paar Häuser weiter von mir. Souhail stammte aus der Familie Farah und Emil von den Beiruti. Sie hatten das unverschämte Glück, in der Schule nicht von Miss Badia unterrichtet zu werden.
Jedenfalls, Souhail und Emil gingen in die Collège des Frères, wo sie Französisch sprachen; die Schule war genau gegenüber von unserer. Die zwei bildeten das Anti-Miss-Badia-Frühwarnsystem. Sie instruierten den kleinen Girias, er war drei Klassen unter uns und wollte immer bei den Großen mitmachen. Er postierte sich am Straßeneck, ungefähr dreißig Meter von dem Platz, wo wir immer spielten, und observierte die Lage. Wie bei einer Taube ruckte sein Kopf von links nach rechts, immer spähend, Ausschau haltend. Und da war sie auch wieder, genau jetzt.
»Sie kommt, sie kommt!«, schrie Girias mit seiner hohen Fistelstimme in unsere Richtung. »Lauf, Nicolas, versteck dich, schnell!« Wir gingen in Deckung und sahen, wie der Feind vorbeimarschierte.
So lernten wir, wie wichtig es ist, einen Plan zu haben. Ein Plan ist der Garant für den Erfolg weiterer Schritte. Ein guter Plan ist, als würde man ein Stück Zukunft in Händen halten.
Am letzten Schultag vor den Sommerferien stellte das Leben seine Weichen. Ich war unglaublich gut drauf und fühlte mich, als könnte ich die ganze Welt umarmen. Drei Monate lang konnte uns Miss Badia den Buckel runterrutschen. Ich konnte Fußball spielen, durch die Nachbarschaft streifen oder im Gras liegen, bis sie grün vor Neid war, herrlich. Neunzig Tage ohne Drachenfeuer, was für eine Aussicht. Trotzdem verlief dieser 27. Juni 1947 nicht ganz so, wie ich mir das vorgestellt hatte.
Der Grund hieß Salim.
Vom ersten Schultag an war es Hass auf den ersten Blick. Warum, weiß ich bis heute nicht. Salim Mourad, allein sein Name war nicht gerade melodisch, hatte die Angewohnheit, von hinten anzugreifen, und zwar immer dann, wenn man nicht damit rechnete. Er war ein Meister der Guerillataktik. Kaum hatte ich vergessen, dass mir in der Schule ein Todfeind auflauerte, kam er angeschlichen und verpasste mir einen Schlag auf den Hinterkopf. Er war schmächtig, klein, aber hinterhältig. Einer von der Sorte, die gerne Fliegen fingen und ihnen die Flügel ausrissen. Oder mit der Schleuder auf streunende Hunde schossen. Aufgrund meines körperlichen Vorteils gewann ich nahezu jeden Kampf.
Salim ließ nicht locker. Wie eine Klapperschlange wartete er auf seinen Moment und schlug zu, so fest er konnte. Am letzten Schultag boxte er mir ins Kreuz, als ich am Gang vorbeiging und ihn gar nicht beachtete. Normalerweise hätte ich den Schlag vorausgesehen, mich blitzschnell gedreht und ihn am Revers gepackt. Wir wären dann im Clinch seitlich gegangen wie diese Krabben, die wir am Strand von Jaffa sahen, bis ich in der richtigen Position war, um ihm in den Oberarm zu boxen. An diesem Tag aber war die Welt freundlich, das Leben lachte uns allen entgegen, und ich träumte gerade vor mich hin, was wir so alles in den nächsten Monaten unternehmen könnten, vielleicht nach Beit Jala fahren. Da kam der Angriff. Hinterrücks. Es tat ziemlich weh. Ich konnte mich mühselig umdrehen und Salim wegstoßen, dass er gegen die Hauswand hinter ihm krachte, allerdings fing seine Schultasche den Aufprall auf.
»Du feiger Hund!«, schrie ich ihn an. John und David waren vorausgegangen. Ich musste mich entscheiden, ob ich mit Salim noch weiterkämpfen oder zu ihnen aufschließen wollte, und entschied mich für meine Freunde. So wichtig war die kleine Ratte nun auch wieder nicht.
John, David und ich schlenderten gemütlich Richtung Jabal Arak-Tinji, im Bewusstsein, genau jetzt begännen unsere Ferien. Es schmeckte nach Freiheit, nach Abenteuer, alles ließ sich bewerkstelligen, alles. Jaffa gehörte uns.
»Sind Souhail und Emil auch schon fertig?«, fragte John. »Ich meine, gerade heute.«
»Ich denke schon«, sagte David. »Wie geht’s deiner Schwester und ihrer hübschen Freundin?«
»Frida und Juliana sind wahrscheinlich schon zuhause«, sagte ich. Meine Schwester und ihre beste Freundin besuchten die französische Mädchenschule, die École Saint Joseph, die sich neben dem Collège des Frères befand.
»Und wo werdet ihr in Beit Jala wohnen?«, fragte David.
»Im Everest«, sagte ich. »Das Hotel hat erst vor ein paar Wochen aufgesperrt. Wahnsinnspalast. Überall Marmor, kennt ihr das? Das ist der teuerste Stein zum Bauen. Muss Millionen gekostet haben.«
»Übertreib nicht«, sagte John in seiner üblichen Art. »Oder hast du den Bauauftrag vergeben?«
»Nein, wirklich. Das Everest, sagen alle, ist das schönste Haus in ganz Beit Jala. Und wir sind ganze drei Monate dort. Voll der Luxus, wisst ihr? Da sollen Diener in dunklen Anzügen mit Fliegen herumrennen und einem jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Könnt ihr euch so was vorstellen? Vielleicht gelingt es mir, dass ich einen Schluck Arak bekomme. Oder eine Zigarette.«
»Na sicher, dich werden sie bewirten wie den König höchstselbst«, sagte John und machte eine überschwängliche Geste, gefolgt von einem Kratzfuß. David lachte, und ich fing auch an.
»Ihr werdet schon schauen. Ich habe gute Lust, dort den Sir zu spielen.«
»Aber sicher, Sir Nicolas«, sagte David. »Wie kommt ihr überhaupt zu dieser noblen Bude?«
»Mein Vater kennt den Besitzer«, sagte ich. »Ich glaube, von früher. Er heißt Mister Cook. Wenn ihr wollt, könnt ihr mich ja besuchen kommen, und wir gehen Eidechsen jagen.«
»Klingt gut«, sagte John.
»Oder Schokolade kaufen«, ergänzte ich. »Die haben dort dieses kleine Süßwarengeschäft am Fuß des Hügels, kennt ihr das?«
»Nein«, sagte David, »aber die werden uns schon noch kennenlernen. Vielleicht kosten wir einmal was Neues.«
»Lakritze zum Beispiel.« John überlegte.
»Iiii!«, sagte David und verzog das Gesicht. »Wer mag denn sowas!«
Ich wollte gerade fragen, ob die beiden gemeinsam mit ihren Familien losfuhren, da hörte ich ein Geräusch. Der Kiesel hinter mir knirschte, jemand kam sehr schnell angerannt. Salim.
Bevor ich herumwirbeln konnte, trat er mir in den Rücken. »Dein Vater soll verflucht sein!«, schrie er mit schriller Stimme.
»Nein, dein Vater soll sechzigmal verflucht sein«, ich holte kurz Luft, um mich vom Schmerz zu erholen, »du verdammter Feigling, traust dich immer nur von hinten anzugreifen, ja?« Ich drehte mich um und wollte ihn packen, aber der Mistkäfer rannte erneut hinter mich. Da spürte ich einen Schlag an der Schulter. Salim hielt kurz inne, ein, zwei Sekunden vielleicht, dann rannte er davon. »Du Hundesohn«, rief ich ihm nach. »Sohn von sechzig Hunden, verschwinde!«
Ich wollte David gerade etwas sagen, auf einmal runzelte John die Stirn. Er griff mir an den Rücken. »Nicolas, du blutest ja.«
»Was?«
»Ja, du blutest, dein Hemd ist ganz zerrissen.« Er sagte das in seiner typisch monotonen Art. Mit dem Finger fuhr er mir über die Schulter. Sein Daumen war rot.
David kam näher. »Dieser irre Hund. Der hat dir mit einem Taschenmesser in den Rücken gestochen!«
»In die Schulter«, korrigierte John.
»Egal, könnt ihr das glauben? Der kommt angerannt, attackiert dich von hinten und sticht zu. Ich fass es nicht!«
Ich war im Schock. Ich spürte kaum etwas, nur ein dumpfes Ziehen. Meine linke Schulter fühlte sich feucht unter dem Hemd an. Die Wunde blutete anscheinend stark. Ich hatte noch immer nicht so richtig mitgekriegt, was gerade passiert war.
John kramte in seiner Schultasche. »Nimm das, Nicolas«, sagte er und hielt mir ein Taschentuch hin. Es war sauber, gebügelt und kariert. Ich sah, wie die Linien darauf langsam verschwammen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ernsthaft verwundet war.
Jetzt kam der Schmerz.
Verdammt, tat das weh.