Читать книгу Der dunkle Ort - Nadine Zacher - Страница 3

Die Erinnerung

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Ich erinnere mich genau. Es war ein heißer Tag, an dem Gewitter in der Luft lag, an dem das Atmen schwer fiel und der verhangene Himmel viel zu nah zu kommen schien. Es muss einer dieser heißen Tage im August gewesen sein, da bin ich mir sicher, weil ich ein paar Tage vorher Geburtstag gehabt hatte.

Ich hatte neue Schuhe bekommen. Wenn ich die Augen schließe und mich erinnere, sehe ich sie genau vor mir. Es waren braune Lederschuhe, eigentlich viel zu warm für diesen Sommertag, aber ich konnte es nicht abwarten, sie zu tragen; auf keinen Fall noch Wochen, bis der Herbst das Wetter abkühlen würde. Die Schuhe gingen bis über die Knöchel. An der Außenseite auf Höhe des Knöchels befand sich auf jedem der beiden Schuhe die schwarz gelbe Abbildung einer Biene, sehr klein, aber so genau, dass man sogar den Stachel erkennen konnte.

Meine Schuhe wurden staubig, als ich den schmalen Weg durch das kleine Waldstück nahm. Der Boden war trocken, und die Luft war feucht. Auch wenn der Weg nicht besonders lang war, legte sich ein feuchter, klebriger Film auf meine Stirn und meine Arme.

Man sparte sich ungefähr zehn Minuten Weg mit dieser Abkürzung durch den kleinen Wald, ging dafür nicht an der Straße entlang zum Haupteingang, sondern kam hinter dem Haus aus, wo man nur durch den Garten gehen musste und zur Hintertür reingehen konnte. Manchmal war sie verschlossen, oft aber nicht, wenn jemand zuhause war, und schon gar nicht in den heißen Sommermonaten, wenn es sowieso nur ein ständiges Rein und Raus zwischen Garten und Haus war.

Es war Mittagszeit, als ich durch den Garten zum Haus ging, viel zu früh eigentlich. Das Gras und die Blätter hatten ein dunkles, sattes Grün unter diesem tiefen Gewitterhimmel. Alle Fenster im ersten Stock, die zur Gartenseite zeigten, waren weit aufgerissen, und ganz deutlich hörte ich jetzt ein helles Lachen, als ich zu den geöffneten Fenstern nach oben sah.

Ich trat mir den Staub von den Füßen, als ich durch die Hintertür in die Küche ging. Die Tür war nicht abgeschlossen. In der Küche und im Wohnzimmer war jetzt alles ganz still, als würde diese drückende Luft, die durch die geöffneten Fenster rein kam, alle Geräusche verschlucken. Niemand war zu sehen, nichts rührte sich, nur im Wohnzimmer lief der Fernseher ohne Ton und warf ein flackerndes Licht auf den dunklen Teppich.

Jetzt hörte ich kein Lachen mehr, jetzt war es ein Stöhnen, ein Seufzen, das sich den Weg herunter aus dem ersten Stock durch die stickige Luft bis zu mir bahnte. Es hörte sich nicht bedrohlich an, es hörte sich nicht nach Angst oder Schmerzen an, es klang nach etwas Anderem, nach etwas Fremden, das ich noch nicht kannte. Wenn ich mich heute daran erinnere, weiß ich, dass es Lust war, Lust und Begehren, was ich dort hörte.

Langsam stieg ich die hölzerne Treppe in den ersten Stock hinauf. Ich war nicht besonders vorsichtig; ich vermied es nicht einmal, auf die Stufen zu treten, von denen ich wusste, dass dort das alte Holz unter meinen Füßen knarren würde. Im Flur verschluckte der Teppich wie von selbst die Geräusche meiner Schritte. Ich musste mich gar nicht anstrengen, gar nichts tun, ich musste einfach nur eine Treppe hoch und durch einen Flur gehen und durch eine halb geöffnete Tür in ein Zimmer sehen.

Was ich sah, hatte ich noch nie gesehen. Zwei nackte Körper auf dem Bett ineinander verschlungen. Bettdecke und Kleider auf dem Boden verstreut. Ich sah Bewegung, einen Rhythmus, der vom Stöhnen zweier unterschiedlicher Stimmen begleitet wurde. Ich sah einen schlanken, hellen Frauenkörper auf dem Körper einer anderen weniger schlanken Frau, die sich aber nicht weniger bewegte, die mit ihren Fingern in die Haare und in den Rücken der Frau, die sich auf ihr bewegte, griff.

Das muss doch wehtun, das weiß ich noch, dass ich das dachte, dass ich diese feste Geste nicht mit Vergnügen verbinden konnte.

In dem Zimmer hier oben war es noch ein bisschen dunkler als in den Räumen unten, vielleicht hatte sich der Himmel noch weiter zugezogen, vielleicht würde es wirklich gleich gewittern. Doch daran erinnere ich mich nicht, vielleicht war es so, vielleicht blieb aber auch der Regen und das Gewitter aus, und wir merkten einfach nicht, wie die schwüle, stickige, viel zu heiße Luft wieder verschwand.

Ich blieb weiter dort stehen, wo ich stand, rührte mich nicht und konnte den Blick unmöglich abwenden, von dem, was in diesem Bett geschah.

Eine von beiden hatte die Augen nun geschlossen, während die andere mit dem Mund ihren Körper entlang fuhr. Lippen berührten Brüste und Hände, schlossen sich um Finger, berührten Beckenknochen und Oberschenkel, verweilten sehr lange zwischen den Beinen. Auch hier ergab sich wieder eine Bewegung, wie ein Fluss, der in einem bestimmten Rhythmus fließt, und irgendwann in all dieser Bewegung öffnete die Frau die Augen wieder und sah dabei genau in meine Richtung, sah einfach so genau in mein Gesicht. Als würde man nach einem gedankenverlorenen Moment die Augen wieder öffnen und mit seinem Blick zufällig irgendeine Stelle im Zimmer treffen, einen Vorhang oder eine Tasse auf dem Couchtisch.

Meine Mutter sah mich in dem Moment so selbstverständlich an wie irgendetwas anderes im Zimmer, aber dieser Moment ging schnell vorbei. Ich glaube, sie brauchte einfach diesen Moment, um festzustellen, dass das, was sie gerade sah, in keiner Weise zu dem passte, was sie gerade tat.

Aber auch das, was diesem Moment folgte, war nicht hektisch und laut. Ruhig und beherrscht wurde nach Bettdecken und Kleidung gegriffen. Paula, die beste Freundin meiner Mutter, war als erste wieder komplett angezogen; es wurde sich ordnend durch die Haare gefahren, Blusen wurden zugeknöpft, und ich wurde auf mein Zimmer geschickt. Dort saß ich auf dem Bett, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte, und ließ die Beine runterbaumeln. Ich betrachtete meine Schuhe, die ich immer noch anhatte und die auch immer noch ein bisschen staubig waren. Meine Geburtstagsschuhe, ich war elf Jahre alt geworden.

Als ich heute, vierunddreißig Jahre später, den Weg zum gleichen Haus meiner Eltern einschlage, nehme ich keine Abkürzungen mehr, sondern parke, wie alle anderen Gäste auch, vor dem Haus.

Vieles hat sich verändert, auch das Haus, innerlich und äußerlich. Aus dem einstmals grünlichen Anstrich ist irgendwann ein weißer geworden und aus dem weißen im Laufe der Zeit ein dreckig beigefarbener. Wie das Gesicht einer alternden Frau, denke ich, dessen Make-up mit den vergehenden Jahren immer ungenauer und rissiger und gleichzeitig immer notwendiger wird, bis man es irgendwann vielleicht einfach bleiben lässt.

Obwohl es erst Nachmittag ist, dämmert es schon. Das Haus ist hell beleuchtet, und auf dem Hof stehen mindestens schon acht Wagen. Gut, nicht die Erste zu sein, sich nicht in der Gegenwart von Mutter und Frederik verloren fühlen zu müssen. Wo es Mutter doch ohnehin mit jedem Geburtstag immer schwerer fällt, ihre düsteren Launen im Griff zu halten, und die Gäste immer mehr Bemühen aufwenden müssen, ihren lockeren Wohlwollen über diese Stimmung auszubreiten, bis der Abend zu Ende geht. Geschenke will sie schon seit Jahren nicht mehr, ich bin die Einzige, die sich konsequent daran hält, die diesen Wunsch als offensichtliche Erleichterung empfunden hat.

Frederik öffnet mir schwungvoll die Tür, als ich läute. Er ist jetzt achtundsechzig und hat nie diese Aura verloren, die einem auf aufdringlich optimistische Weise vermittelt, die Lage sei unter Kontrolle und es gäbe nicht den geringsten Grund, in den nächsten Stunden nicht noch ein paar bemerkenswerte berufliche oder private Erfolge zu erzielen. Mir ist nicht klar, ob das für Frederik überhaupt unterschiedliche Bereiche sind oder ob sich nicht alles zu einem einzigen großen Schlachtfeld vermischt.

Kein Zweifel, dieser Mensch ist zufrieden mit sich. Ist angekommen in seinem Leben und in seiner Persönlichkeit, kennt das gar nicht, dieses Gefühl des Suchens nach dem richtigen Zustand, dem richtigen Leben, der richtigen Art zu sein. Dieses Gefühl des Nicht-fertig-Seins muss Frederik absolut fremd sein.

Er arbeitet noch immer, natürlich tut er das, obwohl er sich schon längst hätte zur Ruhe setzen können. Er ist einer von denen, die sich in dem sicheren Glauben wiegen, gebraucht zu werden. Von seinen Patienten, von seinen Kollegen, wahrscheinlich von der Institution psychiatrische Klinik an sich, ja wenn nicht sogar von der Psychiatrie als solches. Ich bin mir sicher, dass viele jüngere Kollegen Mühe haben, ihre Ungeduld nicht zu offensichtlich werden zu lassen und schon lange darauf warten, dass die Stelle des leitenden Arztes der Psychiatrie endlich neu besetzt wird, und ich bin mir genau so sicher, dass Frederik diese Ungeduld noch eine ganze Weile ignorieren wird.

„Schön, dass du da bist, Ingrid“, sagt er jetzt und schüttelt mir dabei einen Moment zu lange die Hand. „Deine Mutter ist im Wohnzimmer.“ Und mit etwas gesenkter Stimme fährt er fort: „Und schon beim dritten Glas.“

Ich habe es nie gemocht, wenn Frederik versucht hat, eine Vertrautheit von Verbündeten zwischen uns herzustellen, seine Versuche, sich zu vergewissern, in welcher Position man zu ihm steht, einzuordnen, ob man in den kommenden Stunden Freund oder Feind sein wird.

Als ich das Wohnzimmer betrete, stehen schon einige Gäste locker in Zweier- oder Dreiergruppen im Raum herum. Die Stimmung wirkt ein bisschen unruhig, wie ein leicht betäubter Bienenschwarm schwirren die Gäste durcheinander. Meine Mutter thront vor dem Fenster in einem schweren, braunen Ledersessel und ist die mittlerweile nicht mehr leicht, sondern eindeutig betäubte Königin in einem lässigen, sündhaft teuren Hosenanzug und einer weißen Seidenbluse. Definitiv wird sie die bestangezogene Frau des Abends sein, aber da sie das weiß, ist ihr auch das egal, was wiederum ihre Haltung genauso lässig erscheinen lässt wie ihre Kleidung.

Da Frederik offensichtlich mitgezählt hat, weiß ich, dass das Weißweinglas in ihrer Hand das dritte ist, und da es erst sechs Uhr ist, bietet der Abend noch Raum für einige weitere. Ein bisschen gelangweilt sieht sie aus, wie sie so im Raum herumschaut, aber ich entdecke tatsächlich Freude in ihrem Gesicht, als sie mich jetzt an der Tür stehen sieht. Sie lächelt und prostet mir von der anderen Seite des Zimmers aus zu, und ich bin auf einmal froh, hier zu sein.

Als ich ihr einen Kuss auf die Wange gebe und ihr zum Geburtstag gratuliere, fühlt sich ihre Haut ganz weich an. Sie ist fast gar nicht geschminkt, im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen hier. Ich weiß, dass sie das für „albernen Firlefanz“ hält, der je älter man wird, umso unwürdiger aussieht. Trotzdem erstrahlen ihre Lippen und ihre Fingernägel in zwei perfekt aufeinander abgestimmten, warmen, dunklen Rottönen.

Ich sehe Frederik quer durch den Raum auf uns zusteuern, sehe wie meine Mutter langsam die Augen verdreht und mir zuflüstert: „Wenn du deiner Mutter an ihrem Geburtstag einen Gefallen tun willst, hältst du mir den jetzt vom Leib und besorgst mir noch ein Glas.“

Ich finde, dass sie diesen Gefallen auf jeden Fall verdient hat und gehe Frederik entgegen. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass die Schröders, die wie eingefroren vor dem Kamin stehen, gelangweilt und vor allem ohne Getränke in die Gegend starren und organisiere ein weiteres Glas Chardoney für meine Mutter. Mit Weißwein für sie und einem Martini für mich komme ich zu ihr zurück und ernte ein „Gut gemacht“ von ihr.

Die Erinnerung an diesen Sommertag im August vor vierunddreißig Jahren war gerade eben noch auf der Fahrt hierher so präsent und so eindringlich gewesen, dass mir auch jetzt all diese Bilder im Kopf hängen bleiben, wie etwas Zähes, Klebriges, das man beim Versuch es wegzuwischen nur noch schlimmer macht.

Ich frage meine Mutter, ob sie weiß, wo all die alten Sachen von mir abgeblieben sind, die von ganz früher, nicht die aus der Zeit kurz bevor ich hier ausgezogen bin. All diese kleinen Dinge, die man so fest und unauslöschlich mit seiner Kindheit verknüpft hat. Spiele, die man Tag und Nacht hatte spielen wollen, Bücher, bei denen beim Vorlesen niemals der Wortlaut geändert werden durfte, kleine kuschelige Wesen, die jahrelang das Bett mit einem teilten. All das muss irgendwo abgeblieben sein, aber meine Mutter scheint keine rechte Übersicht mehr zu haben, wo sich was in ihrem Haus befindet und schwankt unsicher zwischen den Möglichkeiten Keller, Garage, Dachboden oder altes Kinderzimmer.

„Wozu brauchst du den alten Kram?“, will sie nach einigem Überlegen wissen, und ich erzähle ihr von den Schuhen, die ich früher hatte, die mit den Bienen an den Seiten. Doch meine Mutter sieht mich nur ungläubig an und sagt mir, solche Schuhe hätte ich nie gehabt. Ich will es dabei bewenden lassen und nicht an diesen Sommer vor so vielen Jahren rühren. Die so tief und gründlich vergrabenen Leichen im Keller müssen heute nicht wieder auferstehen.

Also sage ich nur, so wichtig sei es auch nicht und begleite meine Mutter ins Esszimmer, um gemeinsam mit allen anderen, gemeinsam mit noch mehr Chardoney und Martini das Abendessen zu überstehen.

Meine Mutter ist schweigsam beim Essen, Frederik dafür umso gesprächiger. Fast alles, was er sagt, sagt er laut genug, um damit den gesamten Tisch zu unterhalten. So ist das, wenn man gebraucht wird, denke ich, wenn man sogar für die Abendunterhaltung die Verantwortung trägt.

Nach dem Essen zieht man sich wieder ins Wohnzimmer zurück, wechselt die Getränke von Wein zu Kaffee oder auch nicht, und eine seltsame Mischung aus Trägheit und Unruhe breitet sich im Haus aus.

Als ich in der Küche alleine auf Frederik stoße, frage ich ihn, ob er weiß, wo sich meine alten Sachen befinden. Er ist gerade dabei, eine Zitrone in Scheiben zu schneiden, und ich merke, wie das Messer einen winzigen Moment lang ins Stocken gerät, bevor es weiter durch die gelbe Schale schneidet und er mir nur mit der Gegenfrage „Wozu?“ antwortet.

„Ich suche etwas“, sage ich und kriege wieder nur Frederiks Gegenfrage „Und was?“ zu hören. Am liebsten möchte ich ihm sagen, dass ihn das unglaublich wenig angeht, möchte aber auch möglichst beiläufig klingen, so dass die Chance auf eine brauchbare Antwort besteht.

„Ach, ein paar Sachen von früher halt“, sage ich vage, merke aber, wie Frederik das Messer zur Seite legt und mich jetzt unverwandt ansieht. Sein Tonfall ist jetzt kühl und sehr präzise, wie der eines Forschers, der versucht herauszufinden, mit was er es hier zu tun hat.

„Ein paar Sachen von dir sind im Keller, ganz hinten an der Wand in diesen dunklen Kartons, aber es ist bestimmt auch noch was in den Schränken in deinem Zimmer. Ich kann dir suchen helfen, wenn du willst.“ Und dieser Tonfall klingt viel mehr wie eine Feststellung als wie ein Angebot.

„Das ist nicht nötig“, sage ich abwinkend, „lass deine Gäste nicht alleine.“

„Ingrid“, ruft er mit der gleichen Kälte in seiner Stimme, als ich schon in der Tür stehe. „Es ist nicht immer gut, nach Dingen zu suchen, die vergangen sind.“

Dazu habe ich nichts zu sagen. Ich drehe mich um und gehe durch den Flur die Treppe zu meinem alten Kinderzimmer hinauf, in dem ich nicht lange verweilen will und deswegen rasch die paar wenigen Schränke durchsuche, in denen tatsächlich noch viele Sachen verborgen sind, an die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht habe. Einige Dinge bleiben völlig fremd, durch ein paar andere wird eine bunte, farbenprächtige Erinnerung aufgeschlagen, wie ein lange verschwundenes Kinderbuch. Nach wenigen Minuten wird jedoch schnell klar, dass das, was ich suche, hier nicht zu finden ist. Ich nehme nichts mit, schließe alle Schränke und mache mich wieder auf den Weg nach unten, wo ich meine Suche im Keller fortsetze.

Der Keller ist sehr gut beleuchtet und unglaublich aufgeräumt. Nichts erinnert hier an düstere, verwinkelte Räume, in denen alles Mögliche lauern könnte. Ich finde schnell die Kartons, die Frederik mir beschrieben hat, und beeile mich mit dem Durchsuchen, weil sich hier unten die Kälte und noch etwas Anderes, was ich nicht greifen kann, an mich heranschleicht und mich auf einmal fest im Griff hat. Ganz plötzlich muss ich mich anstrengen, um genug Luft zu bekommen, merke, wie ich vor Kälte fast anfange zu zittern und den letzten Karton mit immer ruckartigeren Bewegungen durchsuche. Nichts. Dieses beklemmende Gefühl wird so stark, dass es mir jetzt völlig egal ist, auch hier nichts gefunden zu haben.

Ich beeile mich, die Kartons zu verschließen und das Licht hinter mir auszumachen, als ich zur Treppe gehe. Ich bemühe mich, nicht zu rennen, schaffe das auch, indem ich auf meine Füße sehe und konzentriert einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen setze. Es ist niemand im Flur, als ich oben ankomme, also erlaube ich mir, mich kurz am Treppengeländer aufzustützen und tief auszuatmen, bis das Zittern verschwindet.

„Hast du alles gefunden?“

Erschrocken fahre ich herum und sehe Frederik im Halbdunkel hinter mir auf der Treppe, die weiter nach oben führt, stehen.

Er steht nur da und schaut mich an, und ich kann in diesem Moment unmöglich sagen, warum ich dieses Nichtstun, dieses Stehen und Schauen als Bedrohung empfinde, aber ich bin mir sicher, genau das ist es, eine Drohung, etwas, das sehr ernst gemeint ist.

„Nein“, sage ich und gehe ohne ein weiteres Wort zu sagen wieder ins hell erleuchtete Wohnzimmer.

Trotz mittlerweile fortgeschrittener Stunde hält sich meine Mutter ganz gut. Ihre Gesten sind ein bisschen fahriger, wenn man genau hinsieht, sitzt ihr Lächeln irgendwie schief im Gesicht und der Tonfall, mit dem ich sie jetzt zu der hilflosen Frau Schröder sagen höre „So ist es eben nicht“, ist ein bisschen zu bestimmt und zu laut. Ich lächele Frau Schröder aufmunternd entgegen, als ich meiner Mutter jetzt mit gedämpfter Stimme ins Ohr flüstere, dass ich gleich gehen werde.

„Ja“, sagt sie, „aber du musst noch ein paar Minuten warten, ich glaube ich habe noch etwas für dich.“ Damit verschwindet sie aus dem Wohnzimmer, und ich mache mich daran, im Flur meinen Mantel zu suchen.

Fertig angezogen sehe ich mich auf einmal wieder Frederik gegenüber, und schon wieder fühlt es sich beklemmend an, seine Anwesenheit hier im Flur auszuhalten. Als ich mich schon fast dazu entschieden habe, nicht mehr zu warten und einfach zu gehen, kommt meine Mutter mit jetzt doch deutlich unsicherem Gang die Treppe herunter.

„Hier“, sagt sie und drückt mir einen Kuss auf die Wange, als sie mir die kleine braune Schachtel in die Hand drückt, die sie mit herunter gebracht hat. Ich kann nur „Danke“ sagen, und dass es ein netter Abend war, bevor ich draußen im Dunkeln endlich wieder das Gefühl bekomme, richtig atmen zu können.

Das Auto muss ich stehen lassen, zu viele Martinis. Da es dort, wo es steht aber mindestens drei andere Wagen blockiert, fahre ich das Auto noch die paar Meter vom Hof Richtung Straße und parke es in der nächsten Nebenstraße in der ersten Parklücke, die ich entdecken kann. Ich packe die Schachtel in meine Tasche und mache mich auf den Weg zur Hauptstraße, wo ich überraschend schnell ein Taxi anhalten kann.

Ungefähr zwanzig Minuten später sitze ich zuhause im Dunkeln auf dem Sofa, und in einem merkwürdig unentschlossenen Schwebezustand kann ich mich weder dazu entschließen, einfach hier und jetzt einzuschlafen noch das Licht anzumachen. Erst als mir die Schachtel einfällt, die mir meine Mutter gegeben hat, schaffe ich es, noch einmal in den Flur zu gehen und meine Tasche zu holen.

Immer noch im Dunkeln setze ich mich wieder auf das Sofa, öffne die Schachtel und hole ein paar Kinderschuhe hervor. Das Leder fühlt sich weich an unter meinen Fingern und warm, ein Schnürsenkel ist abgerissen. Ich streiche behutsam mit den Fingern über die leicht erhabene Stelle an der Außenseite, dort, wo die Biene ist, die jetzt im Dunkeln nur wie ein schwarzer Fleck aussieht. Die Schuhe fühlen sich gut an in meinen Händen, ganz sicher und vertraut, wie ein altes Kuscheltier aus Kindheitstagen, mit dem man sehr viele Nächte verbracht hat.

Jetzt schalte ich das Licht doch an, und ich sehe, dass die Schuhe genau den schönen, warmen Braunton haben, an den ich mich so gut erinnere. Aber als ich den linken Schuh umdrehe, sehe ich etwas ganz anderes. Ungläubig drehe ich jetzt auch den rechten Schuh um und halte jetzt beide Schuhe in den Händen.

Ich blicke auf zwei unterschiedlich aussehende Marienkäfer. Dort, wo jetzt eine Biene sein müsste, sehe ich rechts einen kleinen, gut gelaunten Marienkäfer mit einer Blume in der Hand und links einen ebenso gut gelaunten Marienkäfer mit einem Sonnenhut auf dem Kopf.

Ich merke, dass mir schwindelig wird, während ich weiter auf die beiden Schuhe starre, und auch jetzt, als ich die Augen schließe, beginnt sich die Dunkelheit hinter meinen Augen sanft zu drehen. Diese Dunkelheit begleitet mich zurück, vierunddreißig Jahre zurück in ein Kinderzimmer, in dem ich auf dem Bett sitze und die Beine baumeln lasse, in dem ich auf meine Geburtstagsschuhe schaue und nicht mehr weiß, ob ich dort eine Biene, einen Marienkäfer oder gar nichts mehr sehe.

Diese Nacht ist lang und nicht schön. Mir wird übel und ich weiß nicht, ob von meinen eigenen Gedanken oder von zu viel Martini, der sich nicht mit meinen geschlossenen Augen verträgt.

Als ich mich im Bad übergeben habe und noch einen Moment auf den weißen Fliesen an die Badewanne gelehnt sitzen bleibe, fällt mir das Atmen wieder schwer, und ich merke, wie mir die Tränen übers Gesicht laufen.

Ich habe das deutliche Gefühl, dass mir irgendetwas entgleitet heute Nacht. Ich weiß nicht was, aber etwas, was ich brauche, ohne das die Dinge bodenlos sind, verschwindet gerade, ist nicht mehr an seinem Platz.

Ich schaffe es schließlich, mir den Mund auszuspülen und zurück ins Wohnzimmer zu gehen.

Ich rufe Frank an. Ich brauche jetzt jemanden, dem ich vertrauen kann und jemanden, der mir ein paar Fragen beantworten kann.

Nach minutenlangem Läuten hebt Frank mit verschlafener, halb gelähmter Stimme ab und erklärt mir sofort, dass das kein Wunder sei um halb drei Uhr nachts. Ich sage, dass ich ihn dringend sprechen, am liebsten sogar treffen möchte und dass es wirklich wichtig sei, aber das passt Frank um halb drei Uhr nachts schlecht, es sei denn ich wäre gerade mitten in einem Notfall.

Franks Stimme bringt mich wieder etwas mehr in die Realität zurück, und die Realität ist, dass Übelkeit auf dem Sofa kein Notfall ist. Also entschuldige ich mich für den späten Anruf, und wir verabreden uns für den nächsten Nachmittag.

Ich versuche, mich zu beruhigen. Es ist gut, Rituale zu haben. Ausziehen, Zähne putzen, Tee kochen, all das ist irgendwie beruhigend. Als ich mit dem Tee auf dem Weg ins Bett bin, nehme ich eine gerahmte Fotografie mit, die sonst im Bücherregal neben dem Schreibtisch steht und die ich jetzt lange und genau betrachte.

Auf dem Foto ist mein Vater zu sehen, der auf der Terrasse umgeben von Werkzeug auf dem Boden hockt und anscheinend irgendetwas repariert, das man nicht genau erkennen kann. Ich weiß nicht mehr, wer das Foto gemacht hat, aber offensichtlich ist er vom Fotografen überrascht worden, weil er sich gerade in dem Moment mit einem erstaunten Gesichtsausdruck umdreht. Ich habe dieses Bild immer gemocht, weil dieses Erstaunen so echt und so unmittelbar aussieht, dass auf seinem Gesicht überhaupt kein Platz mehr für irgendetwas Beherrschteres war.

Wenn ich die Augen schließe, kann ich mich an all die kleinen Details auf dem Foto erinnern. Ich weiß, welche Farbe sein Hemd hat und welches Werkzeug um ihn herum liegt. Ich weiß, dass man im Hintergrund ein Tulpenbeet sieht.

Aber an meinen Vater, daran, wie er war, wie er sich bewegte, wie er mit mir sprach, wie sich seine Stimme anhörte, daran erinnere ich mich kaum. Er ist wie ein Phantom, das mir jedes Mal durch die Finger gleitet, wenn ich versuche, mich wirklich an ihn zu erinnern. Dann wird alles so unscharf, dass meine Erinnerung keinen Halt findet, sich kaum an einem konkreten Moment, den ich mit ihm erlebt habe, oder an einer immer wiederkehrenden Geste festhalten kann.

Ich war elf, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, und es ist eine traurige Ironie, dass die einzigen, wirklich deutlichen Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, jene sind, die mich an den Tag erinnern, an dem ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Die Erinnerung ist das Einzige, was bleibt, das sagt man doch. Aber was tut man, wenn man die einzige klare Erinnerung an einen Menschen seit vierunddreißig Jahren am liebsten vergessen würde, aber gleichzeitig auch davor Angst hat. Denn dann ist er endgültig verschwunden, dann existiert er nur noch auf Fotos, aber nicht mehr in mir.

Wir treffen uns bei Frank zuhause. Das ist gut, denke ich, gut von Zuhause raus zu kommen, und außerdem habe ich Franks Wohnung immer gemocht.

Schlicht und schön ist es da; die sparsamen Möbelstücke strahlen etwas Warmes und Behagliches aus, als würde diese Wohnung darauf warten, dass es sich Menschen darin gemütlich machen.

Frank macht es sich allerdings meistens alleine gemütlich, was ihm von Zeit zu Zeit mal mehr und mal weniger auszumachen scheint. Ich kenne ihn schon lange, schon seit den letzten Schuljahren. Und so lange ich ihn auch kenne, hat er in all den Jahren nie eine Beziehung gehabt, von der ich gewusst habe und vermutlich nie eine, die es sich mit ihm zusammen in dieser schönen Wohnung hätte gemütlich machen wollen.

Frank arbeitet im Krankenhaus, aber als Neuropsychologe glücklicherweise nicht im Schichtdienst, so dass sein Leben, glaube ich, alles in allem recht gleichmäßig vonstatten geht.

Als ich jetzt mit Frank schon bei der dritten Tasse Kaffee in seinem Wohnzimmer sitze, sieht er mich ernst und nachdenklich an.

„So funktioniert es nicht, Ingrid“, sagt er jetzt. „Erinnerungen sind keine Kopien von Dingen, die wir mal erlebt haben. Erinnerungen sind nicht neutral, wir verbinden sie immer mit Empfindungen und Bedeutungen. Wir halten in unseren Erinnerungen fest, wie wir Ereignisse erlebt haben, und das muss nicht immer genau mit der Realität übereinstimmen.“

Seine Stimme ist angenehm und ganz ruhig, als er fortfährt. „Und ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass es in erster Linie darum geht, ob unsere Erinnerungen in jedem Detail den Dingen entsprechen, wie sie tatsächlich gewesen sind. Auch nicht bei dir“, fügt er jetzt etwas leiser hinzu. „Manchmal kommt es mehr darauf an, wie stark die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst und ob dieser Einfluss gut für uns ist oder nicht.“ Er setzt die Kaffeetasse ab und sieht mich wieder an. „Wie lange ist das alles jetzt her? Fünfunddreißig Jahre?“

„Vierunddreißig“, antworte ich. „Letzten Monat waren es vierunddreißig Jahre. Frank, ich weiß selber nicht genau, was ich von dir jetzt eigentlich wissen will und warum mich ein Paar Kinderschuhe so aus der Bahn wirft.“

„Doch, ich glaube ich weiß, was du von mir willst und auch warum, aber das ist nicht möglich.“

Es muss sich angenehm anfühlen, Franks Patient zu sein, denke ich und frage mich gleichzeitig, ob seine Patienten überhaupt in einem Zustand sind, solche Gedanken haben zu können. Ich weiß es nicht.

Mit immer noch ganz ruhiger Stimme fährt er fort. „Die Erinnerungen an unser Leben, an unsere Autobiografie, machen wir zur Grundlage für unser ganzes Selbstverständnis, zum Gerüst für unsere ganze Identität. Es muss sich zwangsläufig beängstigend anfühlen, wenn uns das Gefühl, dass die eigene Identität ausreichend zusammengehalten wird, verloren geht. Und manchmal reicht da eine Kleinigkeit, um dieses Empfinden auszulösen. Und dann geht es los. Dann fragen wir uns automatisch: Wenn ich eine Kleinigkeit falsch im Gedächtnis habe, was ist dann mit andern Dingen, mit größeren Ereignissen, mit bedeutsameren? Kann ich Personen verwechseln, wenn ich Bienen und Marienkäfer durcheinander bringe? Waren die Ereignisse meines Lebens so, wie ich sie erinnere? Wie kann ich sicher sein? Und haben nicht all diese großen und kleinen Ereignisse in meinem Leben zu dem geführt, was ich heute bin? Was bedeutet es, wenn vielleicht nur die Hälfte tatsächlich so geschehen ist, und gibt es keine Methode, keine Wissenschaft, die in der Lage wäre, richtige von falschen Erinnerungen trennen zu können? Und die Antwort darauf lautet: Nein. Gibt es nicht.“

Er hat recht. Genau das ist es, was ich seit gestern Nacht empfunden habe, und genau das ist es, was ich eigentlich will. Jemanden oder etwas, das in der Lage ist, Ordnung zu schaffen. In meinen Erinnerungen aufzuräumen, Richtiges von Falschem zu trennen, zu korrigieren, gerade zu rücken, was offensichtlich schief geraten ist. Bienen gegen Marienkäfer auszutauschen und wer weiß, was noch alles an den richtigen Platz zu rücken.

„Was soll das heißen, das gibt es nicht? Irgendwie muss es doch möglich sein herauszufinden, ob die Dinge wirklich so passiert sind, wie man sich an sie erinnert.“

„Nein“, Frank schüttelt langsam den Kopf. „Unsere Gefühle kommen uns in die Quere. Ich weiß, du fragst dich, wie kann eine bestimmte Erinnerung so genau und detailliert und trotzdem falsch sein. Aber unsere Wahrnehmung ist beeinflussbar, verändert sich, wenn wir Angst haben, uns freuen, wenn wir verliebt sind oder enttäuscht. Durch all das verändert sich die Art, wie wir wahrnehmen, wird angreifbar für Fehler, empfänglich für das, was wir uns wünschen, für das, was wir nicht wahrhaben wollen. Aus unseren Wünschen können im Kopf Bilder entstehen. Bilder können sich mit Erinnerungen vermischen, und auf einmal können wir nichts mehr voneinander unterscheiden. Aber das ist meistens auch gar nicht wichtig, weil wir uns dann diese Frage gar nicht mehr stellen, weil diese Bilder dann bereits zu dem geworden sind, was unsere Erinnerung ist, und die Tatsache, dass das keine Kopie der Realität ist, spielt dann keine Rolle mehr.“

„Ingrid“, Frank sieht mich traurig und wirklich mitfühlend an, als er jetzt weiterredet. „Ich weiß, warum dir das alles so wichtig ist. Aber du warst elf Jahre alt, als es passiert ist, das ist vierunddreißig Jahre her. Du warst ein Kind und zwar ein Kind, das Angst hatte, das einem enormen Druck ausgesetzt war, von dessen Aussage unglaublich viel abhing.“

„Was willst du damit sagen? Dass es unter solchen Umständen gar nicht möglich ist, sich richtig zu erinnern?“

„Ich will damit sagen, dass jeder Mensch, jedes Kind unter solchen Umständen beeinflussbar ist und labil und dass ich nicht weiß, wie wir heute herausfinden sollen, was damals tatsächlich passiert ist und ob es mit den Erinnerungen in deinem Kopf übereinstimmt.“

„Das weiß ich auch nicht, ich dachte es gäbe einen Weg.“

Ich habe lange nicht mehr daran gedacht, an diesen Tag, der das Leben von uns allen so sehr veränderte. Das ist eigentlich merkwürdig. Man denkt doch, wenn etwas wirklich Schlimmes passiert, etwas, das einem wirklich den Boden unter den Füßen wegzieht, dass man dann für den Rest seines Lebens jeden Tag daran wird denken müssen. Aber das ist nicht so. Auch das wirklich Schlimme verblasst, schleicht sich nicht mehr jede Stunde und irgendwann auch nicht mehr jeden Tag in die Gedanken. Es ist nicht direkt ein Vergessen, es wird einfach zu etwas, das sich einreiht in eine lange Reihe anderer Ereignisse und Erlebnisse. Etwas, das zwar da ist, das aber den Griff ums alltägliche Bewusstsein gelockert hat, so dass es irgendwann, nach vielen Jahren, besonderer Umstände bedarf, um die Erinnerung wachzurufen. Ein Paar Kinderschuhe vielleicht oder einen Besuch im Elternhaus.

Als ich mit der Bahn von Frank wegfahre, schaffe ich es nicht, einen Umweg zum Haus meiner Eltern zu machen, um mein Auto abzuholen, das immer noch in einer der Nebenstraßen geparkt ist. Die letzte Nacht steckt mir in den Knochen, macht mir die Glieder schwer und lässt die Augen brennen. Mittlerweile ist es Sonntagabend, und es sind nicht mehr all zu viele Stunden, die mich vom alltäglichen Stress, der am Montagfrüh beginnt, trennen. Also beschließe ich, das Auto morgen nach der Arbeit zu holen und mich jetzt so schnell es geht in meine Wohnung zurückzuziehen.

Ich möchte gerne mit meinen Gedanken und Erinnerungen alleine sein und befürchte gleichzeitig, dass mir das nicht unbedingt gut tun wird. Und trotzdem braucht man manchmal genau das. Dann ist es das Richtige, einzutauchen in etwas Trauriges, Schmerzvolles, um dann wieder aufzutauchen und sich davon zu entfernen.

Ich muss nicht lange warten, bis mich die Erinnerung überwältigt, als ich schließlich zuhause bin und mich in der dunklen Wohnung an meinen Schreibtisch setze.

Wenn ich die Vorhänge nicht zugezogen habe, kann ich auf die Straße vor dem Haus blicken und die Sonntagabendheimkehrer beobachten, wie sie Parkplätze suchen oder ihre müden Kinder hinter sich herziehen. Ein ruhiges, müdes Treiben, das mich wie eine Art Hintergrundmusik begleitet, als ich jetzt an jenen Tag vor vierunddreißig Jahren zurückdenke.

Es war einige Wochen nachdem ich einen so unerwarteten Einblick ins Schlafzimmer meiner Eltern bekommen hatte, dort aber nicht meine Eltern, sondern meine Mutter und Paula vorgefunden hatte.

Weder meine Mutter noch Paula hatten in den Tagen und Wochen, die folgten, den Versuch unternommen, mit mir darüber zu reden, und auch meinem Vater war nicht anzumerken, ob er das gleiche Geheimnis teilte wie wir. Es war, als hätte man etwas Verbotenes gesehen, von dem man, je mehr Zeit verging, umso weniger sicher sein konnte, ob es tatsächlich passiert war. Doch das war es. Aber das wurde erst knapp zwei Monate später klar, dass hier etwas passiert war, dessen Ausmaß zunächst wohl niemandem außer meinem Vater bewusst war. Etwas, das nicht rückgängig und nicht wieder gut zu machen war. Etwas, das für meinen Vater alle Grenzen überschritten und gleichzeitig auch für ihn außer Kraft gesetzt hatte. Etwas, wodurch es keine Regeln mehr gab.

Meine Mutter gab später zu, schon eine längere Affäre mit Paula gehabt zu haben, aber auch sie konnte nicht erahnen oder wissen, an welchem Punkt mein Vater begann mitzubekommen, was in seinem Haus vorging, wenn er nicht da war.

Es war spät am Abend, ich lag schon lange im Bett und hatte schon geschlafen, weil ich am nächsten Tag in die Schule musste. Noch im Halbschlaf hörte ich irgendwann laute und aufgeregte Stimmen aus den Räumen im Erdgeschoss kommen.

Ich weiß, dass meine Eltern Paula zu Besuch hatten und irgendeinen Freund meines Vaters, den ich nicht kannte. Mein Vater hatte zum Abendessen eingeladen und sogar selber gekocht. Ich hatte mit den Erwachsenen zusammen zu Abend gegessen, es hatte Fisch gegeben, das weiß ich noch, weil ich es kompliziert und anstrengend fand, die ganze Zeit nach Gräten zu suchen.

Der Freund meines Vaters war fast direkt nach dem Essen gegangen, und ich musste nur wenig später Zähne putzen und ins Bett gehen. An mehr kann ich mich von diesem Abendessen nicht erinnern. Ich weiß nicht mehr, ob es verschwörerische Blicke zwischen Paula und meiner Mutter gab oder zweideutige Andeutungen von meinem Vater, die hätten erkennen lassen können, dass er sehr genau wusste, dass er nicht nur die beste Freundin seiner Frau eingeladen hatte, sondern auch ihre Geliebte.

Die Stimmen wurden immer lauter, während ich noch im Bett lag. Jetzt hörte ich auch deutlich, dass irgendetwas zu Boden fiel und kaputt ging.

Ich wusste, dass es nicht gut war, aufzustehen und hinunter zu gehen, ich wusste, dass ich hier oben in meinem Bett eine sichere Höhle hatte, und dass es falsch war, dieses Versteck zu verlassen. Aber ich konnte nicht anders.

Ich öffnete die Tür meines Kinderzimmers und schlich barfuß und im Schlafanzug leise ein paar Schritte den Flur entlang bis zur ersten Treppenstufe, die nach unten führte. Mit dem Öffnen der Tür waren die Stimmen schlagartig noch lauter geworden, und jetzt hörte ich auch das Weinen meiner Mutter deutlich heraus. Die Stimmen von Paula und meinem Vater schrien gerade laut durcheinander, als ich vorsichtig die ersten Treppenstufen nach unten schlich, bis ich sehen konnte, wie meine Mutter weinend vor dem Fenster stand und sich die Hand vor die Augen hielt.

Ich sehe ganz deutlich, wie mein Vater ausholt und seine rechte Hand Paula mitten ins Gesicht trifft. Paula taumelt zurück, fängt sich aber wieder und hält sich die Hand vor die blutende, aufgeplatzte Lippe. Meine Mutter schreit auf, als sie Paula so sieht, will zu ihr stürzen, aber mein Vater hält sie zurück und stößt sie in die andere Ecke des Zimmers, von Paula weg.

Ich werde nie diesen Blick vergessen, mit dem sich meine Mutter und Paula jetzt ansehen. Ein Blick, der sagt, dass hier gerade alles außer Kontrolle gerät, ein Blick, der darum weiß, dass jetzt alles möglich ist, weil alle Regeln außer Kraft gesetzt sind. Etwas muss geschehen.

Mein Vater dreht sich zum Schreibtisch um, der an der rechten Wand des Wohnzimmers steht, ungefähr dort, wo sich meine Mutter gerade befindet, und dreht Paula damit den Rücken zu.

Als sich Paula jetzt umdreht und zu dem Kaminhaken greift, der hinter ihr an der Wand hängt, tropft ihr ein bisschen Blut von ihrer Lippe auf den Boden, und ich denke, dass diese dunklen Flecken auf dem dunklen Teppich genauso aussehen, als würde ich mit Kakao vor dem Fernseher auf den Boden kleckern. Das weiß ich noch, dass mich das erstaunt hat.

Genau in dem Moment, als mein Vater die Schreibtischschublade öffnet und hineingreift, trifft ihn der Kaminhaken am Hinterkopf, und er fällt sofort seitlich zu Boden. Einen langen Moment geschieht gar nichts, bis Paula den Kaminhaken endlich fallen lässt und sich vorsichtig über meinen Vater beugt. Ich kann von hier aus sehen, dass sein Hinterkopf feucht und strähnig vom Blut ist.

Paula fasst ihn jetzt fest an der Schulter und dreht ihn mit einer einzigen kräftigen Bewegung auf den Rücken. Im gleichen Moment öffnet mein Vater die Augen und sieht Paula an. Wieder scheint die Zeit sich zu verlangsamen, und der Moment, in dem nichts geschieht, außer dass mein Vater Paula ansieht, dehnt sich aus und schließt uns alle in ein Vakuum ein, in dem es keine Luft mehr zum Atmen gibt. Merkwürdig, dass ein einzelner Augenblick das kann, die Zeit anhalten.

Das Vakuum wird von einem Schuss durchbrochen, als mein Vater abdrückt. Paula wird sofort nach hinten geschleudert. Als sie fällt, prallt sie erst gegen den Couchtisch und landet dann seitlich davon auf dem Boden. Die Kugel hat ein Loch in ihre linke Schläfe gerissen, aus dem jetzt erstaunlich schnell sehr viel Blut auf den Teppich fließt. Schnell sammelt sich eine große, triefende Pfütze um ihren Kopf herum, die den Teppich jetzt glänzend und tief schwarz färbt und keinerlei Ähnlichkeit mehr mit Kakaoflecken hat.

Niemand sagt etwas, niemand schreit. Es ist jetzt ganz still im Haus. Ich stehe immer noch auf der Treppe und spüre jetzt, wie ich vor Kälte zittere. Erst nach einer Weile höre ich wieder etwas, als meine Mutter die Hand vor den Mund schlägt und „Oh Gott“ sagt, als sie mich auf der Treppe stehen sieht.

Es war Frederik, der sich in dieser Nacht um mich kümmerte. Ich weiß nicht, ob meine Mutter Frederik anrief, weil er so ein enger Freund war oder weil sie ihre Tochter vorsorglich lieber gleich in die Hände eines Psychiaters geben wollte.

Als mich Frederik aus meinem Zimmer holte, vielleicht ein oder zwei Stunden später, war Paula vom Wohnzimmerteppich verschwunden und nicht nur das, ein großes Stück Teppich war bereits auch verschwunden.

Meine Eltern hatten an der Fensterwand des Wohnzimmers angefangen, den gesamten Teppich zu entfernen, waren aber noch nicht bis zu der dunklen Pfütze neben dem Couchtisch gekommen, von der ich nicht die Augen abwenden konnte, als ich mich am Treppengeländer festhielt. Ich weiß nicht mehr warum, aber ich weiß, dass ich diesen Ort nicht verlassen wollte, dass ich nicht mit Frederik aus dem Haus gehen wollte. So fest ich konnte klammerte ich mich ans Treppengeländer, bis meine Mutter und Frederik schließlich meine Finger vom Geländer lösten und mich zur Haustür zogen.

Das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe, verschwitzt, mit von Blut verschmierten Haaren, wie er sich mit einem Stück Teppich in der Hand immer mehr der schwarzen Pfütze auf dem Boden nähert.

Mein Vater war in dieser Nacht für immer aus meinem Leben verschwunden. Meine Mutter gab später an, er habe Paula, nachdem er sie erschossen hatte, in ein Stück des Teppichs gewickelt und in den Kofferraum seines Autos gebracht. Nachdem er alle Telefonleitungen im Haus durchtrennt hatte, habe er zwei Taschen mit seinen wichtigsten Sachen gepackt, alles Bargeld eingesteckt, das sich im Haus befand, und sei dann im Auto mit der Leiche verschwunden.

Meine Mutter gab weiter an, dass sie unter Schock stehend und aufgrund der durchgeschnittenen Telefonleitungen nicht eher die Polizei hatte rufen können. Außerdem sei ihr Mann immer noch im Besitz der Waffe gewesen, mit der er kurz zuvor ihre Freundin erschossen hatte.

Nichts von all dem tauchte jemals wieder auf, weder das Auto noch Paulas Leiche noch mein Vater.

Die Polizei vermutete, Auto und Leiche seien in einem der zahlreichen Gewässer in der Umgebung versenkt worden, aber trotz intensiven Suchens wurde man nicht fündig. Man nahm an, meinem Vater sei es eventuell gelungen, ins Ausland zu fliehen, hielt das aber für weniger wahrscheinlich als die Vermutung, er habe sich selbst das Leben genommen, nicht mehr in der Lage, mit dem Verlust seiner Familie und seiner Schuld zu leben.

Das habe ich mir nie vorgestellt. Wenn ich an meinen Vater denke, stelle ich mir immer vor, dass er noch lebt, irgendwo. Und ich habe auch nie geglaubt, dass er irgendetwas bereuen würde. Ich habe ihn lange vermisst. Ich habe die Tragweite der Ereignisse erst nach und nach begriffen, verstanden, dass er nicht zurückkommen würde, dass das Warten ein Warten ohne Ziel war. Jetzt ist er ein Gespenst, das durch meine Kindheit schleicht, das immer entwischt, wenn ich nach ihm greifen will, das nur dann ganz deutlich und klar wird, wenn ich an diese Nacht vor vierunddreißig Jahren zurückdenke.

Zwei schlaflose Nächte hintereinander scheinen mir einfach rein physisch nicht mehr möglich zu sein. Also schlafe ich spät am Abend erschöpft ein und wache am nächsten Morgen beinahe genauso erschöpft auf.

Müde quäle ich mich durch einen relativ ereignislosen Arbeitstag, breche sehr rechtzeitig vom Büro auf, weil der Umweg zum Haus meiner Eltern, wo immer noch mein Auto geparkt steht, nicht gerade kurz ist. Ich beschließe, schnell bei meiner Mutter und Frederik vorbeizuschauen, um wenigstens zu sagen, dass es ein netter Geburtstagsabend war, und um mich bei meiner Mutter für die Schuhe zu bedanken, die sie mir herausgesucht hatte.

Das Haus wirkt auf den ersten Blick unbeleuchtet, als ich über die Einfahrt auf die Vordertür zugehe. Vor dem Haus stehen jedoch die Autos von Mutter und Frederik und, abgesehen davon, ein mir fremder, dunkler Mercedes.

Alle Fenster, die man von der Einfahrt aus sehen kann, sind dunkel, sowohl im Erdgeschoss als auch im ersten Stock. Also sitzen die beiden mit ihrem Gast aus unerfindlichen Gründen entweder im Dunkeln oder halten sich an diesem kühlen Herbstabend im Garten auf. Beides erscheint unwahrscheinlich und seltsam. Seltsam genug, dass ich ohne zu läuten um das Haus herum gehe und zunächst einen Blick in den Garten werfen will.

Der Garten liegt still und dunkel da, so still, dass ich das Herbstlaub unter meinen Füßen höre.

Die Gardinen sind zugezogen, aber man kann erkennen, dass dahinter in der Küche ein schwaches Licht brennt und sich Personen hinter der Gardine hin und her bewegen. So lange ich denken kann, war die Gardinenstange schon immer ein kleines bisschen kürzer als die große Fensterfront zum Garten hin. Merkwürdig eigentlich, dass das in all den Jahren nie geändert wurde.

Ich stelle mich rechts neben das Fenster, ganz dicht an die Hauswand, so dass ich vorsichtig durch den kleinen Spalt zwischen Gardine und Küchenwand sehen kann und sich jemand von der anderen Seite schon genauso dicht ans Fenster stellen müsste, um mich sehen zu können. Ich merke die Kälte der Hauswand an Rücken und Schulter, während ich jetzt so dastehe und versuche, etwas durch diesen kleinen Spalt erkennen zu können.

Ich sehe Frederik mit dem Rücken zu mir stehend, energisch gestikulierend, redend. Wenn ich meinen Kopf noch ein wenig weiter drehe, sehe ich auch den Oberkörper und den Kopf meiner Mutter, wie sie an der Spülmaschine lehnt und in die Richtung starrt, in der noch eine dritte Person steht, die ich aber nicht sehen kann. Meine Mutter sieht nicht gut aus. Sie ist bleich im Gesicht und hat dunkle Ränder unter den Augen. Sie bewegt sich kaum, starrt nur vor sich hin.

Am Schatten, der sich hinter dem Vorhang bewegt, ist deutlich zu erkennen, dass die dritte Person im Zimmer auf und ab geht, aber nie weit genug in mein kleines Sichtfeld kommt, um sie erkennen zu können.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich meine Mutter jetzt zur Spüle umdreht und ein Glas mit Wasser füllt. Als sie das Glas mit einer zitterigen Bewegung zum Mund führen will, rutscht es ihr aus der Hand, und das Geräusch, als es auf dem Boden zersplittert, ist so laut, dass ich es sogar hier draußen höre. Meine Mutter bückt sich zu den Scherben hinunter, und jetzt kommt mit einer schnellen Bewegung die dritte Person ins Bild, bückt sich jedoch ebenfalls sogleich zu Boden, so dass ich nur kurz einen Blick auf die langen, grauen Haare einer Frau mit kräftiger Statur erhaschen kann. Als sie mit der Hand voller Scherben wieder hochkommt und ich ihr Gesicht sehen kann, bin ich wie erstarrt. Diesen Blick, diese Augen erkenne ich in der Sekunde, in der ich sie sehe, nur dass ich gerade etwas sehe, was eigentlich nicht möglich sein kann. Ich sehe ein Gespenst. Ein Gespenst, das seit Jahrzehnten ein Loch im Schädel haben sollte, dessen Blut ich vor vierunddreißig Jahren unseren Teppich habe schwarz färben sehen. Ich sehe das um vierunddreißig Jahre gealterte Gesicht von Paula, da gibt es nicht den geringsten Zweifel.

Stocksteif und frierend stehe ich noch einen Moment länger an die Wand gelehnt da und merke, wie mir langsam die Übelkeit die Kehle empor kriecht, wie ein pelziges, uraltes Tier, das sich den Weg nach draußen sucht. Ich drücke mir die Hand vor den Mund, um mich nicht gleich hier an Ort und Stelle übergeben zu müssen und damit mir kein sonst wie gearteter Laut entfährt. Ich will schreien und losrennen, aber irgendwie schaffe ich es, meinen Körper zu beherrschen und mit einer Hand vor den Magen und mit der anderen vor den Mund gepresst, langsam und fast geräuschlos durch den Garten zurück zur Einfahrt zu gehen.

Aber hier schaffe ich es nicht mehr, mich zurückzuhalten, renne los mit einem schon säuerlichen Geschmack im Mund, bis ich mich eine Minute später vor meinem Auto übergeben muss. Nicht nur mein Magen und meine Kehle, mein ganzer Körper krampft sich zusammen und wird minutenlang von einem mir endlos vorkommenden Würgen geschüttelt. Als ich es schaffe, in den Wagen zu steigen, sitze ich schweißüberströmt und zitternd da und fühle mich, als hätte jegliche Kraft meinen Körper verlassen. Mein Kopf ist leer. Zusammenhängende Gedanken gibt es nicht. Nur dieses Gespenst, dieses Gesicht in meinem Kopf.

Ich muss zu Frank. Das ist der einzige Gedanke, den ich jetzt klar erkenne. Frank muss mir helfen, mit dem, was ich gerade gesehen habe, irgendetwas anzufangen, irgendetwas Rationales, Klares, Kühles, was mich nicht verschluckt wie ein schwarzes Loch.

Die Autofahrt ist unruhig und unsicher. Ich kann mich kaum konzentrieren, aber es gelingt mir irgendwie, ohne Unfall vor Franks Haus zu parken. Als er überrascht die Tür öffnet, gehe ich ohne ein Wort zu sagen mit schnellen Schritten an ihm vorbei, direkt ins Bad, wo sich dieses würgende Geschüttel und Gezerre an meinen Eingeweiden wiederholt.

Dann liege ich verschwitzt und immer noch zitternd auf Franks Couch, in eine Wolldecke gehüllt, und ich versuche, langsam und ruhig ein- und auszuatmen, bis das Zittern endlich verschwindet.

„Es ist etwas passiert“, fange ich an zu erzählen und halte mich an Franks besorgtem Gesicht fest, während ich ihm jetzt berichte, was ich gerade eben gesehen und erlebt habe.

Als ich fertig bin, ist sein Gesichtsausdruck nur noch besorgter geworden.

„Ich weiß, die Frage wirst du jetzt nicht gerne hören, aber bist du dir wirklich absolut sicher, dass diese Frau Paula war? Schließlich hast du sie seit vierunddreißig Jahren nicht gesehen.“

„Ich bin mir sicher. Ich war mir in der ersten Sekunde sicher, als ich sie gesehen habe. Alles an dieser Frau ist Paula, die Augen, die Haare, der Rücken, die Art, wie sie sich da in der Küche bewegt hat. Ich bin mir absolut sicher. Paula lebt, Frank, aber wie kann das möglich sein, nach all dem was damals passiert ist, wie kann man so etwas denn überleben?“

„Ja“, sagt Frank jetzt. „Und wenn du recht hast, ist das nicht die einzige Frage. Was hat dein Vater mit ihr gemacht, als er mit ihr weggefahren ist, warum hat sie nie Anzeige erstattet, und wo war sie in all den Jahren, warum ist sie nie wieder aufgetaucht?“

„Und warum taucht sie jetzt, nach vierunddreißig Jahren zum ersten Mal wieder auf?“, frage ich mich.

„Vielleicht war es ja gar nicht das erste Mal.“

In dem Schweigen, das jetzt entsteht, fühlt es sich so an, als würde sich irgendetwas im Dunkeln an uns heranschleichen. Etwas Gerissenes und Verschlagenes, das langsam seine Netze über uns auswirft und diese allmählich zuzieht. Es ist, als würde ich aus dem Dunkeln heraus von etwas beobachtet, das ich selber nicht sehen kann.

Frank kneift die Augen zusammen, um sich besser konzentrieren zu können.

„Was ist, wenn Paulas Verletzung damals gar nicht so stark war, wie du sie in Erinnerung hattest? An traumatische Ereignisse kann man sich in der Regel besser erinnern, als an andere, ganz normale, aber auch die sind kein genaues Abbild von Erlebnissen, wie sie wirklich passiert sind. Deine Erinnerung kann vielleicht verzerrt gewesen sein, vielleicht war Paula nur angeschossen.“

„Und warum sollte meine Mutter dann die verwirrte und verzerrte Aussage eines elfjährigen Kindes bestätigen, wenn sie gar nicht der Wahrheit entsprochen hat?“

„Wenn du dich an die Nacht damals erinnerst, siehst du dann all das genau vor dir? Alles, was passiert ist, und auch die tote Paula?“

„Ja.“ Ich schließe die Augen und sehe sofort einzelne Bilder, Schnappschüsse, aus jener Nacht vor mir. „Ich sehe seit vierunddreißig Jahren immer die genau gleichen Bilder, aus genau der gleichen Perspektive, immer den gleichen Ablauf. Wie eingebrannt. Und ich sehe Paula tot auf dem Wohnzimmerteppich liegen. Ihr hat, verdammt noch mal, der halbe Kopf gefehlt.“

Frank sieht mich aufmerksam und ernst an, als würden gerade die Gedanken in seinem Kopf ineinander greifen und als wäre er sich nur noch nicht sicher, ob diese Gedanken zu der Frau vor ihm passen.

„Erzähl mir, was nach dieser Nacht passiert ist, wie es dann weiter ging, mit dir meine ich.“

„Ich war viel bei Frederik“, erzähle ich jetzt und erinnere mich nur verschwommen an diese erste Zeit danach zurück. „Ich weiß nicht, daran erinnere ich mich viel weniger genau als an diese Nacht. Auf jeden Fall war ich den Rest der Nacht und auch den folgenden Tag über bei Frederik, bis alles in Gang kam, die Ermittlungen und so. Vielleicht war ich auch länger da, ich weiß es nicht, das verschwimmt alles irgendwie. Auf jeden Fall habe ich Frederik ständig gesehen in dieser Zeit.“

„Wollte das deine Mutter so? Bist du nicht auch sofort danach psychologisch betreut worden?“

„Doch, deswegen habe ich ihn ja ständig gesehen.“

„Ihn? Soll das heißen Frederik war dein Therapeut in dieser Zeit?“, Frank scheint erstaunt und sieht mich gleichzeitig immer forschender an.

„Ja.“ Ich zögere. „Stimmt etwas nicht damit?“

„Ich weiß nicht, Frederik hatte, soviel ich weiß, nie etwas mit Kinderpsychologie zu tun. Ich meine, er ist fachlich unglaublich kompetent, und ich kenne seine Arbeit, aber er war einfach nie ein Kindertherapeut. Und er war so nah dran an euch, an allem, warum hat er dir nicht einen Kollegen besorgt, der sich mit traumatischen Erlebnissen bei Kindern auskannte?“

„Ich weiß nicht“, antworte ich verwirrt. „Vielleicht wollte er einfach meiner Mutter einen Gefallen tun.“

„Ja, vielleicht.“ Frank wirkt nicht überzeugt. „Erzähl mir noch mehr. Wie war das, die Therapie bei Frederik, an was kannst du dich noch erinnern?“

Ich muss mich anstrengen, um die Erinnerung an ein paar brauchbare Informationen zurückzuholen.

„Die Sitzungen bei Frederik fingen, glaube ich, ein paar Tage nach dieser Nacht an. Am Anfang musste ich wahnsinnig oft dahin, in seine Praxis, die er damals hatte. Ich glaube in den ersten zwei Wochen war ich täglich da. Meine Mutter brachte mich hin und holte mich ab. Ein paar Mal brachten mich auch irgendwelche Leute von der Polizei hin. Dann, nach einer Weile, vielleicht waren es zwei Wochen, wurden die Sitzungen seltener, und irgendwann musste ich nur noch alle paar Monate zu Kontrollterminen, zu denen ich nie wollte.“

„Was weißt du noch aus den Sitzungen mit Frederik? Wie liefen die ab, wie war er und auf welche Weise habt ihr über all das, was passiert war, geredet?“

Ich versuche nachzudenken, zurückzudenken, mich zu erinnern, aber da ist nichts. Ich sehe vage vor mir, wie das Therapiezimmer in Frederiks Praxis ausgesehen hat, und ich kann mich auch noch grob an das Wartezimmer erinnern. Frederiks Sekretärin oder Arzthelferin hieß Doris, sie war blond und sehr nett, das weiß ich noch. Aber alles andere fühlt sich wie ein nebliges, graues Loch an.

„Nichts“, sage ich jetzt erschrocken. „Ich erinnere mich an gar nichts mehr.“

Ich spüre, wie mir die Tränen übers Gesicht laufen und ich erneut das Gefühl habe, dass alle Kraft meinen Körper verlässt.

„Wir sollten jetzt erst einmal schlafen“, sagt Frank jetzt ganz ruhig, „und morgen weiter überlegen. Es ist schon spät, und du bist völlig erschöpft. Ich gebe dir was, damit du ein paar Stunden durchschlafen kannst.“

Es ist gut, sich in den Schlaf zu flüchten, auch wenn ich erst nicht daran glaube, dass mir das heute Nacht gelingen wird. Aber was auch immer mir Frank gegeben hat, es wirkt schnell. Ich spüre nur noch, wie eine zusätzliche Decke über mir ausgebreitet wird und wie dann alles dunkel und ruhig wird.

Ich wache mit schweren Gliedern und ein wenig orientierungslos am nächsten Tag auf. Mein Körper scheint an diesem Tag nicht für Bewegung geschaffen zu sein und wird wie mit schweren Gewichten behangen auf der Couch gehalten.

Dass ich für die Arbeit zu spät bin, ist mir sofort klar, aber beim Blick auf die Uhr stelle ich jetzt erschrocken fest, dass mich Franks Schlaftabletten bis zum nächsten Nachmittag außer Gefecht gesetzt haben. Die Sonne steht schon wieder tief am Himmel, es ist schon fast drei Uhr.

Auf dem Couchtisch sehe ich diverse Utensilien für mich ausgebreitet, wie ein liebevoller Erstehilfe-Kasten nach einem schrecklichen Abend und einer anstrengenden Nacht. Ein Glas Wasser, eine Packung Kopfschmerztabletten, eine Thermoskanne mit Kaffee, ein Stapel Bücher und ein Zettel, auf dem mir Frank mitteilt, er sei gegen sechs von der Arbeit zurück. Ich solle ruhig solange bei ihm bleiben, mir die Bücher ansehen, die er rausgelegt hat, und mir ansonsten erst mal keine Sorgen machen. Außerdem habe er bei meiner Arbeit angerufen und mich für heute krank gemeldet. Ich merke, wie mir abermals die Tränen in die Augen schießen, diesmal aber vor Dankbarkeit, dass ich Frank habe.

Auf dem Couchtisch liegen mindestens vier, fünf Bücher, die an vielen Stellen mit kleinen, gelben Post-its versehen sind. Ich halte den Kopf schräg, um die Titel lesen zu können. Allesamt sind psychologische Fachbücher, sogar eins über Freud. Doch bevor ich auch nur ein Buch anheben kann, brauche ich zunächst andere Maßnahmen. Ich nehme mir zwei von den Kopfschmerztabletten, gehe unter die Dusche und koche frischen Kaffee.

Ich greife mir das erste Buch vom Stapel, das sich laut Titel mit der Psychoanalyse und dem Einsatz von Hypnose beschäftigt, und fange beim ersten Post-it an zu lesen.

Ich lese, was Freud über frühkindliche Erinnerungen gedacht hat, dass diese oft keine Abbilder der Wirklichkeit sind, sondern eher Gedächtnistäuschungen, mit deren Hilfe man später den Geschehnissen, die sich tatsächlich zugetragen haben, ausweichen kann. Dementsprechend hält es Freud für ein Hauptziel der Psychoanalyse, die wirkliche Realität aufzudecken, die hinter diesen falschen Erinnerungen steckt.

Freud. Ich wusste nie so richtig, was ich davon halten soll. Ich lese weiter über Erinnerungen in der Therapie, lese, dass der Psychoanalytiker selbst immer die Art und Weise, wie sich ein Patient in der Therapie an etwas erinnert beeinflusst, unausweichlich, ob er will oder nicht.

Jetzt geht es um Hypnose, und ich lese, dass Freud immer auf den Einsatz von Hypnose in der Therapie verzichtet hat, weil er herausfand, dass die so zutage geförderten Erinnerungen häufig ausgedacht waren. Irgendetwas in mir fühlt sich nicht mehr gut an. Hier steht es, schwarz auf weiß, dass hypnotisierbare Individuen bei entsprechenden hypnotischen Befehlen dazu neigen, Gedächtnistäuschungen zu produzieren.

Ich überlege und komme zu dem beunruhigenden Schluss, dass man sich also, egal ob mit oder ohne Therapie, in keiner Weise auf seine Erinnerungen verlassen kann. Man hat Experimente gemacht, natürlich. Irgendwann gab es ja immer Experimente zu irgendetwas, und man fand heraus, dass Versuchspersonen, die einem starken sozialen Druck zur Hervorbringung bestimmter Erinnerungen ausgesetzt waren, sich häufig an Ereignisse erinnerten, die nie stattgefunden hatten.

Wie kann das möglich sein, denke ich, wie können wir nur so schwach sein, so beeinflussbar, so angreifbar. Alles erscheint mir jetzt gerade wie eine einzige gigantische Fehlkonstruktion.

Ein Name taucht jetzt immer wieder auf. Elisabeth Loftus, eine amerikanische Forscherin, auch so eine die herumexperimentiert hat. Tatsächlich beschäftigt sich gleich ein ganzes Buch mit ihr und ihren Experimenten, und als ich zu lesen beginne, bin ich sofort gefesselt von dieser Frau und ihren ungewöhnlichen Versuchen. Implantierte Erinnerungen nennt man das, schon wieder so eine Fehlkonstruktion, irgendwie sind wir wirklich Mangelware.

Beschrieben wird hier die Geschichte von Chris Coan und seinem älteren Bruder Jim. Jim steckte sozusagen mit Frau Loftus unter einer Decke und erzählte seinem Bruder Chris, auf ihre Anweisung, als dieser vierzehn Jahre alt war, drei Geschichten aus Chris´ Kindheit, die sich tatsächlich so zugetragen hatten und eine komplett erfundene. Er erzählte ihm, wie Chris im Alter von fünf Jahren in einem Einkaufszentrum verloren gegangen sei, bis ihn seine Mutter in Begleitung eines fremden Mannes wieder gefunden habe. Chris war nicht in der Lage, die falsche von den echten Erinnerungen zu unterscheiden, im Gegenteil, er erinnerte sich sogar sehr genau an dieses schreckliche Erlebnis im Einkaufszentrum, erinnerte sich daran, wie er geweint hatte und was für schreckliche Angst er gehabt hatte. Ich bin fassungslos.

Und tatsächlich gibt es eine Möglichkeit, noch effektiver und leichter die Erinnerung zu manipulieren - Bilder. Frau Loftus hatte nämlich noch ein bisschen weiter experimentiert. Sie hatte Kinderfotos von ihren Versuchspersonen in Fotos von einer Ballonfahrt hineinmontiert. Als sie ihren Versuchspersonen die Fotos zeigte, in denen sie zusammen mit ihren Verwandten in einem Heißluftballon schwebten, konnte sich die Hälfte dieser Personen tatsächlich genau an diese aufregende Ballonfahrt erinnern, die nie stattgefunden hatte.

Fasziniert und gleichzeitig auch resigniert klappe ich die Bücher zu und lasse mich wieder kraftlos auf die Couch fallen.

Es muss einen Grund geben, dass ich mich nicht an meine Therapiestunden bei Frederik erinnern kann. Und offensichtlich hat Frank bei seinen Nachforschungen der letzten Nacht gedacht, die Antwort darauf sei irgendwo in diesen Büchern und Experimenten zu finden.

Ich frage mich, ob es nicht Aufzeichnungen geben müsste, Akten, die irgendwo archiviert sind, irgendetwas, was den Verlauf dieser Therapie vor vierunddreißig Jahren dokumentiert hat. Frederik hat seine Praxis vor mindestens zwanzig Jahren aufgegeben und, so viel ich weiß, seitdem nur im klinischen Bereich gearbeitet, aber irgendwo müssen doch noch Unterlagen aus seiner Praxiszeit existieren. Doch die Frage ist nicht nur, wo, sondern auch, wie man gegebenenfalls da herankommen könnte. Ich werde in meinen Gedanken unterbrochen, als ich höre, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird und ich Frank sehe, wie er leise und auf Socken ins Wohnzimmer schleicht.

„Du bist noch hier“, sagt er erfreut, „und wach. Du siehst schon wieder viel besser aus.“

„Ja“, sage ich. „Ich fühle mich auch ein bisschen besser, aber ich bin so verwirrt. Ich weiß nicht, was ich mit all dem anfangen soll, mit Paula gestern Abend, mit den Therapiestunden bei Frederik, mit all dem hier“, sage ich und deute schwach auf den Stapel Bücher auf dem Couchtisch.

„Frank, sag mir ehrlich, was du denkst. Hältst du es für möglich, dass ich in diesen Therapiestunden manipuliert worden bin? Durch Hypnose oder was auch immer? Dass Frederik irgendwie in meinem Kopf herumgepfuscht hat, so dass etwas ganz anderes herausgekommen ist als das, was wirklich geschehen ist?“

„Ich weiß nicht. Ich habe viel darüber nachgedacht in der letzten Nacht, und wenn du heute ein wenig in den Büchern hier gelesen hast, dann weißt du, dass es absolut möglich ist. Ich meine die Bedingungen waren im Grunde perfekt. Du warst ein Kind, du standest unter Schock, der Druck auf dich war enorm, was deine Erinnerung an die Einzelheiten dieses Abends anging. Und Frederik war ein enger Freund der Familie, eine vertraute Person, du hattest keinen Grund, ihm zu misstrauen. Die Frage ist nur, ob es, nur weil es möglich war, auch wirklich so gewesen ist und vor allem, warum?“

Ich erzähle Frank von meiner Vermutung, dass irgendwo noch alte Aufzeichnungen und Akten von diesen Therapiestunden existieren könnten.

„Ja“, sagt er nachdenklich. „Vermutlich hast du sogar recht. Gerade wenn es um einen Fall ging, in den auch polizeiliche Ermittlungen mit eingebunden waren, müsste es auf jeden Fall eine Dokumentation dieser Therapiestunden gegeben haben. Aber andererseits wird niemand, der in seinen Therapiesitzungen ein elfjähriges Kind manipuliert hat, das dann auch noch in seiner Patientenakte festhalten.“

„Nein, aber vielleicht kann jemand, der sich auskennt, Fehler entdecken. Du weißt schon, Hinweise, irgendetwas, das nicht stimmt, jemand wie du.“

Frank und ich sehen uns einen Moment lang schweigend an. Es ist einer dieser Momente, in denen stillschweigend aus einem Gedanken ein Plan wird.

„Also gut“, sagt Frank jetzt. „Mal angenommen diese Akte würde existieren, wo müsste man dann danach suchen? Die alte Praxis von Frederik gibt es doch seit Ewigkeiten nicht mehr.“

Ich überlege. „Im Prinzip muss es ja um viele Akten gehen, die in seiner Praxiszeit entstanden sind und die er irgendwo gelagert haben muss. Unser Haus wäre auf jeden Fall groß genug, um massenweise Akten unterzubringen, und er hat ein eigenes Arbeitszimmer im ersten Stock.“

„Ja“, sagt Frank unentschlossen. „Das könnte sein, aber ist irgendwie auch unwahrscheinlich. Ich meine, würdest du die Akte über eine Patientin, die du manipuliert hast, da aufbewahren, wo genau diese Patientin einfach so hineinspazieren und die Akte entdecken könnte, wenn sie wollte?“

„Nein“, sage ich etwas resigniert, und wieder entsteht ein schweigsamer Moment, in dem wir beide vor uns hinstarren.

„Die Klinik“, sagt Frank schließlich entschlossen. „Die Klinik muss ein Archiv haben, das zum einen groß genug ist und zum anderen nicht zugänglich für Privatpersonen.“

„Ja, du hast recht. Die Frage ist nur, wie soll ich als genau so eine Privatperson eine bestimmte Akte aus diesem Archiv holen, ohne mit Frederik in Kontakt zu treten?“

Unser Plan ist zugegebenermaßen nicht sehr kompliziert. Aber immerhin hat er den Vorteil, dass, wenn etwas schief gehen sollte, nur ich diejenige bin, die in Schwierigkeiten steckt.

Ich bleibe eine weitere Nacht bei Frank. Wir essen gemeinsam zu Abend, reden noch lange über all die Fragen, die unsere Überlegungen und Theorien hinterlassen.

Der nächste Morgen beginnt früh für uns. Wir verlassen vor acht die Wohnung und fahren zunächst beide mit dem eigenen Auto zu dem Krankenhaus am anderen Ende der Stadt, in dem Frank arbeitet.

Frank händigt mir einen seiner weißen Kittel und eine weiße Hose aus, und ich fahre sofort weiter zu meiner eigenen Wohnung, wo ich mich umziehe und die weiße Hose noch mit einem weißen T-Shirt und weißen Turnschuhen ergänze. Immer hektischer werdend durchsuche ich einen Aktenordner, bis ich endlich gefunden habe, was ich suche. Ruhig, ich muss jetzt ruhig bleiben, meinen Atem kontrollieren, normal wirken. Jemand der früh am Morgen ein bisschen verschlafen zur Arbeit kommt, nicht jemand der sich mit roten Flecken im Gesicht und schwer atmend hektisch umsieht. Normal. Ruhig.

Die Klinik, in der Frederik arbeitet ist groß, die größte im Umkreis

für Psychiatrie und Neurologie. So groß, dass hoffentlich niemand von den Angestellten genau im Blick hat, wer noch alles jeden Morgen in diesem großen hellen Bau verschwindet.

Wie ein Termitenhügel, denke ich, als ich auf den Parkplatz für Besucher komme und mir im Inneren ein Gewimmel von Fluren, Etagen und Fahrstühlen vorstelle. Und genau so ist es auch. Im Inneren wirkt alles unüberschaubar verzweigt und verschlungen, groß, weiß und kühl.

In der letzten Nacht haben Frank und ich einige Zeit damit verbracht, uns auf der Internetseite der Klinik den Aufbau der einzelnen Abteilungen anzusehen. Und tatsächlich gibt es sogar mehrere Archive hier. Die Neurologie hat ihr eigenes Archiv, die Psychiatrie auch, dieses ist jedoch noch einmal unterteilt in ein Archiv der geschlossenen und eins der offenen Abteilung.

Unsere Vermutung war, dass man, sofern man tatsächlich etwas zu verstecken hat, es dort versteckt, wo man es am besten kontrollieren kann, wo man es möglichst gut im Blick hat. Deshalb würde unser erster Anlaufpunkt das Archiv der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie sein, Frederiks Abteilung. Hier hat er sein Büro, hier ist sein Reich, hier ist er der Herrscher. Von meiner Mutter weiß ich jedoch, dass der Herrscher sein Reich nie vor zehn Uhr betritt. Immerhin ein Luxus, den er sich jetzt im Alter wohl doch erlaubt, den allerdings meine Mutter wenig zu schätzen weiß, die ihre Morgende lieber allein verbringt und Frederik morgens möglichst schnell aus dem Haus haben will.

Um zum Archiv zu gelangen, muss man einmal komplett die gesamte geschlossene Abteilung durchqueren.

Ich bin noch nie in einer Psychiatrie gewesen, erst recht nicht in einer geschlossenen Abteilung. Ich bin mir nicht sicher, was ich hier erwartet habe, vermutlich, dass alles irgendwie freundlicher wirken würde, wärmer, bunter, weniger klinisch. Aber das tut es nicht.

Ein kompakter Pfleger schließt mir die Tür auf, als ich läute, und sieht mich erst fragend, dann aber freundlich an. Er hat einen Bart und die langen Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zurück gebunden. Auf die Frage, wohin ich möchte, sage ich kurz aber höflich: „Zum Archiv, Akteneinsicht für Prof. Neumann aus der Neurologie.“

Als er beginnt, mir zu beschreiben, wo ich das Archiv finde, versuche ich, möglichst beiläufig abzuwinken und sage: „Ja, danke, ich kenne den Weg.“

Er nickt nur, und ich sehe ihm hinterher, wie er im Stationszimmer verschwindet.

Ein langer Flur streckt sich vor mir aus. Alles wirkt sehr hell, sehr weiß, sehr sauber. Ich sehe keine Patienten auf dem Flur, es ist sehr still. Ein bisschen zu still für eine Klinik. Reden erscheint unangemessen, und meine Schritte auf dem Linoliumboden sind zu laut.

Ich weiß, dass ich den Flur nur gerade durchgehen muss, ganz am Ende rechts abbiegen und dann sofort wieder links. Am Ende dieses Flures müsste sich dann das Archiv befinden.

Ich versuche, beim Gehen automatisch meine Schritte zu dämpfen und wundere mich weiter, wo all die Patienten sind. Umso mehr erschrecke ich mich, als ich jetzt links an einer Art Aufenthaltsraum vorbeikomme und einen jungen Mann auf dem Boden sitzen sehe.

Ganz ruhig sitzt er da, hunderte von Puzzleteilen auf dem Boden um ihn herum verteilt. Er sieht mich genau an, er hat ganz klare, blaue Augen. Es ist schwer zu schätzen, wie alt er ist, er hat eher das Gesicht eines Jungen als das eines erwachsenen Mannes. Er sieht unglaublich hübsch aus. Er hätte Renaissancemalern Modell stehen können, denke ich, die auf der Suche nach dem perfekten Gesicht waren, nach der absoluten Harmonie.

Wie aus einem Reflex heraus sage ich: „Hallo.“

Der Junge sieht mich als Antwort nur weiter unverwandt an.

„Bist du ganz alleine hier? Wo sind denn all die anderen?“

Statt zu antworten, zeigt er auf eine Tür schräg gegenüber, die von der rechten Seite des Flurs abgeht. Ich nicke stumm und deute auf all die verstreuten Puzzleteile auf dem Boden.

„Was wird denn das für ein Bild, wenn du damit fertig bist?“

„Himmel“, sagt er nur.

Und tatsächlich sehe ich nur blaue und weiße Puzzleteile, als ich auf den Boden blicke. Ich gehe in die Hocke und frage verblüfft: „Du machst ein so großes Bild nur mit Puzzleteilen vom Himmel?“

Er nickt nur und sieht mich weiter an.

„Wie heißt du?“, will ich jetzt wissen.

„James“, antwortet er, wieder mit dieser weichen, warmen Stimme.

„Okay James, ich muss jetzt weiter, war schön, dich kennen gelernt zu haben.“

Ich spüre, wie er mir hinterher blickt, während ich den Aufenthaltsraum verlasse und wieder in den Flur einbiege. Ich komme an vielen Zimmern vorbei, ganz am Ende des Flurs, kurz bevor ich rechts abbiegen muss, steht an einer der Türen „Dr. Frederik Grabe“. Ich sehe reflexartig auf die Uhr, als ich an seinem Zimmer vorbeigehe, viertel vor neun, es ist noch genug Zeit.

Endlich komme ich am Vorzimmer zum Archiv an und öffne die Tür vorsichtig, als auf mein Klopfen ein „Herein“ folgt.

Eine Frau in den Fünfzigern sitzt an einem langen Bürotisch. Hochgesteckte, blonde Haare, Brille mit rotem, stabilem Rahmen, zu viel Parfum. Der ganze Raum riecht süßlich und schwer. Schräg hinter ihr befindet sich eine Glastür, hinter der das Archiv sein muss.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragt mich die Frau nicht unfreundlich, aber bestimmt.

„Ich bin von der Neurologie rübergeschickt worden, die Assistentin von Prof. Neumann. Er bittet um eine Akte aus den alten Beständen von Dr. Grabe.“

„Die alten Bestände?“ Sie sieht mich durchdringend an. Wenn es hier keine alten Akten von Frederik gibt, ist es sowieso sofort aus. Ich merke, wie ich zu schwitzen beginne und sich mein Mund auf einmal ganz trocken anfühlt.

„Sie wissen, dass Dr. Grabe dafür persönlich das Formular ausfüllen und unterschreiben muss, wenn die Akten außer Haus gehen?“

„Natürlich“, ich versuche, nicht zu erleichtert zu klingen. „Wenn Sie mir ein Formular mitgeben, werde ich mich gleich darum kümmern, Dr. Grabe ist sehr eingespannt.“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen und mich immer noch genau im Blick behaltend, zieht sie eine Schublade am Schreibtisch auf und reicht mir ein gelbes Formular.

Ich sage: „Bis gleich“, und kann es mir nicht verkneifen hörbar auszuatmen, als ich die Tür wieder hinter mir geschlossen habe.

Mit dem gelben Blatt in meiner verschwitzten Hand gehe ich den Flur ein Stück zurück und verschwinde sofort in den Toilettenräumen, wo ich direkt die Tür hinter mir zuziehe und abschließe. Aus der Kitteltasche hole ich jetzt einen Kugelschreiber und die Kopie eines alten Schecks, den mir Frederik vor Jahren einmal ausgestellt hat. Mit dem Kugelschreiber ziehe ich jetzt seine Unterschrift noch einmal nach, damit ich sie halbwegs deutlich durch das hellgelbe Papier hindurch sehen kann. Es funktioniert. Die Unterschrift ist recht deutlich zu erkennen, so dass ich sie ohne große Schwierigkeiten auf dem Formular nachzeichnen kann. Im Feld „Name des Patienten“ trage ich meinen eigenen ein. Ich warte noch ein paar Minuten in der Toilette, damit ich nicht zu schnell zurück im Archiv bin, wasche mir die Hände und trockne mir die verschwitzte Stirn ab.

„Sie müssen vor der Tür warten, während ich die Akte hole.“ Sie wirft einen genauen Blick auf das Formular und sieht mich dann auffordernd an.

„Ja natürlich“, antworte ich und sehe im Herausgehen, wie sie schwerfällig auf die Glastür zugeht.

Es dauert ein paar Minuten. Die Schweißtropfen auf der Stirn kehren zurück, und ich trete nervös von einem Fuß auf den anderen. Schließlich wird jedoch die Tür geöffnet, und eine fleischige Hand reicht mir eine braune Akte, auf der noch maschinegeschrieben mein eigener Name steht, Ingrid Weiß.

„Danke“, sage ich und versuche, meine Finger nicht zittern zu lassen, als ich die Akte endlich in den Händen halte.

Ich kann nicht anders, als jetzt automatisch etwas schneller zu gehen. Kurz bevor ich wieder den Aufenthaltsraum passiere, geht die Tür schräg gegenüber auf. Einige Patienten kommen heraus und strömen auf den Flur.

„Morgenrunde“, sagt der bärtige Pfleger, der auf einmal hinter mir steht und zur offenen Tür hin nickt.

Ich nicke auch und deute auf James, der immer noch alleine im Aufenthaltsraum auf dem Boden hockt. „Warum ist er nicht dabei?“

„Braucht ein bisschen Zeit für sich, hat nicht so gerne viele Leute um sich. Gleich wird es ihm wieder zuviel, aber so hat er wenigstens auch außerhalb seines Zimmers mal eine halbe Stunde Ruhe.“

Der Pfleger riecht muffig und nach Essen, als er jetzt so nah neben mir steht.

„Was ist denn mit ihm?“, frage ich.

„Schwer zu sagen, er ist auf jeden Fall nicht hier, sondern irgendwo anders. Spricht kaum, hat keinen Kontakt zu den anderen, hat aber unglaubliche visuelle Fähigkeiten, und wenn es ein fotografisches Gedächtnis gibt, dann hat er es. Ist schon zu lange hier, bestimmt schon seit einem Jahr.“

„Warum denn?“, will ich wissen. „Ist er denn eine Gefahr?“

„Es gab mal irgendeinen Vorfall, bei dem er wohl ein Kind verletzt hat und sich danach umbringen wollte, und seit dem ist er wohl eine Gefahr“, sagt der Pfleger und klopft mir jetzt kollegial auf die Schulter, als er sich mit „Ich muss dann mal wieder“ von mir verabschiedet.

Ich schaue noch einmal zu James, als ich weitergehe, und sehe auf dem Boden ein ungefähr dreißig mal vierzig Zentimeter großes Stück Himmel mit Wolken liegen. Es sind nicht mehr all zu viele Puzzelteile, die um ihn herum liegen.

„Das hast du alles seit gerade eben gemacht?“, frage ich erstaunt.

„Himmel“, sagt er nur und fährt mit dem Zeigefinger in kreisenden Bewegungen über die Wolken.

Im Fahrstuhl bin ich zum Glück allein, denn jetzt beginne ich, wirklich zu zittern, und ich kann nicht anders, als laut und schwer ein- und auszuatmen. Ich schaffe es gerade eben, nicht die Akte aufzuschlagen, meine Akte. Ich konzentriere mich ganz darauf, ohne großartig aufzufallen das Gebäude zu verlassen.

Während ich durch den Haupteingang ins Freie trete und den Weg zum Besucherparkplatz einschlage, gehe ich schneller als ich sollte, denn ich kann es selber kaum glauben, dass es so einfach funktioniert hat, unser zweifelhafter Plan, der gestern Nacht noch gut, aber heute morgen schon sehr viel unwahrscheinlicher gewirkt hatte.

Ich sitze noch einen Moment regungslos hinter dem Steuer meines Autos, bevor ich Frank anrufe und ihm die Nachricht auf die Mailbox spreche, dass ich die Akte tatsächlich gerade in Händen halte und wir uns wie verabredet in seiner Mittagspause bei ihm im Krankenhaus treffen.

In diesem Augenblick fährt ein Auto genau an mir vorbei, und die Frau hinter dem Steuer sieht sich jetzt suchend nach einem freien Parkplatz um, sieht dabei aber nicht direkt zu mir hin.

Paula, schießt es mir sofort durch den Kopf, und ich fühle mich genau so wie vor zwei Nächten im Garten hinter dem Haus, fasziniert und schockiert.

Ich blicke dem Auto hinterher, starte den Motor, fahre aus der Parklücke und im Schritttempo hinter ihrem Wagen her. Ganz am Ende des Parkplatzes setzt sie den Wagen ungeschickt in eine Parklücke und steigt aus.

Ich beobachte, wie sie zum hinteren Ende des Parkplatzes geht, wo dieser von einer großen Hecke umsäumt wird. Sie zündet sich eine Zigarette an und wartet einen Moment, bevor jetzt auch Frederik ins Sichtfeld tritt, von der anderen Seite kommend, die näher zum Hauptgebäude liegt.

Sie unterhalten sich nur kurz. Ich sehe Frederik wild gestikulieren, bevor er kurz danach entschlossen und schnell den Parkplatz verlässt und auf den Haupteingang zugeht.

Ich setze schnell zurück, da ich auf jeden Fall vermeiden will, dass mich Paula auf dem Rückweg zu ihrem Auto sieht, und verlasse gleich den Parkplatz Richtung Ausfahrt.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Irgendetwas sträubt sich in mir, alleine, ohne Frank, in die Akte zu sehen, und ich erkenne auf einmal, dass es Angst ist. Eine ganz tiefe, dunkle Angst, bei der man, wie bei einem unbekannten Gewässer, nicht sehen kann, wie tief es ist und wie dunkel es dort unten werden kann. Eine Angst, die keine klaren Grenzen hat, nichts was man greifen und ans Licht zerren kann, weil diese Angst viel größer ist, viel umfassender, weil sie alles mit einschließt und angreift was ich bin.

Pünktlich um 12.30 Uhr bin ich bei Frank im Krankenhaus. Dieses seltsame Krankenhaus, wo eigentlich niemand hin will und was trotzdem immer voller Patienten ist.

Vorfälle hatte es hier gegeben, irgendwann Ende der achtziger Jahre. Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern, aber ich weiß noch, dass es Schlagzeilen gegeben hatte. „Todesschwestern“ hatte man sie genannt. Ich glaube, nun ist hier schon lange nichts mehr passiert, aber diese Schwestern verfolgen wie böswillige Gespenster den Ruf des Krankenhauses.

Ich war kurz zuhause, um mich wieder umzuziehen und bringe Frank seinen Kittel und seine Hose in einem Beutel wieder mit. Die Akte steckt sicher in meiner Tasche.

„Komm“, sagt Frank sofort, als er mich sieht. „Wir nehmen uns einen Kaffee mit und gehen in mein Büro.“

Der Kaffee ist gut, schwarz und heiß.

„Hier“, sage ich und reiche Frank die Akte. „Ich habe noch nicht hineingesehen.“

Frank öffnet die Akte und schaut sich ruhig und minutenlang alle Seiten an. Ich bin nervös, stelle mich mit meinem Kaffee ans Fenster und sehe hinaus auf den Krankenhauspark. Schön ist es hier eigentlich.

„Es ist verblüffend“, sagt Frank schließlich, ohne von der Akte aufzublicken. „Hier ist alles genau dokumentiert, alles, bis auf den Inhalt eurer Sitzungen. Hier steht jede einzelne Sitzung mit Datum und Uhrzeit. Die gesamte Vorgeschichte der Therapie ist sorgfältig zusammengefasst. Hier steht sogar, wann du von der Polizei und wann von deiner Mutter gebracht und abgeholt wurdest. Nur worüber ihr gesprochen habt und mit welchem Ergebnis ist nirgends verzeichnet.“

„Was soll das heißen?“, frage ich.

„Das soll heißen, dass deine Therapiesitzungen bei Frederik wie eine Art Vakuum sind, in dem alles Mögliche hätte passiert sein können, ohne dass man es jemals rekonstruieren kann.“

Genauso wie beim ersten Mal war ich mir auch heute auf dem Klinikparkplatz absolut sicher, dass diese Frau Paula ist. Meine Gedanken schießen in verschiedene Richtungen gleichzeitig, und ich versuche, die einzelnen Fäden zu fassen zu kriegen und zu entwirren.

Wenn Paula lebt, weiß sie vielleicht, wo mein Vater ist, falls auch er noch leben sollte. Ich frage mich, wie lange meine Mutter und Frederik schon wissen, dass Paula noch lebt; ich kann mir nicht vorstellen, dass sie vorgestern Abend einfach so bei ihnen hineinspaziert ist. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber irgendetwas an der Szene wirkte nicht so als hätten sie gerade eben erst diese schockierende Entdeckung gemacht. Wenn sie jedoch beide schon seit Längerem wissen, dass Paula noch lebt, und mir nicht das Geringste davon mitgeteilt haben, dürfte klar sein, dass irgendetwas an dieser ganzen Geschichte absolut nicht stimmt, dass es gute Gründe gibt, Dinge zu verheimlichen, mir gegenüber und der Polizei gegenüber.

Wenn Paula heute auf dem Klinikparkplatz aufgetaucht ist, war sie vielleicht schon öfter bei Frederik in der Klinik. Auf jeden Fall ist sicher, dass unter normalen Umständen weder ich noch meine Mutter dort anzutreffen wären, und wie gut man in der anonymen Masse dieses Termitenhügels untergehen kann, habe ich heute selbst gesehen.

Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, genau das herauszufinden. Vielleicht gibt es eine Person, die sich erinnern würde und auf deren Verschwiegenheit ich mich verlassen könnte.

Mit all diesen Gedanken im Kopf fahre ich nach Hause und weiß dort mit mir nichts anzufangen. Frederik, die Therapiestunden bei ihm, meine Erinnerung, die tote Paula auf dem Wohnzimmerteppich, die lebende Paula auf dem Parkplatz. Mir ist als hätte ich einen Fremdkörper im Kopf, einen Tumor im Gehirn, etwas, was dort nicht hingehört, was nicht meins ist, was fremde Hände zusammengebaut haben, was sich ein fremder Kopf ausgedacht hat. Aber dieses Etwas sitzt fest, lässt sich nicht entfernen. Ich würde es gerne herausreißen aus meinem Kopf, wenn es sich nicht behutsam herausschneiden ließe, unter eine große, helle Lampe legen und ganz genau betrachten. Herausfinden, was es ist, was da drin ist und was ich ohne es bin.

Ich bewege mich im Kreis, räumlich und gedanklich. Ich denke immer wieder die gleichen Gedanken, ohne damit an irgendein Ziel zu kommen, und laufe dabei nervöse Bahnen durch meine Wohnung. Wie ein Tier, denke ich, beeinflussbar, manipulierbar, unwissend. Auch die Affen in den Versuchslaboren wissen nichts von ihrem tatsächlichen Zustand, fühlen sich schlecht oder gut, haben Hunger oder Schmerzen, aber wissen nicht, dass da etwas in ihrem Kopf ist, was sie all das fühlen lässt, was sie ängstlich sein lässt und beherrschbar. Sie wissen nicht, dass da etwas ist, was da eigentlich nicht hingehört, und wissen nicht, was und wie sie ohne dieses Etwas wären.

Stunden vergehen so mit diesem Hin und Her, bis es draußen schon längst dunkel geworden ist und ich diese Untätigkeit nicht mehr aushalte.

Ich suche den Karton mit den alten Zeitungsausschnitten von damals heraus und stecke ein Bild von Paula in eine Klarsichthülle. Wie jung sie damals aussah und wie hübsch, eine attraktive Frau. Ich stecke das Bild zusammen mit einem aktuellen Kalender und meinem Kalender vom letzten Jahr in die Tasche und verlasse das Haus.

Auf dem Weg halte ich an einem gigantisch großen Spielzeugladen und kaufe ein tausendteiliges Puzzle auf dem nichts als tropischer Regenwald in satten Grüntönen zu sehen ist.

Während ich zum zweiten Mal an diesem Tag vor der Klinik parke, ist es bereits spät, spät genug, um sicher sein zu können, dass Frederik schon längst auf dem Heimweg ist. Als ich an der Tür zur geschlossenen Abteilung läute, stelle ich erleichtert, aber auch überrascht fest, dass mir der gleiche behäbige Pfleger von heute Morgen öffnet.

„Doppelschicht“, sagt er mit einem müden Grinsen und zuckt dabei resigniert mit den Schultern.

Ich frage so nebensächlich wie es geht: „Um Dr. Grabe zu sprechen ist es wohl schon zu spät…“, und lasse meinen Satz zögernd im Nichts verlaufen.

„Allerdings, der ist schon vor anderthalb Stunden weg.“

„Tja, dann muss ich es morgen noch mal versuchen, aber wo ich schon mal hier bin, könnte ich vielleicht James kurz sehen, ich weiß, es ist schon lange keine Besuchszeit mehr, aber ich habe ihm etwas mitgebracht“, sage ich und deute auf den Karton mit den tausend Teilen Regenwald.

„Na ja, wenn es nicht zu lange dauert, er ist in seinem Zimmer. Den Gang runter, am Aufenthaltsraum vorbei und dann auf der linken Seite, Zimmer 412.“

Vereinzelte Patienten sind zu sehen, während ich den Flur entlang gehe. Ich werfe einen Blick in den hell erleuchteten Aufenthaltsraum, in dem der Fernseher viel zu laut läuft. Ein dünner Mann mit einem sehr weißen Gesicht starrt bewegungslos auf die flackernden Bilder. In der Ecke sitzen ein älterer Mann und eine selbst im Sitzen groß wirkende Frau an einem Tisch und spielen Schach. Die Frau schaut konzentriert auf das Schachbrett, bevor sie einen schwarzen Läufer langsam ein Feld weiterrückt. Jetzt sehe ich, dass sie einen Gürtel um die Taille gebunden hat und ihre linke Hand sehr stramm und fest auf dem Rücken zwischen Gürtel und Körper eingeklemmt ist. Das muss doch nach ein paar Minuten wehtun, denke ich und gehe weiter. Ich glaube nicht, dass einer von ihnen überhaupt gemerkt hat, dass ich da war.

Als ich an die Tür von Zimmer 412 klopfe und keine Antwort erhalte, öffne ich sie behutsam und blicke in ein schwach beleuchtetes Zimmer. Auf dem Bett sitzt James und sieht mich stumm an. Unmöglich, diesen Blick zu deuten, da erkennt man keine Überraschung, keine Ängstlichkeit.

„Darf ich reinkommen?“, frage ich vorsichtig und trete einfach leise ein, als ich keine Antwort bekomme.

„Erinnerst du dich an mich? Ich hab mir heute Morgen dein Puzzle angesehen, das ist bestimmt schon fertig.“

James zeigt als Antwort nur auf einen Tisch in der Ecke, auf dem ich beim Näherkommen ein perfekt zusammengefügtes Stück wolkendurchzogenen, blauen Himmel sehe.

„Du bist wirklich gut damit“, sage ich und fange an, mich etwas in James´ Zimmer umzusehen.

Zunächst weiß ich nicht genau, was es ist, das sein Zimmer so unglaublich aufgeräumt wirken lässt. Aber dann erkenne ich, dass alle Möbelstücke und alle Gegenstände in geraden Linien und rechten Winkeln zueinander ausgerichtet sind. An den Wänden hängen fremd wirkende, geometrische Zeichnungen, die wie Konstruktionen von Dingen aus einer anderen Welt aussehen, aber vermutlich nur komplizierte Ansammlungen von Linien, Punkten und Kreisen sind.

„Die sind schön, deine Zeichnungen.“ Ich zögere, habe das Gefühl nicht die richtige Art zu finden, wie ich mit ihm reden soll, nicht den richtigen Ton zu treffen.

Ich setze mich ans Fußende seines Bettes, so dass noch genügend Platz zwischen uns bleibt und lege das Regenwaldpuzzle zwischen uns aufs Bett.

„Ich habe dir etwas mitgebracht, und ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Ich glaube, dass du dir Dinge, die du gesehen hast, gut merken kannst, und ich möchte, dass du dir ein Foto ansiehst und mir sagst, ob du diese Person hier schon einmal gesehen hast.“ Während ich das sage, lege ich das Bild von Paula auf den Puzzlekarton.

„Das Bild ist schon alt, viele Jahre alt, die Frau sieht jetzt viel älter aus, verstehst du? Wie eine Oma, mit langen grauen Haaren.“

Nichts an James´ Gesichtsausdruck verändert sich, als er den Blick auf das Foto vor ihm richtet. Ich hole meine Kalender raus und füge noch hinzu: „Vielleicht kannst du dich daran erinnern, wann sie hier war, ungefähr.“

James schaut mich an, dann wieder das Foto, dann streicht er mit einer vorsichtigen Handbewegung das Foto vom Karton und fährt in kreisenden, fast liebevollen Bewegungen über das Bild vom Regenwald.

Ich stehe wieder auf, will ihn nicht unter Druck setzen und gehe noch einmal zur gegenüberliegenden Wand, um mir die Zeichnungen anzusehen.

Was habe ich erwartet? Dass James anfängt, normal mit mir zu reden? Eine Frau auf einem schlechten, vierunddreißig Jahre alten Foto identifiziert? „Irgendwo ganz anders“ ist er, das hatte der Pfleger gesagt. Wie konnte ich nur glauben, dass es eine Verbindung zwischen mir und „Irgendwo ganz anders“ gibt.

Als ich mich von den Zeichnungen abwende und wieder zu James schaue hat er meine beiden Kalender aufgeschlagen vor sich liegen und ist dabei, mit einem roten Filzstift kleine Kreuze an verschiedene Tage zu machen. Dann ist er fertig und schiebt alles von sich weg in meine Richtung. Ich schaue mir die Jahresübersicht in beiden Kalendern an und zähle insgesamt sieben rote Kreuze, das erste an einem Mittwoch vor fünfzehn Monaten.

„Vor fünfzehn Monaten haben sie sich schon getroffen! Stell dir vor, was das bedeutet. Das bedeutet, dass zumindest Frederik, wenn nicht auch meine Mutter, mir seit mindestens fünfzehn Monaten verheimlichen, dass Paula lebt und wieder aufgetaucht ist!“ Meine Stimme klingt zu laut in meiner kleinen Küche.

Frank sitzt am Küchentisch und schaut auf die roten Kreuze in meinen Kalendern.

„Möglich“, sagt er langsam. „Oder auch nicht. Du hast die Aussage einer geistig und emotional stark eingeschränkten Person. Was heißt die Aussage, du hast sieben rote Kreuze, genau genommen hast du also gar nichts.“

„Du hast doch gerade selber gesagt, dass diese Art von Gedächtnisleistung theoretisch absolut möglich ist bei bestimmten psychiatrischen Erkrankungen.“

„Also gut, gehen wir mal für einen Moment davon aus, dass dieser James sich tatsächlich erinnert und zwar korrekt erinnert. Du wirst seine Aussage, seine roten Kreuze niemals als Beweis für irgendetwas verwenden können.“

„Na schön“, sage ich müde. „Lassen wir es als offiziellen Beweis mal beiseite. Trotzdem ist es doch eine weitere wichtige Information. Ich meine, was genau haben wir denn bisher? Wir haben eine für tot erklärte Frau, die nicht tot ist. Wir haben meine Erinnerung an die Tatnacht und die Vermutung, dass Frederik in den Therapiestunden danach irgendwie in meinem Gehirn herumgepfuscht hat. Und wir haben, wenn wir James ernst nehmen, die Bestätigung, dass Paula schon seit längerem mit Frederik und eventuell auch mit meiner Mutter in Kontakt steht, was weder mir noch der Polizei mitgeteilt wurde. Und jetzt frage ich dich, wonach hört sich das für dich an?“

„Nach Erpressung“, sagt Frank ohne zu zögern. „In der Tatnacht muss irgendetwas völlig schief gelaufen sein. Ich meine so schief, dass es offensichtlich anders passiert ist, als du es in Erinnerung hast, und so schief, dass Paula nicht nur in dieser Nacht nicht gestorben ist, sondern auch etwas weiß, womit sie Frederik und deine Mutter unter Druck setzen kann. Aber was es auch ist, niemand von denen wird es uns freiwillig verraten. Es muss für Frederik und deine Mutter schwerwiegend sein, wenn sie sich lieber von Paula erpressen lassen, als zur Polizei zu gehen. Und sollte das Ganze für Paula ein bisher lukratives und gut gehendes Geschäft sein, wird sie erst recht nicht mit der Sprache rausrücken.“

„Ich muss mich erinnern“, sage ich jetzt überzeugt, weil ich nun ganz klar und deutlich vor mir sehe, dass das der einzig mögliche und logische Weg ist. „Ich muss mich erinnern, an alles, was in dieser Nacht passiert ist und zwar an das, was wirklich passiert ist.“

Frank und ich schauen uns an. Ich weiß, dass ich einen Verbündeten habe, einen Komplizen, den ich kaum verdient habe in all den letzten Jahren. Für dessen Komplizenschaft ich nie eine Gegenleistung erbracht habe und auch nie eine eingefordert werden würde.

„Du weißt, dass du der Einzige bist, der mir dabei helfen kann“, sage ich leise. „Der weiß, wie so etwas geht und dem ich ausreichend vertrauen kann. Aber ich würde es auch verstehen, wenn du hier aussteigen willst, wenn das alles einfach zu viel ist, das meine ich ernst, Frank.“

Frank sieht mich lange an, ohne etwas zu sagen. Langsam steht er auf und geht zur Küchenanrichte, um sich noch ein Glas Rotwein einzuschenken. Alles wirkt so unendlich langsam, Zeitlupenbewegungen. Selbst der Wein scheint zu langsam ins Glas zu fließen. Ich merke auf einmal eine so tiefe Erschöpfung, dass ich mich nur noch in das Schwarz hinter meinen geschlossenen Augen zurückziehen will, wo zumindest für ein paar Stunden alles einmal zum Stillstand kommen könnte.

„Ich glaube nicht, dass Ereignisse in unserem Gedächtnis verloren gehen“, sagt Frank jetzt, immer noch mit dem Rücken zu mir gewandt und mit der Weinflasche in der Hand. Der Wein fließt wieder in normaler Geschwindigkeit, bis Frank die Flasche absetzt und sich wieder zu mir umdreht.

„Was verloren geht, ist höchstens die Fähigkeit, diese Ereignisse abzurufen, sich zu erinnern. Es gab Versuche mit Patienten, die an Amnesie litten. Man hat ihre Schläfenlappen mit Elektroden gereizt, und tatsächlich kamen Erinnerungen zurück, die vorher völlig verschollen waren. Alles war wieder da, Einzelheiten, Gerüche Farben, Ereignisse. Doch eigentlich waren all diese Dinge nie weg, sondern gut aufbewahrt. Es war nur nicht möglich gewesen, eine Verbindung herzustellen zwischen diesem Aufbewahrungsort und der Person im Hier und Jetzt. Wenn wir es schaffen wollen, dass du dich wirklich erinnerst, müssen wir diese Verbindung wieder herstellen. Doch möglicherweise sind deine Erinnerungen ein bisschen besser weggesperrt als die von anderen Menschen, und das hast du vermutlich Frederik zu verdanken. Das heißt, wir müssen etwas finden, was stark genug ist, eine solche Verbindung wieder herzustellen und gleichzeitig stark genug, um sich gegen die falschen Erinnerungen durchzusetzen.“

„Und das sollen Elektroden an irgendwelchen Stellen in meinem Gehirn schaffen können?“

Das alles hört sich nicht nur unwahrscheinlich für mich an, sondern verursacht mir auch sofort Empfindungen massiver Angst. Der Gedanke, dass noch einmal und so offensichtlich irgendetwas mit und in meinem Kopf passieren soll, was sich meiner Kontrolle entzieht, auch wenn es mit den besten Absichten geschehen würde.

„Nein“, sagt Frank. „Ich glaube nicht, dass das der beste Weg wäre, und ich glaube auch nicht, dass wir die Mittel für so etwas hätten. Aber wahrscheinlich gibt es noch eine andere Möglichkeit. Unser Gedächtnis besteht aus verschiedenen Systemen, die mehr oder weniger zusammenarbeiten und sich ergänzen. Eines davon ist das Episodische Gedächtnis. Das ist der Teil deines Gedächtnisses, mit dem du dich an ganz persönliche Erlebnisse aus deinem Leben erinnern kannst. Das heißt, du erinnerst dich ganz bewusst an etwas, was du einmal erlebt hast. Aber damit genau das funktioniert, muss hier und jetzt ein Reiz da sein, der es schafft, eine Verbindung zu einem vergangenen Erlebnis herzustellen. An einige Dinge aus unserem Leben erinnern wir uns, an andere nicht. Das heißt, wir finden nicht immer den richtigen Reiz, der es schafft, eine Erinnerung zu aktivieren. Man geht davon aus, dass Erinnerungen nur durch einige wenige Reize aktiviert werden können, und die Frage ist, welche Reize das sind. Was befähigt den einen Reiz dazu, eine schlafende Erinnerung zu wecken, während es dem anderen Reiz nicht gelingt? Ich denke, dass es ausschlaggebend ist, ob es ein Reiz schafft, die subjektive Wahrnehmung eines Ereignisses wieder herzustellen. Und ich glaube, die Chance, einen entsprechenden Treffer zu landen, ist dann am größten, wenn so viele Reize wie möglich, den Gegebenheiten der ursprünglichen Ereignisse gleichen.“

Es regnet in Strömen, als wir auf dem Weg zum Haus meiner Eltern sind.

Mutter hatte verstört geklungen, als ich sie gestern nach dem Gespräch mit Frank anrief, um ihr mitzuteilen, dass ich von Paula weiß und alle drei, sie, Frederik und Paula am nächsten Abend im Haus meiner Eltern anzutreffen wünsche. Frederik hatte ihr den Hörer aus der Hand genommen, hatte meine Aussagen als absurd und meinen Wunsch als verrückt bezeichnet, bis ich ihm sagte, es wäre kein Wunsch, sondern etwas, das entweder geschehen würde oder auch nicht, und im zweiten Fall würde die Polizei alle Informationen bekommen, die ich hätte, inklusive meiner lückenhaften Patientenakte von damals. Als ich ihm die einzelnen Daten aufzähle, an denen Paula laut James bei ihm in der Klinik war, herrscht für einen langen Moment nur Stille, und ich weiß sofort, dass James mit jedem einzelnen roten Kreuz richtig lag. Das war gewagt, aber nun scheint Frederik zu glauben, dass ich mehr habe, als rote Kreuze, nämlich Beweise.

Die halbe Nacht habe ich überlegt, ob ich Frank wirklich mitnehmen soll, aber letzten Endes hat er recht. Was auch immer bei diesem Abend herauskommt, ich werde einen Zeugen brauchen und eventuell jemanden, der eingreifen kann, sollte etwas schief gehen. So hat Frank es zumindest ausgedrückt. Ich habe keine Vorstellung davon, was das heißen könnte, bei einem Vorhaben, dessen Ziel darin besteht, mich wieder wie ein elfjähriges, traumatisiertes Kind zu fühlen, das sich an eine Mordnacht erinnert. Dieses ganze Vorhaben erscheint mir von vornherein schon wie etwas, das schief geht.

Der dunkle Mercedes parkt vor dem Haus meiner Eltern, als wir ankommen. Ich schalte den Motor aus, und die Scheibe ist sofort so sehr mit Regen bedeckt, dass das Haus vor uns verschwimmt und sich alles in dunkle Schlieren auflöst.

„Ich habe Angst“, sage ich leise in das Geräusch des Regens hinein.

„Wir müssen das nicht tun.“ Frank sieht mich ernst von der Seite an. „Und wir können jederzeit alles abbrechen und gehen. Aber es ist allein deine Entscheidung.“

Ich nicke ein paar Mal stumm vor mich hin, ziehe dann den Schlüssel aus dem Zündschloss und steige aus. Der kalte Regen fühlt sich gut an auf meiner Haut. Die vielen kleinen Berührungen sind so deutlich zu spüren auf meinem Gesicht, sie verbinden mich mit dem Hier und Jetzt.

Meine Mutter öffnet uns die Tür, schafft es aber nicht, irgendetwas zu sagen, sieht mich nur traurig und besorgt an. Dunkle Schatten hat sie unter den Augen, sieht blass und eingefallen aus, sieht zum ersten Mal in meinen Augen wirklich alt aus. Eine alte, traurige Frau in teuren Kleidern, der die Vergangenheit und nun auch noch die Gegenwart entgleitet.

Schweigend gehen wir ins Wohnzimmer. Frederik steht mit einem Glas in der Hand am Kamin, sieht mir sofort und ohne Umschweife direkt und feindselig ins Gesicht. Und da steht Paula. Mit dem Gesicht zum Fenster gewandt. Alle drei stehen sie nun hier, in diesem gediegenen Wohnzimmer, in dem jede Farbe zueinander passt und nichts das Auge stört.

Jeder hier ist ganz für sich. Nichts an ihnen wirkt wie eine Gruppe von Verbündeten. Diese drei Menschen verbindet nichts außer einer gemeinsamen Vergangenheit, aus der unterschiedliche Wahrheiten, unterschiedliche Ziele geworden sind, die einander vollkommen ausschließen.

Paula dreht sich jetzt zu mir um und sieht mich an. Jetzt, wo wir uns wirklich begegnen und einander ansehen, erkenne ich, dass sie noch immer eine schöne Frau ist, und die Erinnerung kommt sofort zurück, an die Paula von damals, die so schön war, dass man sie nur aus der Ferne betrachten wollte, wie etwas, das man sich niemals trauen würde selber anzufassen. Doch meine Mutter hatte sich getraut. Hatte dieses feine, helle Gesicht berührt, diese Lippen, diesen Körper. Wie muss es sich angefühlt haben, eine Frau zu berühren, die so schön war, wie ein seltenes Tier, von dem es nur eins seiner Art gibt? Es muss berauschend gewesen sein, wie etwas, womit man anfängt und nicht mehr aufhören kann.

Sie lächelt jetzt, als sie mich ansieht, und ihre Stimme hört sich warm und entspannt an.

„Ingrid. Ich habe mich immer gefragt, wie du aussiehst, heute, nach all den Jahren, wie du geworden bist. Deine Mutter war nie dazu zu bewegen, mir ein Foto zu zeigen.“

Sie lächelt nun auch meine Mutter an, und ich bin beinahe überwältigt von ihrer Ruhe und ihrer Gelassenheit. Als würde das alles hier ihrer Kontrolle unterliegen, als hätte sie weder etwas zu befürchten noch etwas zu verlieren.

Frederik knallt sein Glas auf den Kaminsims, und alles an ihm wirkt angespannt, auf der Lauer und zum Sprung bereit.

„Was versprichst du dir von all dem hier?“ Seine Stimme ist schneidend und kalt. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du weiterführen kannst, was sie angefangen hat“, jetzt nickt er abfällig zu Paula herüber. „Wie viel Geld glaubt ihr eigentlich, das bei uns noch zu holen ist?“

„Ich will kein Geld“, sage ich.

„Nein“, sagt Paula jetzt und hat weiterhin etwas so Verständnisvolles in ihrer Stimme, dass es kaum etwas mit dieser Situation zu tun zu haben scheint. „Natürlich will sie das nicht.“

„Was dann?“ Frederiks Stimme wird lauter und unbeherrschter.

„Ich will mich erinnern“, sage ich leise, aber bestimmt.

„Ja“, sagt Paula und tut so als wäre sie die Einzige im Raum, mit der ich sprechen würde. „Was meinst du, Elisabeth?“, wendet sie sich jetzt an meine Mutter. „Findest du nicht, dass sie das verdient hat? Nach all den Jahren?“

Meine Mutter wendet sich ab, bleibt weiterhin stumm und presst sich die Hand vor den Mund.

Es entsteht eine Stille, die das ganze Zimmer verschluckt, niemand sagt etwas, niemand will den nächsten Schritt tun, derjenige sein, der die Dinge in Bewegung bringt.

„Also gut“, sage ich und mache einen entschiedenen Schritt in die Mitte des Raumes. „Ich weiß, dass ich mich an etwas erinnere, das so nicht passiert sein kann. Etwas, was genau hier vor vierunddreißig Jahren passiert ist, aber offensichtlich nicht so, wie es in meinem Kopf ist.“ Ich höre meine eigene Stimme lauter werden, als ich mich, während ich spreche, zu Frederik umdrehe. „Ich weiß, dass du in diesen verfluchten Therapiesitzungen irgendetwas mit meinem Kopf gemacht hast, und ich will wissen was und ich will wissen, an was, verflucht noch mal, ich mich nicht erinnern kann!“

Die letzten Worte schreie ich in die drückende Stille des Raumes hinein, und etwas geschieht mit mir während ich mich schreien höre. Meine eigene Stimme hört sich an als wäre sie von mir entfernt, viel weiter weg im Raum, und einzelne Bilder tauchen langsam vor meinen Augen auf.

Ich sehe mich die Treppe zum Wohnzimmer hinuntergehen. Ich sehe es nicht wirklich, ich fühle es vielmehr, wie etwas, das gleichzeitig in der Vergangenheit und jetzt geschieht. Fühle das Holz des Geländers unter meiner Hand, den Teppich unter meinen nackten Füßen, während ich die Stufen hinuntergehe. Das Gefühl verschwindet wieder, und ich sehe mich verwirrt um, sehe, wie mich alle anstarren, bis mir Frank beruhigend eine Hand auf die Schulter legt, ich aber nur zusammenzucken kann.

„Du erinnerst dich, nicht wahr?“ Paula sieht mich irgendwie aufmunternd an. „Ja, du fängst an, dich zu erinnern.“ Sie betrachtet mich wie man etwas ansieht, was gerade amüsante Kunststücke vorführt. „Ist das nicht erstaunlich? Was sagst du Frederik? Nach all dem, was du mit ihr angestellt hast? Hättest du gedacht, dass man sich nach all dem und nach so einer langen Zeit noch erinnern kann?“

Sie geht jetzt entspannt im Wohnzimmer auf und ab. Sie ist eine Theaterregisseurin, die gerade im Begriff ist, eine neue Inszenierung auszuprobieren.

„Na kommt schon, wie war das damals, lasst uns weitermachen.“ Was ist mit dieser Frau, wie kann sie nur so tun, als wäre das alles ein harmloses Theaterstück zu ihrer persönlichen Unterhaltung?

„Du hast recht, Ingrid, du musst damals aus deinem Kinderzimmer die Treppe herunter gekommen sein, das Problem war nur, dass es niemand von uns bemerkt hat, nicht wahr? Elisabeth hilf uns.“ Wie auf einer Bühne dreht sie sich jetzt geschmeidig zu meiner Mutter um. „Ich glaube du hast dort drüben gestanden, ungefähr dort, wo du jetzt auch stehst, was meinst du?“

Meine Mutter starrt Paula fassungslos an, als würde sie gerade einer Verrückten zusehen, die weder weiß, was sie redet noch was sie tut.

„Frederik, du warst der Einzige, der erst später dazu kam, aber das macht nichts, wir haben noch eine Rolle frei. Ingrids Vater kann bedauerlicherweise heute nicht bei uns sein, du wirst ein bisschen improvisieren müssen.“

„Das alles muss aufhören und zwar sofort!“, schreit Frederik jetzt in Paulas Richtung.

„Das alles hat schon vor vierunddreißig Jahren aufgehört, Frederik.“ Paulas Stimme ist jetzt zum ersten Mal laut und schneidend und wird noch lauter.

„All das, was wir bis dahin waren und wie wir gelebt haben hat in dieser Nacht aufgehört. Das Leben von uns allen, wie wir es bis dahin kannten, hat in dieser Nacht aufgehört. Vielleicht mit einer kleinen Ausnahme: Dir. Man kann nicht gerade sagen, dass es deinem Leben geschadet hat, nicht wahr? Da kam endlich mal Schwung in deine Pläne. Du hast einfach gemacht, was du immer machst, ein bisschen manipulieren, ein bisschen an irgendwelchen Fäden ziehen, ein bisschen in fremden Köpfen herumwurschteln, und schon hattest du die Frau, die du wolltest, hattest ihre Tochter im Griff, ein Prachtstück von einem Haus und eine Karriere, die, aus mir unerfindlichen Gründen, bis heute nicht aufgehört hat. Und weißt du, welchem Umstand du das einzig und allein zu verdanken hast? Der Tatsache, dass Ingrids Vater eine Waffe im Haus hatte. Ja, sieh mich nicht so an, genau so ist es, eine Waffe in einer bestimmten Schublade, in einem bestimmten Moment einer bestimmten Nacht, ohne diesen Umstand wäre nichts so, wie es heute ist, und das wissen wir alle hier.“

Ich sehe Paula an, sehe ihr wutverzerrtes Gesicht und wie sie im nächsten Augenblick zurücktaumelt, als der Schlag meines Vaters sie im Gesicht trifft und Blut von ihrer aufgeplatzten Lippe tropft. Ich stehe auf der Treppe und kann nur auf ihren Mund starren, auf dem das Rot viel zu leuchtend aussieht. In Paulas Gesicht ist keine Spur von Schmerz, als sie sich wieder fängt, sich eine Haarsträhne aus der verschwitzten Stirn streicht und meinen Vater jetzt ansieht. Trotz ist da zu erkennen und Triumph, Reue oder Bedauern haben in diesem Gesicht keinen Platz.

Als Frederiks Hand Paulas linke Wange trifft, gibt es ein seltsam klatschendes Geräusch, das mich wieder in die Gegenwart holt. Aber der Blick, dieser Blick, mit dem sie ihn jetzt ansieht, ist so sehr dieser Blick von damals, dass mir schwindelig wird.

„Halt jetzt endlich den Mund und hör mit diesem Theater hier auf!“ Frederiks Stimme ringt hörbar nach Fassung.

Paula lächelt nur, als sie sich die linke Hand an die Wange hält. „Es bist nicht du, der hier irgendetwas zu entscheiden hat. Du bist nur noch ein alter Mann, der gerade die Kontrolle verliert.“

Frederik will erneut zum Schlag ausholen, als ihn meine Mutter am Hemdkragen so heftig nach hinten reißt, dass ihm für einen Moment die Luft wegbleibt und er sich schwer atmend an den Hals fasst.

Sie ist so dünn denke ich, eigentlich so schwach, wie damals, als mein Vater sie wie etwas Kleines, Leichtes zur Seite stoßen konnte. Ich wollte zu ihr laufen damals, wollte, dass sie das tut, was Mütter tun, schlimme Sachen beenden, indem sie einen in ihre Arme nehmen. Aber ich kann weiter nur wie erstarrt auf der Treppe stehen und zusehen, wie Paula den Kaminhaken in die Hand nimmt. Warum kann das alles geschehen, einfach so, denke ich, da muss doch jemand Stopp sagen, da muss doch jemand aufhören, da muss doch jemand sagen, dass alles nur ein Spaß ist und das Blut auf Paulas Mund, was so strahlend leuchtet, sowieso nicht echt ist.

Aber das tut niemand.

„Weißt du was, Ingrid, ich verrate dir ein Geheimnis.“ Paula, sie spricht, mit mir, hier, jetzt. Oder früher? Nein damals hat sie nicht gesprochen, damals hat sie mit ungeheuerer Wucht den Kaminhaken gegen meinen Vater geschlagen, dazu brauchte sie nichts zu sagen. Er taumelt und fällt und liegt reglos einfach so da.

„Ingrid.“

„Ja.“ Jetzt sehe ich Paula an, wie sie an Frederik vorbei auf mich zugeht. Sie hört sich ernst an, alle Leichtigkeit ist jetzt aus ihrer Stimme verschwunden.

„Ich habe deine Mutter wirklich geliebt damals, weißt du, und sie mich auch. Das konnte sich niemand vorstellen damals, aber so war es. Sie hat mich sogar so sehr geliebt, dass sie nicht zulassen konnte, dass ich sterbe, so sehr, dass sie sogar ein Leben mit diesem Abschaum ausgehalten hat“, sie nickt jetzt nachlässig in Frederiks Richtung. „Verstehst du, dein Vater hatte damit gar nichts zu tun und du auch nicht, niemand wollte euch wehtun, es ging nur darum, dass sie mich geliebt hat, dass sie mich wollte und dass sie mich schützen wollte, als klar war, dass sie mich nicht bekommen konnte. Das ist es, worum es ging, Ingrid. Dass wir uns nicht aussuchen können, wen wir wollen und wie sehr, dass wir manchmal nicht beeinflussen können, dass eine Entscheidung für jemanden auch unweigerlich eine Entscheidung gegen jemand anderen sein muss, gegen ein anderes Leben, gegen diejenigen die im Weg stehen.“

Paula sieht mich direkt an, und ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern, und auch ich habe keine Kraft mehr, lauter zu reden.

„Das war es also? Wir standen im Weg?“ Ich sehe meine Mutter an.

„Ingrid“, sagt sie mit einem Kopfschütteln und mit Tränen in den Augen. Ihre Stimme erstickt, und sie sieht mich weiter nur an.

„Du hast schon genug Schwachsinn geredet!“ Frederik ist offensichtlich wieder zu Atem gekommen, ist mit ein paar schnellen Schritten bei Paula und zerrt sie an den Haaren von mir weg.

Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sich Frank in Bewegung setzt, sehe gleichzeitig meinen Vater auf dem Boden liegen und sich mit einer unglaublich schnellen Bewegung auf Paula stürzen, als sie sich über ihn beugt. In einer einzigen Drehung reißt er ihr den Kaminhaken aus der Hand und wirft sie auf den Boden. Auf dem Rücken liegend kann Paula schon nach einer Sekunde nur noch röcheln, während mein Vater über ihr ist und ihr den Kaminhaken mit Gewalt gegen die Kehle drückt. Ich sehe die Ader auf ihrer Stirn deutlich hervortreten, sehe Schweißtropfen an ihren Schläfen und die Sehnen an ihrem Hals.

Und ich sehe meine Mutter, wie sie langsam eine Pistole auf den Kopf meines Vaters richtet, unsicher, ungläubig, als wüsste sie noch nicht richtig, was sie dort eigentlich in der Hand hat. Einen Moment verharrt alles in Bewegungslosigkeit, mein Vater und meine Mutter sehen sich an, während Paula mit aller Kraft versucht, den Kaminhaken von ihrem Hals wegzubewegen.

Tu es“, höre ich jetzt Paula heiser flüstern, und meine Mutter tut es.

Der Schuss ist ohrenbetäubend, so wie die Stille danach.

Die dunkle, nasse Pfütze neben dem Kopf meines Vaters wird schnell immer größer, der Teppich schnell immer schwärzer.

Sie tut es. Der Ständer der Schreibtischlampe ist massiv und schwer. So schwer, dass ein Schädelknochen ganz leicht zerbricht, wenn er mit so viel Wucht getroffen wird wie Frederiks Schläfe jetzt vom Schlag meiner Mutter.

Ich sehe, was passiert, fühle mich viel zu weit weg. Bin eigentlich gar nicht hier, aber kann trotzdem alles sehen und mich über die Kraft wundern, mit der meine Mutter zuschlagen kann. Über die Schnelligkeit, mit der Frederik zu Boden fällt und erneut über die Farbe des Blutes, viel zu leuchtend, viel zu rot.

Frederik zuckt ein paar Mal zusammen und bleibt dann bewegungslos liegen, aus der Wunde fließt immer noch Blut. Kann man so etwas überleben? Ich weiß es nicht.

Der dunkle Ort

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