Читать книгу Der dunkle Ort - Nadine Zacher - Страница 4

Madonna

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Sie hatte es ihr erzählt. Ja, sie hatte es ihr verdammt noch mal erzählt. Vollkommen aus freien Stücken. Annabell hatte sie noch nicht einmal bedrängt, und genau genommen war das eines der wenigen Male gewesen, bei denen sie sich nicht von Annabell bedrängt gefühlt hatte.

Sie erinnerte sich noch genau. Im Bett hatten sie gelegen, es war spät, schon fast im Morgengrauen gewesen, und Carla hatte es ihr erzählt. Als sie am nächsten Abend daran zurückgedacht hatte, war es ihr unangenehm gewesen, ein bisschen peinlich fast. Auf eine Art, die man schnell wieder vergessen wollte, so wie sich Teenager peinlich davon berührt fühlen, wenn sie sich auf einmal bei Verhaltensweisen ertappen, die vielleicht mit neun oder zehn Jahren noch zu ihnen gepasst hätten, aber mit denen man jetzt eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte. Und schon gar nicht wollte man sich bei einer Art Rückfall erwischen lassen. Aber in dem Moment, so übermüdet und erschöpft im Bett... Carla wusste auch nicht genau, was mit ihr los gewesen war, aber irgendwie war es ihr richtig vorgekommen. Plötzlich hatte sich Annabell nah angefühlt, näher als sonst, und Carla war eigentlich nicht der Auffassung, dass Sex unweigerlich zu Nähe führte.

Was eigentlich so großartig an all dieser Kunst sei, hatte Annabell gefragt, und ob sich Carla nicht auch einmal vorstellen könne, etwas anderes zu machen. Und da hatte sie es ihr erzählt. Denn sie konnte sich eben nicht vorstellen, einfach mal so etwas anderes zu machen. Und genau das hätte sie Annabell auch genau so sagen können. War es denn wirklich nötig gewesen, ihr Innenleben hier in diesem Bett auszubreiten, Stück für Stück auf den weißen Laken zwischen ihnen darzubieten, so dass Annabell damit tun und lassen konnte was sie wollte? Und das hatte sie ja nun weiß Gott auch getan.

Es war mittlerweile so viele Jahre her, dass es Carla wie ein anderes Leben erschien. Sie war noch im Studium und verbrachte, wie sie es damals oft tat, den Sonntag allein in einem der Museen der Stadt. Es gab keine spezielle Ausstellung, die sie besonders interessiert hätte, sie ging einfach so durch die Sammlung des Museums, sah sich einiges nur flüchtig an und betrachtete einige Bilder dafür lange und intensiv. Sogar Notizen machte sie sich damals noch, notierte Namen von Künstlern, die sie nicht kannte oder über die sie gerne mehr wissen wollte. Sie ließ sich Zeit. Gemächlich ging sie von Raum zu Raum.

Sie wusste, dass das Bild hier in der Kunsthalle hing, und sie kannte es sogar schon von Abbildungen aus Kunstbüchern, die sich zuhause in ihrer winzigen Wohnung stapelten und den größten Teil der Regale und sogar des Fußbodens bedeckten.

Aber darauf war sie nicht vorbereitet. In keiner Weise. Sie sah das Bild sofort, als sie den Raum betrat. Es war einer der wirklichen Schätze der Sammlung, und so hatte man ihm Raum gegeben, es alleine an einer hellen, gut ausgeleuchteten Wand platziert. Sie fühlte sich in dem Augenblick, in dem sie es sah, angezogen. Wie ein ganz körperliches Hingezogensein war es, unerklärlich, aber so unausweichlich, dass Carla gar nicht in den Sinn gekommen wäre, es in Frage zu stellen.

Und da sah sie es nun. Sah es zum ersten Mal als Original vor sich und begriff zum ersten Mal wirklich, was es bedeutete, ein Kunstwerk wirklich zu sehen. Sie war von einer so tiefen Schönheit, die Carla auf eine so grundlegende Art berührte, von der sie nicht gewusst hatte, dass das möglich war. Da war etwas in ihr, das antwortete, aufnahm und reagierte, empfänglich war, ganz da war und ganz offen, um auf diese seltsame Art berührt zu werden.

Da war sie also. Die „Madonna“. Munchs Madonna.

Noch nie war es Carla gelungen, ein Bild zu betrachten, wie hier an diesem Sonntag die „Madonna“. Es war berauschend, wie eine andere Art von Wahrnehmung. Carla schien auf einmal in der Lage, gleichzeitig Details und das große Ganze wahrzunehmen. Sie sah einzelne Farbflächen, Übergänge, Pinselstriche, die geschwungene Linie des hochgestreckten Arms und wie er sich in einer dunkelbraunen Farbfläche verlor. Sie sah die strengen Linien des schwarzen Haares, die weichen, hellen Flächen von Bauch und Brüsten, genauso wie die harten, fast groben Pinselstriche, wo der andere Arm hinter dem Rücken verschwand. Sah dieses Gesicht, die tiefen Augenhöhlen mit den geschlossenen Lidern, das vorsichtige Rot der Lippen, die schmalen Wangen und dieses absolute Bei-sich-Sein, für das es nicht die geringste Rolle zu spielen schien, ob zufällig ein Betrachter da war oder nicht. Und gleichzeitig spürte Carla jeden Augenblick die ungeheuerliche Wirkung, die nur dadurch entstehen konnte, dass sich all dies zusammenfügte, dass jedes Detail, das sie betrachtete, genau so und genau dort an seinem Platz war.

Sie konnte im Nachhinein nicht mehr sagen, wie lange sie so dagestanden und nur geschaut hatte. Es hätten Minuten und genau so gut auch Stunden sein können. Die Zeit schrumpfte zusammen, wurde räumlich und sinnlich, fühlbar, spürbar, nicht nur mit den Augen, sondern mit allem, was Carla hatte.

Dass ihr die Tränen hinunter liefen, merkte sie erst, als ihr Gesicht schon ganz nass war. Sie konnte nichts dagegen tun, und es wäre ihr auch nicht richtig vorgekommen, denn das, was sie hier empfand, erschien ihr wie die einzig richtige, die einzig angemessene Reaktion auf dieses Bild.

Sie zitterte. Ihre Unterlippe zitterte, und ein Frösteln hatte jetzt ihren Oberkörper erfasst, das sie buchstäblich durchschüttelte, bis ihr schwindelig wurde und die Formen und Farben vor ihren Augen verschwammen. Doch sie konnte ihren Blick nicht abwenden.

Sie merkte, wie der Schwindel stärker wurde, sie zu schwanken begann und ihre Knie anfingen zu zittern. Sie konnte nicht das Geringste tun, außer sich selber dabei zuzusehen, wie sie langsam zu Boden sank, die Arme jetzt fest um ihren Oberkörper geschlungen, als würde man sich draußen im Winter vor der Kälte schützen wollen. Eine Frau vom Aufsichtspersonal fasste sie freundlich, aber doch bestimmt an der Schulter, und erst das war der Moment, in dem es Carla gelang, wieder etwas anderes wahrzunehmen als die „Madonna“, die ihr von der hellen Wand entgegenstrahlte.

Die Frau vom Aufsichtspersonal hatte sie vorsichtig nach oben gezogen, gefragt, ob ihr nicht gut sei, sie zu der Ledercouch geführt, die in der Mitte des Raumes stand, und sie dann dort sitzen gelassen, um einen Moment später mit einem Glas Wasser wiederzukommen.

Nur allmählich beruhigte sich Carla wieder. Die Haare an den Schläfen klebten ihr feucht an der Stirn, ihr ganzes Hemd klebte verschwitzt am Rücken, und nur nach und nach wurde ihr Atem wieder ruhiger, und ihre Hände hörten auf zu zittern, als sie das Glas zum Mund führte.

„Hier kippt immer mal ab und zu einer um“, hatte die Frau zu ihr gesagt. „Ist einfach zu wenig Sauerstoff in den Räumen, wegen der Bilder. Und dann noch das ganze auf der Stelle stehen, bringt den Kreislauf auch nicht gerade in Schwung.“

Carla war ihr irgendwie dankbar, dass es zumindest für diese Frau eine ganz normale Erklärung zu geben schien. Und jetzt, nach ein paar weiteren Momenten, und nachdem sie den Rest des Wassers getrunken hatte, konnte sie der Frau matt entgegenlächeln. „Ja, ja, der Kreislauf. Ist bei mir nicht so gut, und auch zu wenig gegessen heute.“

„Sehen Sie? Dann schaffen wir Sie jetzt erst einmal hier raus, und mit ein bisschen frischer Luft und einem ordentlichen Mittagessen wird es Ihnen schon besser gehen.“

Die frische Luft tat tatsächlich gut. Der Nachmittag war noch nicht einmal richtig angebrochen, und nachdem Carla ein paar Minuten verwirrt und ziellos durch die Straßen geirrt war, setzte sie sich tatsächlich in ein kleines Café und bestellte etwas zu Essen. Allerdings eher aus dem Bedürfnis, den bodenständigen Rat der Museumsangestellten zu befolgen, als aus einem tatsächlichen Hungergefühl heraus. Nach dem Essen ging es ihr tatsächlich besser, und der lange Spaziergang nach Hause erfrischte sie so, dass zumindest körperlich kein Gefühl von Schwäche mehr zurückgeblieben war.

Dennoch fühlte sich Carla den ganzen restlichen Nachmittag und Abend noch verwirrt und erschöpft. Gleichzeitig aber auch neu und verändert, so wie es nur tiefe Erfahrungen und Erlebnisse schaffen, uns verändert zurückzulassen, wenn sie vorbei sind.

Sie dachte an dem Tag noch lange an dieses Bild und an all die Gefühle, die sie beim Betrachten übermannt hatten. Und auch am späten Abend war ihr Gefühlszustand noch weit von neutral entfernt. Fast fühlte sie sich auf eine schwer zu fassende Art schuldig, schuldig aufgrund ihrer eigenen Unvollkommenheit gegenüber etwas so Vollkommenem. Und klein, so winzig klein, gegenüber so unfassbarer Schönheit.

Das alles hatte sie Annabell erzählt an diesem frühen Morgen oder in dieser sehr späten Nacht im Bett. Sie wollte sie nicht abspeisen mit irgendwelchen belanglosen Erklärungen, warum sie tat, was sie tat, und warum sie liebte, was sie tat und sich nicht vorstellen konnte oder wollte, etwas anderes zu tun. Sie wollte ihr in dieser Nacht etwas Echtes erzählen, etwas von sich, etwas, worin Annabell erkennen konnte, wer sie war, zumindest wer ein Teil von ihr war.

Annabell hatte sie angesehen, und in diesem Moment hatte Carla sofort verstanden, dass Annabell keine Ahnung hatte, wovon sie redete. Sie machte irgendwelche Bemerkungen, an die sich Carla nicht mehr genau erinnerte, und küsste ihr die Stirn, so als hätte Carla gerade etwas Kleines, Süßes, Niedliches erzählt, das auf eine putzige Art bewies, dass auch Carla eine Frau war, die berührt werden konnte von, sagen wir, Hundebabys oder tollpatschigen Kinderzeichnungen.

Aber das Gefühl, das Carla an diesem Sonntag empfunden hatte, mit dessen Hilfe es ihr gelungen war, sich bis ans Ende ihres Studiums zu quälen und sich durch all die anstrengenden Jahre zu schuften, um ihre Galerie aufzubauen, nur um jetzt tatsächlich von der Kunst und mit der Kunst leben zu können, von auch nur einer ungefähren Ahnung dieses Gefühls war Annabell unendlich weit entfernt gewesen.

Das hatte sie auf jeden Fall gedacht, als sie dort im Bett gelegen hatten. Aber mittlerweile wusste Carla, dass Annabell in diesem Moment zumindest eines begriffen hatte. Dass dieses Bild von unendlicher Wichtigkeit für Carla war, wichtiger als die meisten Menschen und wichtiger als Annabell.

Das, was Carla an diesem Sonntag im Museum erlebt hatte, hatte sich bis jetzt nie wiederholt. Sie hatte im Laufe ihrer Karriere unendlich viel Kunst gesehen. Hatte sich begeistern können, war in stundenlange Betrachtungen von Bildern und Fotografien versunken gewesen und hatte mittlerweile ein kleines Vermögen für ihre eigene Sammlung ausgegeben, aber so etwas wie bei ihrer ersten Begegnung mit der „Madonna“ war ihr nie wieder passiert.

Auch all die vielen folgenden Male, bei denen sie das Bild aufgesucht hatte, waren kein Vergleich gewesen. Aber über all die Jahre hatte sie sich immer wieder eine Ahnung dieses Gefühls ins Gedächtnis rufen können. Es war ein erhabenes, befriedigendes und verbundenes Gefühl, und sie hatte sich immer eingeredet, dass sie dieses Gefühl tatsächlich in gewisser Weise erhaben machte. Erhaben über all die Theoretiker, die nur dazu in der Lage waren, Kunst zu analysieren, ohne sie zu fühlen. Über all die Kunsthändler und Galeristen, die genauso gut teure Autos hätten verkaufen können, weil es für sie eigentlich ohnehin keine Rolle spielte, was sie verkauften.

Das alles hatte sie Annabell nicht mehr erzählt. Und sie hatte ihr auch nicht erzählt, dass sie erst viele Jahre später, als sie mit dem Studium schon fertig war, durch einen Zufall erfuhr, was das eigentlich gewesen war, was sie da an diesem Sonntag im Museum erlebt hatte. Zufällig hatte sie einen Zeitungsartikel überflogen, in dem von einer Frau berichtet wurde, die in den Uffizien in Florenz in Ohnmacht gefallen war und mit einer nicht ungefährlichen Platzwunde am Kopf ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Es war eigentlich seltsam, dass sie noch nie zuvor dieses Wort gelesen hatte, aber hier stand es nun schwarz auf weiß: das „Stendhal Syndrom“.

Sie war tatsächlich ein bisschen aufgeregt gewesen, als sie erkannte, dass der Artikel genau von dem handelte, was ihr damals vor der „Madonna“ passiert war. Gleichzeitig beschlich sie auch fast ein fades Gefühl der Enttäuschung, weil das, was sie erlebt hatte, offensichtlich nicht exklusiv zu sein schien. Im Gegenteil, es war anscheinend nicht nur einigen wenigen passiert, sondern immerhin so vielen Menschen, dass es gleich ein „Syndrom“ war. Wie viele Menschen brauchte man wohl für ein „Syndrom“? In diesem Fall nicht mehr und nicht weniger als 106.

Carla hatte ein wenig nachgeforscht damals und war schnell auf die italienische Ärztin Graziella Magherini gestoßen, die in einer Studie genau 106 Krankengeschichten unterschiedlicher Patienten veröffentlicht hatte. Und nach dieser Studie gab es nicht nur 106 Krankengeschichten, sondern ein Syndrom, das „Stendhal Syndrom“.

Dem französischen Schriftsteller Stendhal schien irgendwann im neunzehnten Jahrhundert in Florenz etwas ganz ähnliches passiert zu sein wie Carla vor der „Madonna“ in der Kunsthalle. Erschlagen von den unglaublichen Kunstschätzen der Stadt, fühlte er sich berauscht, wie im Wahn, bald nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

Die Symptome ihrer Patienten, welche die Ärztin in ihrer Studie beschrieb, waren unterschiedlich und reichten von Wahrnehmungsstörungen und Halluzinationen über tiefe Schuldgefühle bis hin zu Panikattacken und Ohnmachtsanfällen. Aber eines hatten alle beschriebenen Fälle gemeinsam. Alle Patienten erlitten diese seltsamen Veränderungen im unmittelbaren Zusammenhang mit der eingehenden Betrachtung von Kunstwerken. Wobei Carla durchaus nicht fand, dass „erleiden“ hier das richtige Wort war, denn sie persönlich hatte dieses Erlebnis nie bedauert oder gar rückgängig machen wollen. All die Jahre hatte es ihr mehr gegeben als die meisten anderen Erlebnisse.

Das alles hatte sie Annabell also nicht mehr erzählt. Aber das wenige, was sie Annabell in dieser Nacht erzählt hatte, hatte ausgereicht, um nur wenige Wochen später zu einer absoluten Katastrophe zu führen.

Auf irgendeine Art hatte Carla eigentlich immer gewusst, dass das, was sie tat, nicht für immer und ewig gut gehen konnte.

Sie war jetzt seit neun Jahren mit Anja zusammen, und sie hatte in diesen neun Jahren nie die geringste Absicht gehabt, diese Beziehung zu beenden und Anja zu verlassen. In vielerlei Hinsicht konnte sie sich keinen Menschen vorstellen, der besser zu ihr gepasst hätte, zumindest war ihr in all der Zeit niemand begegnet, von dem sie das hätte behaupten können. Und es war durchaus nicht so, dass Anja im Grunde genommen nur ein Trostpreis für sie war, weil da einfach niemand war, der besser geeignet gewesen wäre, nein, so war es ganz und gar nicht. Sie konnte wirklich sagen, dass sie diese Beziehung zufrieden stellte.

Was heißt das schon, zufrieden, hatte sie immer wieder von Freunden gehört, wenn mal wieder irgendein Beziehungsdrama oder eine Trennung im Bekanntenkreis diskutiert wurde. Sie wusste, was es hieß, zufrieden zu sein, denn das war genau das Gefühl, das sie all die Jahre durch ihre Beziehung getragen hatte. Mit mehr oder weniger großen Höhen und Tiefen, war das tatsächlich das grundlegende Gefühl, wenn sie an ihre Beziehung mit Anja dachte.

Was sie auch immer wieder gehört hatte, war die anscheinend sehr verbreitete Ansicht, dass eine Affäre, und sei es auch nur ein kurzer Seitensprung, innerhalb einer Beziehung unweigerlich und unumgänglich etwas über den Zustand der Beziehung aussagte - und zwar nichts Gutes.

Das war Carla bewusst, dass es in den Köpfen und vermutlich auch in den Herzen der meisten Menschen um sie herum so aussah. Nun ja, in ihrem Kopf und in ihrem Herzen sah es anders aus. Carla hätte nicht auf Anhieb sagen können, wie viele längere oder auch sehr kurze Affären sie in den letzten neun Jahren ihrer Beziehung gehabt hatte. Natürlich hätte sie beim darüber Nachdenken keine der Frauen vergessen. Ihr wären die Namen eingefallen, Augenfarben, Stimmen, Vorlieben und Abneigungen, Gesten und Gerüche, all das. Aber genau das hätte Carla eben tun müssen, darüber nachdenken.

Einem einzigen Menschen hatte Carla einmal von ihren Affären erzählt. Nicht im Detail, aber von der Tatsache, dass sie welche hatte.

Vor ungefähr zwei Jahren hatte sie auf einer Tagung eine Psychologin getroffen, mit der sie sich am Abend in der Hotelbar langsam, aber zielsicher betrunken hatte. Und irgendwann an diesem Abend hatte sie ihr davon erzählt.

Die Psychologin schien weder schockiert noch sonderlich überrascht zu sein und stellte Carla unmittelbar nur eine einzige Frage zu diesem Thema. Sie fragte, ob Carla glaube, dass Menschen an sich monogame Wesen seien.

„Nein“, hatte Carla damals ohne zu zögern geantwortet. „Und Sie? Glauben Sie, dass Menschen monogame Wesen sind?“

„Nein“, hatte die Psychologin ebenfalls ohne zu zögern gesagt. „Aber ich glaube, dass wir so tun müssen, als wären wir es, weil es anders nicht funktioniert.“

Wenn sie darüber nachdachte, konnte sich Carla eigentlich nicht vorstellen, dass Anja nie etwas von ihren Affären bemerkt hatte. Sicher, sie war vorsichtig gewesen, und Anja und sie hatten nie zusammen gewohnt, was ein gewisses Maß an Diskretion natürlich erleichterte. Aber dennoch, Anja war eine intelligente Frau, der sie eigentlich alle erdenklichen Arten zutraute, einen anderen Menschen zu durchschauen. Es hatte nie einen Vorfall gegeben, der so offensichtlich gewesen wäre, dass Anja unweigerlich darauf hätte reagieren müssen. Aber Carla vermutete schon seit langem, dass es Anja vermied, allzu genau hinzusehen und allzu viele Fragen zu stellen.

Es hatte auf seine Art funktioniert. Aber dennoch hatte sie es in irgendeinem gut verschlossenen Raum ihres Kopfes immer gewusst. Gewusst, dass es irgendwann einmal nicht mehr funktionieren würde. Wie das lästige Summen einer Fliege, die im Sommer zufällig zum Küchenfenster hineinschlüpft. Am Anfang beginnt man vielleicht noch, sie genervt und mit hektischen Handbewegungen zu verscheuchen, aber irgendwann hört man das Summen kaum noch, auch wenn es die ganze Zeit über da ist.

Auch als sie Annabell kennenlernte, dachte Carla nicht, dass sich an den bestehenden Verhältnissen irgendetwas ändern würde. Alles sollte weiter so funktionieren, wie es sehr lange ausgesprochen gut funktioniert hatte.

Sie hatte Annabell auf einer Ausstellungseröffnung kennengelernt, das war jetzt kaum ein halbes Jahr her. Sie hatte eigentlich nicht hingehen wollen an diesem Abend. Es war ein langer, anstrengender Freitag gewesen, an dem sie sich den ganzen Tag seit den frühen Morgenstunden mit der Organisation ihrer eigenen Ausstellungseröffnung herumgeschlagen hatte, die für den Samstagabend angesetzt war. Schon morgen, das war der einzige Gedanke gewesen, der den ganzen Tag über immer wieder in Carlas Kopf aufgetaucht war und sie dazu angetrieben hatte, die letzten Dinge, die noch zu erledigen waren, zu organisieren, und das war eine Menge gewesen. Aber dann, ganz plötzlich, nachdem alles wundersamerweise ganz reibungslos funktioniert hatte, hatte dieser anstrengende Tag seinen Griff gelockert, und nun saß sie da. Müde und erschlagen in ihrer Galerie, wusste sie auf einmal mit sich und den restlichen Stunden des Abends nichts mehr anzufangen.

Annette hatte mehrmals auf sie eingeredet, wie wichtig es sei, Carla heute Abend bei der Eröffnung dabei zu haben. Die afrikanischen Künstlerinnen, die ausgestellt wurden, hätten es verdient, ein „richtiges“ Kunstpublikum zu haben. Carla war sich dessen bewusst, dass sie in gewisser Weise das „richtige“ Kunstpublikum war, zumindest wenn es um Geld und Beziehungen ging und um die Möglichkeit, neue Künstler in einer erfolgreichen Galerie unterzubringen, ihrer Galerie. Aber womit hatte man es schon verdient, ein „richtiges“ Publikum zu haben? Darauf konnte es nur eine Antwort geben. Mit guter Kunst. Und wenn Carla ehrlich war, bezweifelte sie, diese heute Abend zu sehen. Sie würde erklären müssen, warum diese oder jene Künstlerin nicht für ihre Galerie geeignet war, sie würde ein Urteil abgeben müssen und das war, zumindest was die Kunst betraf, unbestechlich.

Aber die Aussicht auf ein paar Gläser Weißwein und ein bisschen Unterhaltung war nach diesem Tag, der sie so unvermittelt in ein paar freie Stunden entlassen hatte, wesentlich angenehmer als ein Abend alleine zuhause. Anja war noch bis Sonntag in Rom bei ihrer Schwester, und die Vorstellung, den Abend alleine ohne Anja in ihrer großen Wohnung zu verbringen, die sich heute Abend nur leer anfühlen würde, ließ sie schnell ihre Sachen zusammenpacken und den Weg zum Kulturzentrum einschlagen, das ohnehin ganz in der Nähe war. Sie konnte das Auto hier stehen lassen und zu Fuß gehen und nach ein paar Gläsern mit dem Taxi nach Hause fahren.

Das Kulturzentrum war voll. Mit so vielen Gästen bei der Eröffnung hatte Carla nicht gerechnet. Annette musste wirklich eine Menge Werbung gemacht haben. Irgendeine entspannte Elektromusik waberte durch die eigentlich zu vollen Räume; es war zu warm und zu stickig, und Carla sah schon beim Hereinkommen, dass es Ewigkeiten dauern würde, sich bis zu Bar durchzukämpfen und sich etwas zu Trinken zu organisieren. Aber sie war fest entschlossen, es zu versuchen. Kurz vor der Bar, fasste sie Annette von hinten an der Schulter. Sie hatte sie offensichtlich auch in all dem Gedränge beim Reinkommen gesehen.

„Und? Was sagst du?“, fragte sie erwartungsvoll.

Carla kannte diesen Blick. Es war dieser „Komm schon, wenn wir alle mit anpacken, schaffen wir gemeinsam etwas Großartiges“-Blick. Carla wollte nicht gemeinsam etwas Großartiges schaffen, und schon gar nicht heute Abend.

„Vor dem ersten Glas Wein sage ich gar nichts“, erwiderte sie nur. "Und außerdem habe ich mir die Sachen noch nicht eine Sekunde angesehen, bin gerade erst gekommen.“

„Ja, ja, ich weiß“, sagte Annette jetzt. „Hol dir deinen Wein, und ich führe dich rum und stell dir die Künstlerinnen vor, du wirst sehen, sie sind wunderbar.“

Ja, vermutlich waren sie wunderbar. Aber genau das hatte Carla befürchtet. Dass sie einer wunderbaren Frau nach der anderen würde sagen müssen, dass ihre Kunst leider nicht wunderbar genug war.

Bleib diplomatisch und mach es kurz, sagte sie sich jetzt, als die ersten Schlucke Weißwein angenehm kühl ihren Mund füllten.

Sie kämpfte sich mit Annette in eine der hinteren Ecken des Zentrums durch, wo großformatige Schwarzweiß-Portraits an den Wänden hingen und es geringfügig leerer war als am Eingang und vor der Bar.

„Das musst du dir ansehen“, hatte Annette gerade mit stetig wachsender Begeisterung verkündet, während sie Carla durch das Gedränge hinter sich her zog.

Und da stand sie nun, mit ihrem Weißwein in der Hand, vor diesen Bildern, vor all diesen großen Frauengesichtern, an denen nichts so recht zu stimmen schien. Die Proportionen stimmten größtenteils, aber die Perspektive schien an einigen Stellen merkwürdig verzerrt zu sein, so als hätte sich die Künstlerin nicht entscheiden können, ob sie die Dargestellte im Halbprofil oder frontal hatte abbilden wollen. An einigen Stellen hatte die Künstlerin scheinbar willkürlich dunkle Flächen wie Schatten über Teile des Gesichts gelegt. Vermutlich war hier perspektivisch irgendetwas schief gegangen, dachte Carla, als sie sich das Ganze näher ansah. Auf den kleinen Schildern neben den Bildern war kein Material angegeben, aber Carla war sich sicher, dass es Acrylfarbe war, eine Farbe mit der man schnell arbeiten musste, weil sie zu schnell trocknete, um sie noch lange weiter zu verarbeiten. Und das musste man können. Und diese Frau, deren Namen sie mit Sicherheit falsch aussprechen würde, konnte es nicht. Die Pinselstriche schwankten unschlüssig zwischen groben Strukturen und dem Versuch, auf Stirn, Wangen und Hals der Frauen flächige Gleichmäßigkeit entstehen zu lassen. Und diese Versuche waren eindeutig daneben gegangen. Um die Köpfe der Frauen waren lange Reihen von Wörtern geschrieben, die dem Bild entweder einen zusätzlichen, rechteckigen Rahmen gaben oder sich spiralförmig und rund um die Frauenköpfe drehten. Das meiste war auf Englisch, einiges in einer Sprache, die Carla nicht kannte. Sie las ein paar wenige Fetzen, Schlagwörter, die auf politische Freiheit und Gerechtigkeit hinausliefen oder auf das anscheinend erlittene Leid der Frauen hindeuteten. Carla dachte es nicht gern, aber so in etwa hatte sie sich das hier vorgestellt.

„Na sag doch was“, sagte Annette jetzt ungeduldig. Und als Carla noch überlegte, wie sie ihren Plan von diplomatisch und kurz umsetzen konnte, zog sie Carla schon am Ärmel und sagte euphorisch: „Hier ist sie ja auch schon, die Künstlerin.“

Und ehe sie sichs versah, blickte sie in das ernste Gesicht einer Frau, deren Namen sie zwar hörte, der sich aber sofort wieder aus ihrem Gedächtnis entfernte und den sie schon Sekunden später nicht mehr würde wiederholen können.

Carla gab ihr die Hand, als Annette die beiden jetzt vorstellte, und bemerkte, dass sich nun auch noch eine andere Frau zu ihnen gestellt hatte. Groß, mit langen, dunklen Haaren und in einer Art exotischer Tracht oder etwas Ähnlichem gekleidet. Auch sie wurden einander von Annette vorgestellt, und das war ein Name, den Carla sich merken konnte. Annabell.

Annabell strahlte ihr entgegen, als sie sich die Hände schüttelten, blickte ihr dabei unverwandt in die Augen und hielt ihre Hand einen oder mehrere Momente länger fest, als es notwendig gewesen wäre.

„Annabell ist die Mitorganisatorin hier“, erklärte Annette, während sie sich begrüßten. „Genau genommen hat sie eigentlich den größten Teil der Arbeit gemacht, um das alles hier auf die Beine zu stellen.“

„Ah...ja...interessant“, sagte Carla stockend. Sie hasste diese Situationen, in denen offensichtlich ein Begeisterungssturm von ihr erwartet wurde, ohne dass Carla die geringste Begeisterung in sich entdecken konnte.

„Carla ist Inhaberin der Galerie Christensen in der Hafenstraße, gleich hier um die Ecke“, verkündete Annette jetzt.

„Na dann ist das doch hier genau das richtige für Sie“, antwortete Annabell mit einer Stimme, die Carla zugegebenermaßen angenehm fand. „Lauter unentdeckte, talentierte Künstlerinnen.“

Unentdeckt ja, dachte Carla. Doch sie sagte: „Ja, alles sehr interessant und beeindruckend, was sie hier organisiert haben.“

„Ja“, sagte Annabell jetzt, „diese Frauen müssen einfach an die Öffentlichkeit und ihre Geschichten, die sie durch ihre Bilder transportieren, auch. Sehen Sie hier, alle Bilder, die Sie hier sehen sind Portraits beschnittener Frauen. Haben Sie eine Ahnung, wie viele Frauen noch heute darunter zu leiden haben und an den Folgen des Eingriffs sterben?“

Nein, das hatte Carla ehrlich gesagt nicht. Und sie war sich auch nicht sicher, ob sie heute Abend eine Ahnung davon bekommen wollte. Je länger sie die Bilder betrachtete, desto mehr war sie nur in der Lage, schlecht gemalte Frauenportraits zu sehen. Es mochte sein, dass jede Frau auf diesen Bildern eine grauenvolle Geschichte mit sich herumtrug, aber keins dieser Bilder schaffte es, Carla auf irgendeine Weise zu berühren, und „transportieren“ taten diese Bilder schon gar nichts.

„Was denken Sie? Mich persönlich hat der Mut dieser Frauen, sich mit ihrem Leid abbilden zu lassen, tief beeindruckt. So etwas braucht einfach einen größeren Rahmen, einen professionelleren, eine Galerie wie Ihre. In diese Künstlerinnen muss investiert werden, sie brauchen Einnahmen, um sich ganz ihrer kreativen und politischen Arbeit widmen zu können.“

Carla schüttete den Rest des Weißweins hinunter und hatte sogleich Verlangen nach einem neuen Glas, aber die Bar war gerade vollkommen außer Reichweite. Jetzt sah sie, dass Annabell sie immer noch unverwandt anstarrte und vermutlich damit nicht eher aufhören würde, bis Carla irgendeine Art von Reaktion zeigte.

„Nun“, Carla räusperte sich und versuchte, die richtigen Worte zu finden. „Vermutlich sind Sie mit der Galerie und ihrem Programm nicht sonderlich vertraut. Wenn ich spontan urteilen soll, habe ich eigentlich nicht den Eindruck, dass die Galerie für diese Werke hier der geeignete Rahmen ist.“

„Warum nicht?“, kam unmittelbar aus Annabells Mund geschossen. Diese Direktheit auf eine nett verpackte Ablehnung war Carla nicht gewohnt.

„Tja, wie soll ich sagen, bei diesen, äh, Werken scheinen mir nun doch eher die politischen Aspekte im Vordergrund zu stehen als die künstlerischen, und die Galerie Christensen versteht sich eher als Kunstgalerie, nicht so sehr als Raum für politisch motivierte Aktionen.“

„Ach, und das schließt sich Ihrer Meinung nach aus? Politik und Kunst?“

Annabells Stimme hatte jetzt einen gefährlichen Unterton bekommen, der Carla nicht entging. Ihr Blick ruhte weiterhin auf Carla, hatte jetzt aber etwas Herausforderndes. Carla konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie jetzt zu einer Erwiderung ansetzte, und auch ihr Tonfall war jetzt ein klein wenig bestimmter als vorher.

„Nein, durchaus nicht. Ich bin durchaus nicht der Meinung, dass sich Kunst und Politik ausschließen, aber vielleicht kommt es doch ein wenig auf die Gewichtung an, oder?“

„Wie meinen Sie das?“

Was war mit dieser Frau los? War sie wirklich so ahnungslos, nicht zu sehen, dass diese Bilder einfach nicht gut waren, oder hatte sie es darauf angelegt, Carla zu einer Grundsatzdiskussion zu provozieren?

„Meinen Sie die Frage ernst?“, rutsche es Carla jetzt bei diesem Gedanken heraus.

„Und ob ich diese Frage ernst meine.“

Carla verstand, dass der spaßige Teil des Gesprächs nun offiziell beendet war, wenn es denn überhaupt einen spaßigen Teil gegeben hatte.

„Also schön, reden wir nicht mehr drum herum. Das hier“, und jetzt machte Carla eine ausladenden Geste in Richtung der Bilder, die an der Wand vor ihnen hingen, „das hier ist eine politische Demonstration. Wenn Sie das möchten, bitte sehr, ist sicherlich auch wichtig, aber es ist definitiv keine gute Kunst. Und eine politische Demonstration, die nicht gleichzeitig mindestens auch noch hervorragende Kunst ist, hat in meiner Galerie nichts zu suchen. Ich stelle ja auch keine Transparente aus, die irgendwelche Aktivisten durch irgendwelche Demonstrationen getragen haben, nur weil auf ihnen eventuell etwas Wichtiges steht.“ Carlas Tonfall war viel heftiger geraten, als sie es beabsichtigt hatte.

„Entschuldigen Sie, ich wollte nicht, ich hole mir noch ein Glas Wein.“ Mit diesen Worten drehte sich Carla abrupt um und verschwand im Gedränge Richtung Bar.

Sie ließ eine staunende Annabell zurück, die es schaffen sollte, ihre Empörung bis in den nächsten Abend hinein zu transportieren.

Carla verzichtete auf den Wein, blickte sich im Gedränge ein paar Mal um, bis sie Annette entdeckte, die permanent in eine andere Richtung blickte. Schließlich gab sie auch diesen Gedanken auf, so dass sie das Kulturzentrum verließ, ohne sich von Annette zu verabschieden, ohne diese jetzt schon anstrengende Diskussion mit Annabell fortzuführen und ohne all die anderen wunderbaren Künstlerinnen und ihre Werke gesehen zu haben.

Nach einem Glas Weißwein traute sie sich noch zu, mit ihrem Auto nach Hause zu fahren, und als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss und eintrat, empfand sie die Leere in den großen Räumen nicht als bedrückend, sondern als beruhigend, so als würde ihr jemand, nach einem langen anstrengenden Tag ein angenehm kühles, feuchtes Tuch an die Schläfen halten und ihr gestatten, für einen Moment die Augen zu schließen.

Als sie nun endlich mit einem zweiten Glas Weißwein in der Hand auf ihrem Sofa saß und an das kurze Gespräch mit Annabell zurückdachte, war es eine Mischung aus Schmunzeln und tatsächlicher Empörung, die sich in Carla breit machte und sich nicht unangenehm anfühlte. Auch der Gedanke an Annabells Stimme war nicht unangenehm.

Den ganzen folgenden Tag über hatte Carla keine Sekunde Zeit, sich derartige Gedanken zu erlauben. Die Eröffnung war auf sieben Uhr angesetzt, bis dahin war nicht mehr all zu viel zu erledigen, aber das, was noch zu erledigen war, musste funktionieren.

Gemeinsam mit dem Künstler, der gestern nicht hatte kommen können, nahm sie am Mittag noch eine letzte Ausleuchtung der Bilder vor. Direkt danach kamen schon die Leute vom Catering-Service und verstauten die Getränke in den hinteren Räumen der Galerie. Der DJ kam schon gegen drei und baute sein Equipment auf. Der Künstler war jung und angesagt in einer speziellen Art von Szene, in der sich jeder irgendwie ein bisschen wie ein Künstler fühlte. Ein DJ würde in Ordnung sein heute Abend. Sie hatte lange hin und her überlegt, aber sie wollte neben ihren Stammkunden, die das Geld mitbrachten, auch ein neues Publikum in die Galerie ziehen, das sich vielleicht die Bilder nicht leisten konnte, aber das es sich leisten konnte, die Galerie in den eigenen Kreisen bekannt zu machen. Der DJ war nach einer knappen Stunde mit dem Aufbau fertig, so dass Carla die Galerie noch einmal abschließen konnte, um sich in Ruhe zuhause für den Abend umzuziehen.

Als sie die Galerie wenige Stunden später wieder aufschloss, war sie nervös. Das hatte sich in all den Jahren nie gelegt. Auch wenn es in der Galerie Christensen mittlerweile schon zahlreiche Ausstellungen samt dazugehöriger Vernissage gegeben hatte, war sie jedes Mal aufs Neue aufgeregt. Eigentlich gab es keinen Grund. Die Organisation hatte funktioniert, und sie hatte nur mit Leuten zusammengearbeitet, von denen sie wusste, dass sie zuverlässig waren.

Der Künstler hatte genau den richtigen Bekanntheitsgrad, um noch als neu zu gelten, aber gleichzeitig war sein Talent schon von einer ausreichenden Menge von Kritikern und Kuratoren bestätigt worden. Wenn er in seinen Arbeiten nicht nachließ, konnte es ein großer Erfolg werden, ihn dauerhaft an ihre Galerie zu binden. Aber erst einmal musste der Eröffnungsabend gut verlaufen.

Sie war eine Stunde vor Eröffnungsbeginn da, eine halbe Stunde vorher würden die drei Leute vom Catering kommen, um sich um die Getränke zu kümmern. Sie hatte also noch eine halbe Stunde Zeit, um die Ausleuchtung ein letztes Mal zu überprüfen und sich selber mit einem ersten Glas Sekt zu beruhigen. Viel trinken würde sie an diesem Abend nicht, vielleicht später noch ein zweites Glas, vielleicht noch ein drittes, wenn sie heute Nacht in ihrer Wohnung auf dem Sofa sitzen würde.

Der Catering-Service war pünktlich, der DJ auch, und schon kurz nach sieben, ungewöhnlich früh, ließen sich die ersten Gäste in der Galerie blicken. Ein paar junge, unbekannte Gesichter, ein paar bekannte und unter ihnen ein Stammkunde, für den sich Carla die Zeit nahm, ihn persönlich kurz durch die Ausstellung zu führen, solange es noch nicht zu voll war. Sie hätte ihm gerne Thomas, den Künstler, vorgestellt, aber von ihm war natürlich nicht zu erwarten, dass er Punkt sieben die Galerie betreten würde, wenn er denn überhaupt kam.

Die Galerie füllte sich erstaunlich schnell. Carla hatte die richtige Wahl mit Thomas getroffen. Schon anderthalb Stunden später war die Eröffnung auf dem richtigen Weg zum Partyevent. Es schien tatsächlich zu funktionieren. Carlas gut betuchte Stammkunden, die regelmäßig ihre Sammlungen neu ausstatten und erweitern wollten und auch das ausreichende Geld hatten, um es sich leisten zu können, mischten sich bestens gelaunt mit einem kreativ abgerockten Partyvolk, das sich irgendwo zwischen Kunststudent, arbeitsloser Schauspielerin und überbezahltem Werbemenschen bewegte.

Mitten in der angehenden Partystimmung sah Carla aus dem Augenwinkel Annette hereinkommen. Carla versuchte, den kürzesten Weg Richtung Eingang zu nehmen, ohne sich in Gespräche verwickeln zu lassen, und als sie es schon fast geschafft hatte, geriet sie für einen kurzen Moment ins Stocken, als sie sah, wen Annette als Begleitung mitgebracht hatte.

Annabell legte ihr bei der Begrüßung sekundenlang die Hand auf den Unterarm, was sich warm und auf eine verwirrende Weise sehr nah anfühlte. Carla konnte nicht sagen, ob Annabell zu den Menschen gehörte, die andere Menschen einfach gerne und oft anfassten, oder ob sie tatsächlich Carla damit meinte, doch Carla konnte durchaus sagen, dass ihr Letzteres besser gefallen hätte.

Die Lautstärke des DJ´s näherte sich bereits der Partygrenze, und durch das zusätzliche Stimmengewirr um sie herum, beugte sich Annabell sehr nah zu Carlas Ohr, als sie jetzt sagte:

„Wie erfrischend, das verstehen Sie also unter hervorragender Kunst.“

Carla musste lächeln. Nicht nur weil Annabell so völlig ohne jede Diplomatie das Thema des gestrigen Abends wieder aufgegriffen hatte, sondern auch, weil sie sich sofort beim ersten Wort wieder zu dieser Stimme hingezogen fühlte, die jetzt geradezu unverschämt nah an ihrem Ohr verweilte. Und nicht nur das. Durch die Nähe nahm sie jetzt auch noch Annabells Geruch war, ihr Parfum, eine seltsame Mischung aus süß und streng.

Carla bot Annabell ein Glas Sekt an, das sie ablehnte, doch Carlas Angebot, sie durch die Ausstellung zu führen, nahm sie an. Carla war durchaus dazu in der Lage, die großformatigen Ölbilder vor ihnen in gewisser Weise durch Annabells Augen zu sehen, und schon nach den ersten drei Bildern, die sie betrachteten, war sich Carla sicher, dass Annabells Urteil vernichtend sein würde.

Die Bilder hatten etwas Mystisches. Das fand in jedem Fall Carla. In seltsam dunkle Phantasielandschaften und Räume waren Menschen ausgesetzt worden, die irgendwie verloren wirkten, so als wüssten sie selber mit sich nicht viel anzufangen. Die meisten waren junge Frauen, viele in zerrissener, merkwürdiger Kleidung, die eher an Verkleidungen erinnerte, manche von ihnen nackt. Überdimensional große Käfer, Raupen und andere Insekten gesellten sich dazu und schienen in uneindeutigen Verhältnissen zu den Frauen zu stehen, irgendwo zwischen Haustier, Liebhaber und unberechenbarem Raubtier. Trotz dieser skurrilen Ansammlungen, ließen die Bilder dem Betrachter viel Raum. Sie zwangen einem keine Deutung auf, ließen einen in gewisser Weise mit den eigenen Vorstellungen und Erklärungen allein. Das schätzte Carla an diesen Bildern. Schnell wurde jedoch deutlich, dass Annabell dies nicht unbedingt zu schätzen wusste. Nachdem Carla ein paar Minuten über den Künstler geredet hatte und sie vor dem dritten Bild standen, unterbrach Annabell sie abrupt mit der gleichen Direktheit, die Carla schon kannte und die offensichtlich kein Interesse an Höflichkeit hatte.

„Das ist ja alles schön und gut, was Sie mir da erzählen, aber ich meine, was soll es bedeuten? Nehmen wir zum Beispiel dieses Bild hier. Was konkret soll dieses Bild bedeuten? Eine nackte, junge Frau, die auf einem riesigen Käfer liegt, während irgendein komisches, undefinierbares Wesen mit Maske sich das alles aus dem Hintergrund anguckt, ich meine, ist das Ihr Ernst?“

„Nun ja, in erster Linie ist es wohl der Ernst des Künstlers, aber ich bin absolut mit ihm einer Meinung, dass Kunst nicht immer eine einfache und schlüssige Antwort geben muss. Ein Bild muss uns nicht unbedingt eine Erklärung geben, oder? Vielleicht berührt es uns ja gerade deswegen, weil es uns diese Erklärung nicht auf den ersten Blick gibt oder sie uns vielleicht auch gar nicht geben will.“

„Sie fühlen sich durch nackte Frauen auf Käfern berührt?“ Schon wieder dieser schneidende Unterton in ihrer Stimme. Carla hatte es kommen sehen.

„Und können Sie mir auch nur einen einzigen Grund dafür nennen, warum diese Frauen fast alle nackt oder zumindest halbnackt sind?“

„Können Sie mir auch nur einen einzigen Grund dafür nennen, warum sie nicht nackt sein sollten?“

Warum reagierte sie nur so, warum viel es ihr bei dieser Frau so schwer, ihren Tonfall im Griff zu haben? Sie hatte doch genau gewusst, wie Annabell auf diese Bilder regieren würde.

„Wenn Sie mich fragen, ist die Geschichte der Kunst eine eindeutig sexistische Geschichte. Ich meine, gehen Sie in irgendein beliebiges Museum, überwiegend männliche Künstler, auf den Bildern haufenweise nackte Frauen.“ Annabells Tonfall passte jetzt zu ihrer ernsten Miene.

„Und das ist Ihr Spezialgebiet? Die Geschichte der Kunst?“ Carla war absolut nicht in der Lage, sich aus dieser seltsamen Mischung aus Anziehung und Provokation irgendwie charmant herauszuwinden.

„Ich wüsste nicht, wofür man da Spezialistin sein muss, um das Offensichtliche zu sehen.“ Annabell hatte offenbar nicht die Absicht einzulenken.

Carla überlegte ein paar Sekunden, in denen sie beschloss, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Sie fühlte sich gegenüber Annabell unglaublich im Recht, hatte aber auch unglaublich wenig Lust, sich mitten in ihrer eigenen Ausstellungseröffnung zu streiten, obwohl sie ahnte, dass streiten mit Annabell eine lustvolle Angelegenheit sein könnte.

„Hören Sie“, sagte Carla jetzt so versöhnlich wie sie konnte und schaffte es auch, Annabell dabei anzulächeln. „Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass wir, was die Kunst angeht, auf einen Nenner kommen. Aber vielleicht muss man das auch nicht unbedingt, um einen angenehmen Abend zu verbringen. Also, warum trinken wir nicht einfach etwas zusammen und versuchen, uns zu amüsieren? Sie finden die Bilder in aller Ruhe weiterhin schrecklich, und ich tue so, als würde es mir nicht auffallen. Was halten Sie davon?“

Annabell lachte. Und es war ein warmes, angenehmes und entwaffnendes Lachen, das Carla da entgegen strahlte.

„Davon halte ich sehr viel“, lachte Annabell. "Und vielleicht finden wir ja andere Gebiete, auf denen wir mehr übereinstimmen.“

Beim letzten Teil des Satzes hatte sie wieder ihre Hand auf Carlas Arm gelegt und war mit ihrem Mund wieder etwas näher an Carlas Ohr heran gekommen, als es nötig gewesen wäre.

Darauf viel Carla nichts ein. Da stand sie nun in ihrer eigenen Galerie, bei ihrer eigenen Ausstellungseröffnung einer offensichtlich flirtenden, attraktiven Frau gegenüber, und darauf fiel ihr nichts ein.

„Hm“, war alles, was Carla zustande brachte, was tatsächlich nicht viel war. Sie konnte unmöglich schon wieder die Flucht ergreifen und diese Frau einfach mitten im Gedränge stehen lassen wie am Abend zuvor. Und weil ihr weder etwas einfiel noch die Flucht eine ernsthafte Möglichkeit war, also quasi aus der Not heraus, stand sie einfach nur da und schaute Annabell an. Carla hätte in einem anderen Moment durchaus gewusst, dass einfach nur schauen manchmal effektiver ist, als wenn einem irgendetwas einfällt. Aber jetzt, in diesem Moment, war sie von jedweder Taktik weit entfernt.

Aus dem einen Moment wurden ein paar Momente, in denen sich die beiden Frauen nur anschauten. Wie eine plötzliche, ganz körperliche Gewissheit traf es Carla, dass der nächste logische Schritt, der jetzt eigentlich folgen müsste, der wäre, sich zu dieser Frau hinzubeugen, ihren Arm oder ihre Schulter zu fassen und sie zu küssen. Es war, als hätte sich allein aus diesem Blick eine bestimmte Konsequenz ergeben, die auf einmal so einleuchtend und klar erschien, dass es schwer möglich war, irgendeine alternative Handlung auszuführen. Und Carla nahm an, dass nicht nur ihr allein das klar war.

Fast gewaltsam versuchte Carla, sich aus dieser Situation zu lösen, als sie jetzt sagte: „Ich muss mich ein bisschen um die anderen Gäste kümmern, aber gehen Sie nicht, ohne sich zu verabschieden. Bitte.“

Bei den letzten Worten hatte sie Annabell wieder direkt angesehen. Annabell nickte nur, wie in einem stummen Einverständnis.

Die nächsten Stunden vergingen schnell. Carla redete viel, begrüßte und verabschiedete, stellte Leute einander vor, vereinbarte Termine mit potentiellen Käufern und besiegelte sogar einen Verkauf schon per Handschlag mit einem Kunden, der noch nicht lange zu Carlas Käufern gehörte, dafür aber im letzten halben Jahr erstaunliche Summen in junge Künstler investiert hatte und nicht wenig davon in Künstler, die Carlas Galerie vertrat.

Irgendwann, als es schon spät war, drehte sich Carla zur Eingangstür um und sah Annabell dort stehen, als hätte sie schon eine ganze Weile in Carlas Richtung gesehen. Als Carla ihren Blick jetzt erwiderte, lächelte Annabell nur, erhob die Hand, winkte Carla zu und war schon im Begriff, aus der Tür zu verschwinden. Carla war schnell am Eingang. Es war nicht mehr allzu voll mittlerweile, und die verbliebenen Gäste waren entweder betrunken oder sie standen in kleinen Gruppen zusammen und waren in Gespräche vertieft. Annabell war gerade ein paar Meter gegangen, als Carla aus der Tür trat.

„Warten Sie!“, rief Carla ihr hinterher. Carla lächelte, während sie Annabell jetzt entgegenging. „Sie wollten sich doch von mir verabschieden.“

„Sie wollten, dass ich mich von Ihnen verabschiede“, sagte Annabell mit dieser warmen Stimme, die Carla noch nie freundlicher vorgekommen war als in diesem Moment. „Und außerdem habe ich mich doch verabschiedet.“

„Sie haben mir zugewunken, das ist doch keine Verabschiedung.“

Und jetzt tat Carla tatsächlich das, was ihr schon Stunden vorher als so logisch und unabwendbar erschienen war, als hätten sie beide die letzten Stunden einfach übersprungen. Es war ein Kuss, an dem Carla sofort merkte, dass das Küssen nur eine von verschiedenen körperlichen Möglichkeiten war, die sich alle gut anfühlen würden.

Der Kuss war lang. Lang genug, um das, was folgen könnte, sehr deutlich zu machen.

Als Carla sich jetzt von Annabell löste, sagte sie: „In spätestens zwei Stunden ist das alles hier vorbei, das heißt in ungefähr drei Stunden bin ich bei mir zuhause. Wenn Sie mich dann noch besuchen wollen, können wir genau damit weitermachen.“

Carla wusste, dass das ein gewagtes Angebot war. Die Möglichkeit, dass Annabell Nein sagte war wesentlich größer als alles andere. Welche Frau hätte da schon Ja gesagt.

Annabell sagte zumindest nicht direkt Nein. Sie lachte wieder nur und sagte schließlich: „Wir werden sehen, und außerdem glaube ich, wir können jetzt Du sagen.“

Nachdem Carla Annabell ihre Adresse gegeben hatte und wieder in ihrer Galerie verschwunden war, schaffte sie es nicht, sich in den folgenden Stunden zu entscheiden, ob sie voll aufgeregter Erwartung sein sollte oder ob es nicht doch sehr viel angemessener wäre, sich mit einem ruhigen, letzten Glas Sekt alleine auf ihrem Sofa abzufinden. Die aufgeregte Erwartung überwog über weite Strecken, obwohl es Carla besser hätte wissen müssen.

Und tatsächlich fand sie sich fast drei Stunden später genau so auf ihrem Sofa wieder, wie es ihr der vernünftige Teil ihres Gehirns vorhergesagt hatte. Allein in der ruhigen Wohnung, ein Glas Champagner statt Sekt. Der Abend und Carlas Anstrengung verdienten schließlich Qualität, und mit Qualität ließ sich auch besser die Einsicht in das Unvermeidliche verkraften, dass es genau so gekommen war, wie es zu vermuten gewesen war, und deshalb auch jede Enttäuschung überflüssig war.

Carla erschrak beim ersten Klingeln. Beim zweiten, das direkt folgte, hatte sie ein bisschen Champagner verschüttet und stand bereits an der Tür.

Es war nicht nötig, irgendetwas zu sagen. Es war auch nicht nötig, ein Gespräch zu beginnen oder irgendetwas zu tun, was die Fortführung dieses einen Kusses hinausgezögert hätte.

Der zweite Kuss folgte schnell und noch viele weitere. Berührungen, Körper, Hände, Haare, Zungen, all das.

Manche Körper passen zueinander, andere nicht. Dabei scheint es den Körpern ziemlich gleichgültig zu sein, was der Rest des Menschen davon hält. Das Herz will und hat da auf einmal all diese Gefühle, und trotzdem sagt der Körper: „So nicht.“ Oder der Kopf sagt ganz klar: „Nein, keine so gute Idee jetzt“, aber der Körper findet die Idee ganz hervorragend, und es fühlt sich genau so an, als wären diese beiden Körper dafür gemacht, sich zu berühren.

Carla spürte schon nach wenigen Minuten, dass ihr Körper hier auf den Körper einer anderen Frau traf, mit dem sich alles richtig und gut und in gewisser Weise harmonisch anfühlte. Man muss einen gemeinsamen Takt, einen Rhythmus finden. Manchmal gelingt es sofort, manchmal nie, und die eine oder die andere ist immer ein winziges bisschen daneben, ein kleines bisschen zu schnell oder zu langsam oder einfach falsch. Alles Fragen, die sich bei Annabell nicht stellten.

Der Morgen war nicht mehr weit entfernt, und bis in die frühen Morgenstunden hatten sie miteinander geschlafen. Irgendwann hatte Carla Kaffee gekocht und mit ins Bett genommen und zwischendurch durch das Fenster einen trüben Sonntag heraufdämmern gesehen.

Und dann, während sie beide Kaffee trinkend im Bett lagen, hatte Annabell ganz unvermittelt gesagt: „Ich weiß, dass du eine Freundin hast.“

Carla erschien es im ersten Moment erleichternd, dass nicht sie es war, die diesen Satz aussprechen musste, und dennoch erschien ihr irgendetwas daran schal und abgestanden, als würde sich mit einem Mal ein unguter Geschmack in ein perfektes Gericht schleichen.

Annabell erzählte weiter, dass Annette ihr von Carlas langjähriger Beziehung berichtet hatte und dass sie Freitagabend noch länger über Carla geredet hätten. Das alles war für Carla keine Überraschung und hätte auch bei weitem kein Grund zur Ernüchterung sein sollen.

Als Annabell eine Stunde später gegangen war und Carla alleine in ihrem Bett lag, war ihr bewusst, dass es nichts als der unverfälschte Egoismus war, der Carla diesen Satz als störend empfinden ließ. Sie hätte gerne alle Komplikationen aus dieser Begegnung heraus gehalten, weil eine kleine unerwünschte Zutat den Genuss schon trüben konnte.

Annabell war also gegangen. Der Sonntagmorgen war noch früh und unbenutzt. Dies war nicht der frühe Morgen oder die sehr späte Nacht gewesen, in der Carla Annabell von ihrem Erlebnis mit der „Madonna“ erzählt hatte. Dieser Morgen folgte erst einige Monate später. Und dazwischen? Das Dazwischen war angefüllt mit vielen Treffen, vielen Küssen, vielen Berührungen. Mehr als gut waren, das wusste Carla schneller, als sie es wahrhaben wollte.

Annabell war eine ernsthafte Frau. Sie war ernsthaft in ihren Bemühungen, ernsthaft in ihrer Arbeit, ernsthaft in ihren Einstellungen und ernsthaft in der Art, sich zu verlieben.

Es war Carla in diesen paar Monaten nie möglich, sich nicht mit Annabell zu streiten. Sie stritten über Kunst, über Politik, über Feminismus, über Sprache, über die Einstellung zum Leben an sich und zu Beziehungen im Besonderen. Aber ihre Körper fanden immer wieder zueinander, fanden immer wieder die gleiche Sprache, fanden immer wieder das Lustvolle am Streiten.

Und Annabell fand Carla. Fand in Carla jemanden, den sie nur hier und da ein bisschen hätte verändern müssen, nur ein bisschen die Augen öffnen, nur ein bisschen retten vor all dem Oberflächlichen, Falschen und nicht Entdeckten.

Ja, Annabell war eine ernsthafte Frau. Das war Carla klar. Aber warum sollten nicht auch ernsthafte Frauen leichtfertige Affären haben können? Weil sie es eben nicht konnten. Auch Carla war in gewisser Weise eine ernsthafte Frau. Sie war ernsthaft an Kunst interessiert, sie interessierte sich ernsthaft für die Menschen, die ihr nahe standen, aber sie wusste, dass es einen Unterschied gab. Sie kannte diese Art von Frauen. Sie wusste, da gab es keine Grauzone, kein vielleicht und eventuell, kein morgen oder mal sehen.

Und auch bei Annabells Verliebtheit gab es keine Grauzone und kein vielleicht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Annabell sie vor die Wahl stellen würde, und diese Wahl war eine unmögliche. Denn vor die Wahl gestellt, würde Carla immer beides wählen, ihre Beziehung und eine leichtfertige Affäre, und wenn die leichtfertige Affäre nicht mehr ganz so leicht wäre, würde sie sich sicher nicht gegen ihre Beziehung entscheiden.

Und da hatten sie nun einige Monate später gelegen, im Morgengrauen, und Carla hatte es ihr erzählt. Wie unvorsichtig von ihr, so etwas Bedeutsames preiszugeben, was sie hütete wie einen verborgenen Schatz. Doch wie hätte sie es ahnen sollen, fragte sie sich jetzt, als bereits alles zu spät war. Sicher, Annabell hatte einen Hang zur Dramatik, wenn es um ihre Gefühle für Carla ging, das war Carla natürlich nicht entgangen, aber das, das hätte sie unmöglich vorhersehen können.

An diesem frühen Morgen im Bett hatte Annabell zwar nicht wirklich begreifen können, was Carla ihr da erzählt hatte, aber sie begriff sehr gut, dass sie gerade etwas entdeckt hatte, was für die Frau, die sie wollte, von größter Bedeutung war. Bevor sie Carlas Wohnung an diesem Morgen verließ, fragte sie noch, ob Carla ihr das Bild zeigen könne und sagte, dass es ihr wichtig sei, mit ihr zusammen zu sehen, was für Carla so sehr von Bedeutung war.

Sie verabredeten sich für einen Donnerstagabend, an dem das Museum länger als an den anderen Tagen geöffnet hatte. In der Sammlung des Museums gab es viele Bilder, die Carla Annabell gerne gezeigt hätte, aber Annabell bestand darauf, direkt zur „Madonna“ zu gehen.

Auch dieses Mal blieb die Überwältigung, die Carla beim ersten Anblick verspürt hatte, aus. Aber wie jedes Mal, wenn sie dieses Bild betrachtete, fühlte sie sich unwiderstehlich angezogen, und wie jedes Mal verspürte sie einen schwer beherrschbaren Drang, das Bild zu berühren, seine an manchen Stellen feine, an anderen Stellen grobe Oberfläche anzufassen.

„Das ist es also“, sagte Annabell, nachdem sie es beide eine Weile schweigend betrachtet hatten.

„Ja, das ist es“, sagte Carla zögernd. Sie konnte an Annabells Reaktion nicht erkennen, was sie über dieses Bild dachte.

„Warum heißt das Bild Madonna? Ich sehe in erster Linie eine nackte Frau.“

„Das wird wohl daran liegen, dass die Frau auf dem Bild auch tatsächlich nackt ist.“

Carla wusste, dass es ein Fehler gewesen war, mit Annabell hierher zu kommen. Sie wusste, dass es ein Fehler war, jetzt und hier vor dem Bild, das ihr mehr als jedes andere Kunstwerk bedeutete, mit Annabell zu streiten. Aber sie würde es nicht zulassen können, dass Annabell etwas Banales und Verwerfliches daraus machte, das dem feministischen Blick einer, in unerträglich vieler Hinsicht politisch korrekten Frau des 21. Jahrhunderts nicht Stand hielt.

„Dieses Bild ist Ende des 19. Jahrhunderts entstanden. Kannst du dir vorstellen, was es in dieser Zeit bedeutete, die Madonna auf diese Weise darzustellen?“

„Und dadurch wird es große Kunst, ja? Dass sich irgendein Mann Ende des 19. Jahrhunderts sagt: Jetzt male ich die Madonna halt mal nackt?“

Carla war fassungslos und nicht nur das. Sie verspürte zum ersten Mal in einem Streit mit Annabell etwas, das sie nicht anders beschreiben konnte als Wut.

„Wenn nicht Menschen zu bestimmten Zeiten unpassende Dinge getan hätten, hätte sich nie etwas verändert, auch nicht in der Kunst. Glaubst du allen Ernstes, dass heute irgendwelche afrikanischen Künstlerinnen beschnittene Frauen ausstellen könnten, wenn es nicht immer wieder in der Geschichte der Kunst Künstler gegeben hätte, die sich getraut haben, etwas Neues, Skandalöses, bis dahin nicht Vorstellbares zu tun? Und das war unter anderem irgendein Mann vor über hundert Jahren, der genau so etwas getan hat. Mit dem kleinen Unterschied, dass er, im Gegensatz zu deinen afrikanischen Künstlerinnen, malen konnte. Und ich frage dich noch etwas. Was würdest du davon halten, wenn die Frau auf dem Bild irgendeiner bemitleidenswerten Randgruppe angehören würde, für die wir natürlich alle gerne politisch aktiv werden wollen, und wenn es dann auch noch wundersamerweise von einer Künstlerin gemalt worden wäre? Wäre es dann eins deiner Bilder, die unbedingt Öffentlichkeit und Raum brauchen, zum Beispiel in meiner Galerie?“

Carla merkte jetzt, dass ihre Stimme unangenehm laut in dem großen Raum mit den hohen Decken hallte. Annabell starrte sie nur sprachlos an und wusste offenbar noch nicht so recht, wie sie auf Carlas Wutausbruch regieren sollte.

Carla ergriff die Gelegenheit, drehte sich einfach um und ging. Sie wusste, dass es hier nichts mehr zu sagen gab, dass es zu Annabell eigentlich überhaupt nichts mehr zu sagen gab, denn je weiter sie sich von dem Raum mit der „Madonna“ und vom Museum entfernte, desto deutlicher wurde ihr, dass hier gerade etwas zu Ende gegangen war. Sie konnte es selber gar nicht genau in Worte fassen. Es war, als hätten sich alle Unterschiedlichkeiten, die es zwischen Carla und Annabell gab, in diesen paar Momenten vor dem Bild verdichtet und gleichzeitig die Anziehung, in der sich die beiden Frauen einig waren, beseitigt und weggewischt.

Auch Annabell wurde anscheinend in den folgenden Tagen klar, dass sich etwas verändert hatte. Sie rief Carla ein paar Mal auf dem Handy an. Die ersten Male nahm Carla die Anrufe noch entgegen und erklärte erst auf Umwegen, aber dann doch sehr deutlich, dass sie die Fortsetzung ihrer Begegnungen für keine gute Idee mehr hielte. Im Grunde war sie froh darüber, dass das Ende dieser Affäre jetzt kam und nicht irgendwann in ein paar Monaten, wenn Annabell sie vermutlich früher oder später vor die Wahl gestellt hätte, sich zwischen ihr und Anja zu entscheiden, und dadurch nur alles in unnötiger Weise noch dramatischer geworden wäre.

Annabell redete und hörte nicht zu. Sie rief wieder und wieder an und wollte nicht verstehen, was der Grund für dieses plötzliche Ende war, und dass es für Carla kein Zurück mehr gab.

Nach ein paar Tagen wurde Carla klar, dass sie Annabell und die gesamte Situation unterschätzt hatte. Annabell schrieb Briefe an Carlas Privatadresse, sie ging dazu über, in Carlas Galerie anzurufen und stand an zwei Abenden wartend auf der Straße, als Carla die Galerie abschloss und nach Hause gehen wollte. Die anfänglichen Erklärungen war Carla nun leid. Sie sagte Annabell, dass sie eben nichts mehr zu sagen habe, und dass alles, was sie noch sagen könne, Wiederholungen dessen seien, was sie ohnehin schon mehrmals gesagt habe.

Zum ersten Mal begann Carla darüber nachzudenken, was sie tun würde, wenn Annabells besessene Verhaltensweisen dazu führten, dass Anja etwas von ihrer Affäre mitbekäme. Carla wusste es nicht. Dieser Fall war bisher nie eingetreten. Vermutlich hatte Anja eine Ahnung davon, dass sich Carla hin und wieder mit anderen Frauen traf, aber über eine Ahnung war es nie hinausgegangen. Nie hatte etwas so Offensichtliches im Raum gestanden, über das Anja nicht mehr hätte hinwegsehen können. Und soweit sollte es auch nicht kommen. Auch Annabell musste doch klar sein, dass sie, sollte sie wirklich Anja über ihre Affäre informieren, nicht mehr die geringste Chance auf irgendetwas bei Carla hätte. Aber was, wenn es gar nicht mit Absicht geschehen würde, wenn es durch Annabells verdammte Unvorsichtigkeit zufällig herauskäme. Carla hatte es geahnt, dass sie sich irgendwann in genau so einer Situation wiederfinden würde, aber nun war es zu spät.

Es war ein schöner Samstagmorgen, als sie darüber grübelte, was sie unternehmen könnte, um Annabell endgültig aus ihrem Leben zu streichen. Carla hatte darauf bestanden, bei Anja zu übernachten. Sie wollte um jeden Preis die Möglichkeit verhindern, dass Annabell an einem gemütlichen Samstagmorgen bei ihr vor der Haustür stand, wenn sie mit Anja gerade beim Frühstück saß.

Sie lag noch im Bett, sie genoss es, an den Wochenenden lange herumtrödeln zu können, bevor der Tag richtig anfing. Wie immer hatte es Anja nicht lange im Bett ausgehalten. Sie war längst schon auf dem Weg zum Bäcker, Brötchen und Zeitungen holen. Als sie die Wohnungstür hörte, döste Carla immer noch vor sich hin, hörte aber jetzt, wie Anja geradewegs mit schnellen Schritten den Flur entlang Richtung Schlafzimmer ging. Ihr Gesicht war gerötet, als sie jetzt in der Schlafzimmertür erschien, ihr Atem ging schnell und Carla merkte, dass sie sich beeilt hatte.

Sie setzte sofort zum Reden an: „Das ist unglaublich, hast du das mitgekriegt?“ Mit diesen Worten schmiss sie Carla die Zeitung entgegen, die neben Carla auf dem Bett landete.

„Was denn mitgekriegt?“, fragte Carla, die auf einmal sehr wach war.

„Direkt auf der ersten Seite, sieh es dir an!“

Als Carla die Zeitung auseinanderfaltete und die Schlagzeilen erblickte, konnte sie nicht fassen, was sie dort sah. Sie war nicht in der Lage, sich auf die Buchstaben oder irgendeinen Text zu konzentrieren. Alles, was sie sah, war das Foto, das fast die gesamte Titelseite einnahm. Auf dem Foto war das Gemälde einer nackten Frau zu sehen, was man jedoch nur erkennen konnte, wenn man wusste, wie dieses Gemälde vorher ausgesehen hatte. Und das wusste Carla nur zu gut.

„Was, was ist da passiert?“, stotterte Carla jetzt leichenblass, während sie weiter unverwandt auf das Bild starrte.

Die Farbe sah an vielen Stellen großflächig verlaufen aus, ja fast wie weggebrannt. Von dem Gesicht der „Madonna“ war fast nichts mehr zu erkennen. Abgesehen davon klafften zwei große Schnitte in der Leinwand, der eine über dem eigentlich so hell leuchtenden Bauch der „Madonna“, der andere verlief quer über ihren Hals, als hätte jemand den Kopf vom Körper trennen wollen. Dort, wo die Schnitte verliefen, klaffte die Leinwand auseinander und legte den Blick auf den dunklen Hohlraum hinter der Leinwand frei, als würde man in Wunden blicken, die noch nicht angefangen hatten zu bluten.

„Ein Anschlag, gestern am Abend, kurz bevor sie die Kunsthalle schließen wollten. Ist das nicht wahnsinnig? Ich meine, wer tut so etwas? Sieh dir das an, da wird wohl nicht mehr viel zu retten sein.“

Anja war jetzt zum Bett gekommen und hatte sich neben sie gesetzt. Sie legte Carla vorsichtig eine Hand auf den Arm, als sie jetzt in Carlas erschrockenes, bleiches Gesicht blickte.

„Ich weiß, was dir dieses Bild bedeutet“, sagte sie behutsam, als sie die Tränen über Carlas Gesicht laufen sah. „Hör mal, ich meine, das weißt du bestimmt, aber sie schreiben hier, dass es noch vier andere Bilder von der „Madonna“ gibt. Sie ist also eigentlich nicht wirklich zerstört.“

Carlas Stimme klang leise und belegt, als sie jetzt fragte: „Weiß man, wer es gewesen ist?“

„Nein, anscheinend noch nicht. In dem Artikel steht, die Überwachungskamera habe jemanden bei dem Anschlag gefilmt, der komplett schwarz angezogen war und eine Wollmütze übers Gesicht gezogen hatte. Vom Körperbau her geht man wohl davon aus, dass es entweder ein sehr schlanker, eher kleiner Mann war oder eine Frau. An der Kasse ist denen anscheinend niemand aufgefallen, der ganz in schwarz gekleidet war, aber die Polizei meint, dass der Täter sich auch auf der Museumstoilette umgezogen haben könnte, damit sich eben niemand an seine Kleidung erinnert. Auf jeden Fall war er wohl einfach zu schnell. Das Ganze muss in Sekunden passiert sein, und genau so schnell war er auch schon wieder draußen.“

„Oder sie“, war alles, was Carla dazu sagen konnte.

Carla war den Vormittag über wie betäubt und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie überlegte, Annabell anzurufen, entschied sich aber schnell dagegen. Sie durfte jetzt auf keinen Fall mit ihr und dieser Sache in Verbindung gebracht werden. Dass es Annabell gewesen war, hatte Carla beim ersten Blick auf das Foto in der Zeitung gewusst.

Im Laufe des Nachmittags beruhigte sich Carla ein wenig. Anja kümmerte sich rührend um sie, besorgte alle Zeitungen, die sie finden konnte und die etwas über den Vorfall berichteten, und behandelte Carla den Rest des Tages wie eine Kranke.

Anja hatte recht. Es gab noch vier weitere Bilder von der „Madonna“. Munch hatte sich lange und intensiv mit der „Madonna“ beschäftigt, so dass schließlich fünf gemalte Versionen der „Madonna“ entstanden waren, und eine davon hatte Carla unzählige Male betrachtet, so oft, dass sie nicht einmal hätte schätzen können, wie oft. Zwei weitere Gemälde befanden sich in Oslo, eines im Munch-Museum, das andere in der Osloer Nationalgalerie. Die zwei anderen Gemälde waren, soweit Carla sich erinnern konnte, im Privatbesitz. Sie war sich nicht mehr ganz sicher und klickte sich zwischen Bergen von Zeitungen auf Anjas Schreibtisch durch ein paar Internetseiten. Tatsächlich, zwei der Madonnen waren im Privatbesitz, und Carla stellte fest, dass es nicht sonderlich schwierig war herauszufinden, wer diese Besitzer waren. Natürlich nicht. Bei Gemälden dieser Größenordnung war es ein Leichtes, etwas über ihren Verbleib herauszufinden, dafür musste man sich noch nicht einmal in der Kunstwelt auskennen.

Auch Anja las sich durch diverse Zeitungsartikel, die meisten Zeitungen hatten heute Morgen darüber berichtet. Carla wusste, dass das Bild an sich für Anja keine große Bedeutung hatte, aber durch Carlas Bestürzung hatte es nun doch eine gewisse Bedeutung für sie bekommen. Außerdem schien Anja, je mehr sie las, immer faszinierter von der Sache zu sein. Immer wieder las sie Carla aus den Zeitungsartikeln vor. Viele Zeitungen hatten den Vorfall dazu genutzt, ihre Artikel noch mit ein bisschen Hintergrundwissen über das Thema „Kunstattentate“ auszuschmücken.

„Was sind das für Menschen?“, hatte Anja irgendwann entgeistert gefragt. "Ich meine, was haben sie davon, irgendein millionenschweres Kunstwerk zu zerstören? Außerdem steht hier, dass sie sowieso so gut wie immer direkt nach der Tat geschnappt werden, also was soll so was dann?“

Ja, was sollte das eigentlich, das war Carlas Ansicht nach eine ziemlich gute Frage.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Carla müde. „Entweder sind die Leute absolut verrückt, oder sie zerstören die Kunstwerke quasi aus Versehen, hat es auch schon gegeben. Und in den wenigen Fällen, über die ich gelesen habe, waren die Leute nicht nur ein bisschen durcheinander, sondern wirklich verrückt. Rembrandts „Nachtwache“ in Amsterdam wurde ein paar Mal angegriffen, ich glaube einer der Täter war schizophren und hielt sich für Rembrandts Sohn.“

„Wie hat er es gemacht?“, wollte Anja wissen.

„Auf das Bild eingestochen und es zerschnitten, ein anderer hat, glaube ich, Schwefelsäure drauf gesprüht.“

Carla wurde unbehaglich zumute. Sie musste schlucken, als sie merkte, wie nah das alles beieinander lag. Da brauchte man nur einen kurzen Blick ins Internet oder in irgendein Kunstbuch über Rembrandt zu werfen, und schon konnte man sich inspirieren lassen, wie man ein Kunstwerk möglichst schnell und effektiv zerstörte.

„Die anderen kriegen gar nicht so richtig mit, dass das überhaupt ein Kunstwerk sein soll, was sie da gerade kaputt machen. Ich meine diese Beuys-Geschichten kennst du doch bestimmt. Irgendwann in den Siebzigern haben zwei Putzfrauen gleich eine ganze Badewanne von Beuys sauber gemacht und geschrubbt, die mit irgendeinem Zeug von ihm gefüllt war. Und das Beste war, dass sie die Wanne danach noch zum Gläserspülen benutzt haben. Und dann hat irgendein Hausmeister, oder war es auch eine Putzfrau, weiß ich nicht mehr so genau, auch noch eine ganze „Fettecke“ von Beuys gleich komplett weggewischt. Na ja, Beuys konnte ich sowieso noch nie ausstehen.“

„Ich weiß“, sagte Anja jetzt und grinste Carla an.

„Ja“, sagt Carla nur und konnte jetzt auch nicht anders als Anja entgegen zu lachen, in dem Gefühl, unendlich froh zu sein, dass Anja in diesem Moment bei ihr war.

Der Rest des Wochenendes verging ruhig. Weder Carla noch Anja hatten Lust auszugehen, und den Sonntag verbrachten sie überwiegend in Anjas Wohnung, abwechselnd im Bett oder auf dem Sofa. So etwas hatten sie schon lange nicht mehr gemacht.

Weder am Sonntag noch am Montag wussten die Nachrichten oder die Zeitungen irgendetwas Neues über den Vorfall zu berichten. Der Täter oder die Täterin sei immer noch auf freiem Fuß, und über die Identität tappe man immer noch im Dunkeln. Auch von Annabell hörte Carla in diesen Tagen nichts. Keine Anrufe, keine überraschenden Besuche, nichts. Am Montag versuchte Carla, ihren Alltag wieder so normal es ging aufzunehmen und kämpfte sich ein paar Tage lustlos durch die Arbeit in der Galerie.

Die Tage vergingen. So ist es ja letztlich immer, dachte Carla, auch wenn etwas passiert, das einen erst einmal aus der Bahn wirft.

Sie war froh, als sie Freitag die Galerie aufschloss und wusste, dass sie nur noch ein paar Stunden vom Wochenende trennten. Anja und sie hatten kurzer Hand beschlossen übers Wochenende wegzufahren, was Carla an diesem Tag als die beste Idee seit langem erschien. Sie war bereits beim zweiten Espresso, als sie vom Schreibtisch aufsah, weil der Postbote die Galerie betrat. Er war freundlich wie immer und schien unerklärlicher Weise jeden Morgen gute Laune zu haben. Carla nahm den Stapel Post entgegen, nahm noch einen Schluck Espresso und schaute einen Moment müde auf den kleinen Haufen mit Umschlägen. Dann ging sie den Haufen schnell durch und sortierte die Werbung aus, die direkt im Müll landete. Das meiste war uninteressant, aber fast ganz unten sah Carla nun etwas, das sie sofort erbleichen ließ. Eine Postkarte. Auf der Postkarte war ein Gemälde abgebildet. Es war die „Madonna“. Carla drehte die Karte vorsichtig um und betrachtete die Rückseite. Nichts, außer der Adresse von Carlas Galerie. Carla schaute noch auf die Briefmarke und den Poststempel und wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch etwas bleicher. Die Karte kam nicht aus Deutschland. Auf dem Poststempel stand Oslo, Norwegen.

Der dunkle Ort

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