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April

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Weit draußen in den Feldern, als ich nicht mehr von Menschen umgeben bin, kann ich endlich den Nasen-Mundschutz herunter nehmen. Welch eine Erlösung. Frei atmen zu können, ehemals eine Selbstverständlichkeit, kommt mir jetzt fast wie ein Wunder vor. Etwas, das durch nichts zu ersetzen ist. Ich kann gar nicht genug davon kriegen und dehne meinen Spaziergang durch die Natur auf wohltuende drei Stunden aus.

Kein Mensch begegnet mir. Lediglich vier Rehe kreuzen meinen Weg. Sie bleiben für einen Augenblick stehen und schauen mich aus einiger Entfernung verwundert an, ehe sie querfeldein springen.

Fasane stieben auf. Drei Hähne. Neun Hennen.

Holla.

Feldhasen mümmeln gemeinsam mit Kaninchen friedlich von derselben Wiese. Wilde Brombeeren hängen reif in ihren Sträuchern. Unweit davon entfernt bedecken wilde Erdbeeren den Boden. Beide Obstsorten sind von einem undurchdringlichen Gewirr aus Brennnesseln, Dornengestrüpp und Strauchwerk umgeben, doch für manch ein Tier sind die Früchte gut zu erreichen.

Ein Specht sitzt unüberhörbar irgendwo in den Bäumen.

Etliche Frösche quaken balzend um die Wette.

Mücken tanzen. Es ist schwül. Drückend. Die Sonne scheint. Seit Tagen hat es nicht geregnet. April. Viel zu warm für diesen Monat.

Ein Lied kommt mir in den Sinn. Irre ich mich oder stammt es von einem Herrn Hensel? Hensel, das klingt lustig. Spricht man den Namen aus, hört er sich fast wie der Hänsel aus dem Märchen an. Aber auch nur fast. Zumindest, wenn man genau hinhört. Zwei Namen, zwei Klänge. Ersterer wird mit einem e geschrieben, der zweite mit einem ä. Ein einziger Buchstabe kann einen enormen Unterschied in Phonetik und Bedeutung ausmachen. Man sagt ja auch nicht frohgämut anstatt frohgemut. Oder Wähmut anstatt Wehmut. Obwohl, – ein Weinen ertönt in meinen Gedanken: Wäh… Wäh… Wäh! Wehmut ist eine Facette des Schmerzes. Dementsprechend könnte beides passen? Nein. Könnte es definitiv nicht. Wehmut ist ein leiser Schmerz. Manchmal stechend. Sehnsuchtsvoll. Vielleicht auch vermissend. Wähmut, sofern es dieses Wort denn gäbe, beschriebe einen lauten, greinenden und quengelnden Schmerz.

Ich bringe besser niemanden auf solche Gedanken. Die Rechtschreibung der Deutschen Sprache ist dank etlicher Reformen eh schon bekloppt genug. Da muss nicht noch mehr Elend hinein.

Nahe dem Feldweg liegen drei umgestürzte Bäume. Von Moos bewachsen und Wildranken umgeben.

„Hen-sel. Hen-sel“, spreche ich im Takt, während ich von Baumstamm zu Baumstamm balanciere.

„Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt, er setzt seine Felder und Wiesen instand. Er pflüget den Boden, er egget und sät und rührt seine Hände frühmorgens bis spät“, singe ich zaghaft vor mich hin, – noch immer balancierend.

Mit einem Male halte ich inne. Die weiteren Strophen wollen mir partout nicht einfallen. Früge man einen der ortsansässigen Bauern, unter welchen klimatischen und ökologischen Bedingungen er heutzutage seine Felder bestellen muss, und ob denn der Monat März noch immer der Monat der Aussaat ist, – er würde einem schon das Passende darauf antworten. In Deutschland bleibt die schwere Landarbeit heutzutage vielen Rösslein, beziehungsweise Pferden, erspart. Sie müssen auch nicht mehr in den Bergbau. In die Stollen. In einigen anderen Ländern dieser Erde und in manchen Glaubensgemeinschaften hingegen unterstützen noch heute viele Tiere die Menschen bei deren Arbeit. Jetzt kommen mir die beiden fehlenden Strophen des Liedes doch wieder in den Sinn.

„Die Bäurin, die Mägde, sie dürfen nicht ruhn, sie haben im Haus und im Garten zu tun, sie graben und rechen und singen ein Lied und freun sich, wenn alles schön grünet und blüht. So geht unter Arbeit das Frühjahr vorbei, dann erntet der Bauer das duftende Heu, er mäht das Getreide, dann drischt er es aus, im Winter, da gibt es manch fröhlichen Schmaus“, trällere ich nun lautstark in die Landschaft.

Eine Kohlmeise sitzt auf einem Maulwurfhügel. Irritiert blickt sie herüber. Ich springe vom Baustamm herunter. Sie erschrickt nicht, fliegt nicht weg. Sie beobachtet einfach, was ich da mache. Verweilen, – genau das könnte ich jetzt mal machen. Ja, das ist eine gute Idee. Ich nehme auf einem der Baustämme Platz.

„Na, wann beginnst denn du, Ausschau nach einem Partner zu halten? Wann blühen die Brombeeren? Und die Erdbeeren? Warum sind sie schon jetzt vollkommen reif? Und was ist mit den Fröschen? Sind diejenigen, die gerade balzen, noch der erste Schwung oder schon der zweite oder dritte? Na? Verrate es mir“, rufe ich ihr zu.

Die Kohlmeise schweigt sich aus. Ihr Blick fixiert meine Hosentaschen.

„Da ist nichts drin, was ich dir anbieten könnte.“

Die Kohlmeise guckt mich prüfend an, – ohne jedoch den Maulwurfshügel zu verlassen. Eine Blaumeise landet neben ihr im Gras. Ich freue mich um so mehr, da Blaumeisen dieser Tage selten geworden sind. In einiger Entfernung landen Dohlen und Krähen.

„Ich muss euch enttäuschen. Ich habe wirklich nichts dabei. Wahrscheinlich wäre es gut gewesen, daran zu denken. Ich verspüre selber einen kleinen Hunger. Und großen Durst. Aber durch diesen doofen Mundschutz auf meinem Gesicht fällt mir vieles schwerer, wisst ihr. Da geht es dann einfach nur noch um’s Atmen. Sogar meine Wasserflasche habe ich vergessen. Und die habe ich sonst immer dabei.“

Blaumeise und Kohlmeise geben sich von meiner Ansprache unbeeindruckt. Dohlen und Krähen picken emsig in der Wiese herum.

Der Baumstamm sieht wirklich einladend aus.

Rücklings strecke ich mich aus und schließe für ein kleines Nickerchen meine Augen. Der Fußweg hierher war anstrengend. Über die gesamte Strecke musste ich die Atemmaske tragen. Der darauf folgende lange Spaziergang, das schwüle drückende Wetter… Die Summe aus alledem hat mich unglaublich ermüdet.

Nur ein paar Minuten.

Ein behutsames Ziepen und Klopfen nahe meiner Haarwurzeln lässt mich erwachen. Jetzt bloß keine ruckartigen Bewegungen. Nicht bevor ich weiß, wer da mit was beschäftigt ist. Vorsichtig überstrecke ich ganz langsam meinen Kopf. Hinter mir sitzt eine Krähe. Exakt dort, wo mein Kopf auf dem Baumstamm aufliegt. Sichtlich zufrieden verspeist sie eine Ameise. Die Krähe kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich habe keine Ahnung, weswegen. Sie merkt, dass ich sie anschaue, – lässt sich jedoch nicht davon stören. Eine weitere Ameise läuft den Baumstamm entlang, direkt auf meine Haarspitzen zu. Knapp bevor sie dort angelangt ist, schnappt die Krähe zu. Gulp, schon herunter geschluckt.

Langsam, ganz langsam, wie in Zeitlupe, richte ich mich auf. Bis ich letztlich sitze. Abwartend guckt die Krähe mich von der Seite an. Ich schaue mich um. Offensichtlich sind alle anderen vorhin anwesenden Vögel längst abgeschwirrt. Einzig diese Krähe bleibt beharrlich zugegen.

„Wie lange bist du schon hier, hm?“

Sie blickt mich wieder von der Seite an.

„Kennen wir uns?“

Die Krähe blinzelt, dreht ihren Kopf in die andere Richtung, verharrt wenige Sekunden regungslos, lässt sich eine weitere Ameise schmecken und schüttelt daraufhin behaglich ihr Gefieder. Das ist der Moment, in dem ich feststelle, dass mein Bauchgefühl stimmt: Jene Krähe und ich, wir kennen einander.

Auf der Pferdeweide, meiner ehemaligen Arbeitsstelle, landete oft ein ganzer Schwarm Krähen. Gemeinsam mit einigen Dohlen saßen sie in den umliegenden Baumwipfeln. Immer dann, wenn Lucky, Amira, Dana, Frieda und Mimmi sich eine frische Ladung Futter einverleibt hatten, kamen sie angeflogen. Jeder noch so winzige Futterrest wurde von ihnen wertgeschätzt. Ebenso wie die Insekten, welche vom Geruch der Futterreste angezogen wurden. Diese Krähe hier, die gerade mit mir auf dem Baumstamm sitzt, war eine aus eben diesem Vogelschwarm. Jetzt, da sie ihre Federn ausgeschüttelt hat, erkenne ich sie wieder. Ihre Flügel tragen zwei weiße ovale Maserungen. Auf jeder Flügelspitze eine. Sie werden nur dann sichtbar, wenn die Krähe ihre Flügel spreizt. Ansonsten erweckt ihr Gefieder den Anschein, als bestünde es ausschließlich aus schwarzen Federn.

An diese eine Krähe erinnere ich mich deshalb so genau, weil sie mich durch ihr Verhalten regelrecht verblüffte. Anders als ihre Artgenossen, verspeiste sie ihre erbeuteten Futterreste nämlich nicht sofort, sondern legte sich ein Depot an. Zu meinem Erstaunen, ohne dass die anderen es bemerkten. Am Rande der Weide hatte sie eine Stelle ausgemacht, an der das Erdreich locker war. Sie versenkte ihre Nahrung darin, scharrte Erde mit ihren Krallen darüber und legte mit Hilfe ihres Schnabels sogar Laub und Zweige obenauf. Zielgerichtet und sorgfältig. Sie aß immer erst dann, wenn sie sich sicher wähnte. Wenn Ruhe einkehrte.

Zuvor hatten andere Vögel ihres Schwarmes ihr manchmal das Futter weggenommen. Das hatte ich mehrfach mitgekriegt. Ebenso hatte ich kurz darauf den Aufbau ihres Depots zur Kenntnis genommen. Sie wiederum hatte registriert, dass mir beide Vorgänge aufgefallen waren. Vermutlich ist dies der Grund gewesen, aus dem sie mir anschließend sehr viel genauer als vorher bei meiner Arbeit zusah. Vielleicht fürchtete sie, dass ich ihr Depot verrate. Dass ich es freilege, zuschütte oder gar auseinander trete. Nichts davon kam mir in den Sinn. Wieso auch? Nichts davon war notwendig. Die Futterreste und Insekten reichten nach wie vor für den gesamten Vogelschwarm. Und das Depot dieser Krähe lag so dermaßen abseits, dass niemand dort entlang lief oder es auf sonst irgendeine Art Mensch oder Tier hätte stören können. Selbst Johnny, Günters Hund, hatte keinerlei Interesse an dem Futterversteck dieser Krähe gezeigt. Er versprach sich mehr davon, seine Nase tief in diverse Kaninchenbauten zu versenken. Damals. In den Zeiten vor dem Lockdown.

Bevor es in diesem Jahr März wurde.

„Danke, dass du mir ungebetene Besucher vom Leib gehalten hast. Zum Glück waren es keine Feuerameisen. Keine Ahnung, ob der Klimawandel vielleicht auch die irgendwann herbringt. Könnte möglich werden.“

Die Krähe blinzelt mich an.

„Ich mag mir gar nicht ausmalen, was dann hier los wäre. Die hiesige Natur ist von Borkenkäfern und Eichenprozessionsspinnern ohnehin schon genug geplagt. Immer diese blöden Monokulturen, echt. Auf Feldern, in Wäldern und Gärten. Jetzt haben wir die Quittung.“

Sie blinzelt noch einmal und hüpft näher.

„Also falls du denen mal begegnen solltest, diesen Feuerameisen, – egal wo: Mach den Abflug. Im wahrsten Sinne des Wortes. Feuerameisen sind unangenehme Zeitgenossen. … Hmmm. Den Abflug machen. Gutes Stichwort. Ich mache mich jetzt besser auf den Rückweg. Also dann: Vielen Dank. Und alles Gute.“

Ich stehe auf, was die Krähe in Unruhe versetzt und davon flattern lässt.

Nachdem sie aus meinem Blickfeld verschwunden ist, nehme ich kurzentschlossen eine andere Route als auf dem Hinweg. Nach einer Weile gelange ich zur Landstraße. Dort, wo ich diese hätte überqueren müssen, sitzt ein junger Mann bei geöffneter Fahrertür auf dem Fahrersitz seines Wagens. Unglücklich guckt er in die menschenleere Gegend.

Mir fällt auf, dass er trotz der leeren Straße das Mindestmaß an Vorkehrungen eingehalten und die Unfallstelle weiträumig abgesichert hat. Das Warndreieck steht ein paar Meter entfernt. Die Warnblinkanlage verrichtet ihren Dienst. Woha. Vorbildlich. Als der Mann mich erblickt, hebt er die Hand und winkt mir zu.

„He Sie! Hab’n Sie ’n Handy bei? Wär echt klasse, weil, mein Akku is’ leer. Ich hab’ meine Powerbank zuhause lieg’n lassen. Könn’n Sie jemand’n für mich anruf’n? Äh, bitte, mein’ ich“, ruft er mir entgegen, indem er nach seinem Nasen-Mundschutz greift, welcher bis dato am Rückspiegel seines Wagens baumelte.

„Klar! Wen soll ich denn anrufen?“ frage ich laut, während ich mir seine Autonummer merke, meine Atemmaske vor mein Gesicht ziehe und mich ihm bis auf zwei Meter Abstand nähere.

„Polizei wär’ gut. Mir is’n Wildschwein vor’s Auto gelauf’n. Glaub’ ich.“

„Oha.“

„Ja, weil weg’n m’ Lockdown. Die Natur geht los. Für das sie ihre Rechte zurückholt.“

„Och, Wildschweine gab es hier auch vorher schon.“

„Nee, ne? Echt jetzt?“

„Joah. So ab und zu. Sind Sie fremd in der Gegend?“

„Ja, ne. War eigentlich nur auf’er Durchfahrt so. Bis’s gekracht hat. Sieht man ja.“

„Das sieht man deutlich, ja. War es sehr schlimm?“

„Weiß nich’. Mir is’ so nix passiert so. Bloß dass meine Karre Schrott is’. Aber dem Vieh geht’s blendend. Das is’ direkt wieder aufg’stand’n. Hat sich geschüttelt un’ is’ dann völlig unbeeindruckt im Gebüsch verschwund’n. Wie in dies’m Film so. Ach fuck, is’ ja auch irgendwie richtig so. So weiß’e, ne so?! Ich mein’, wir sin’ ja auch echt irgen’wie voll die Faschos, ne. So gegen die Natur so.“

„Gewissermaßen. War es eine Bache oder ein Keiler?“

„Weiß nich’. Is’n das? N’Bach hab ich hier noch kein’n gesehen. So gar kein`n, ne.“

„Sie stehen schon länger hier?“

„Ja. Seit… Nee, weiß nicht. Jedenfalls voll lang so.“

„Haben Sie irgendwo Frischlinge gesehen?“

„Frischlinge? Weiß nich’. Is’n das? Pilze?“

„Äh, nein. Ferkel.“

„Ey, pass bloß auf, ja?! Paar auf’s Maul?!!“

„Nein. Bitte nicht aufregen. Das ist ein Missverständnis. Frischlinge sind keine Pilze, sondern junge Schweine. So ähnlich wie die Ferkel vom Hausschwein. Bloß nicht unbedingt rosa. Eher hellbraun. Üblicherweise tragen sie helle Streifen und Punkte. Seitlich und über den Rücken. Meistens sind sie in einer Gruppe unterwegs.“

„Ach so. … Nee. … Nee, hab’ ich nich’ gesehen. Warum?“

„Weil eine Bache ein Muttertier ist, um auf Ihre Frage zurück zu kommen. Ein Keiler hingegen ist ein Vatertier. Die Bachen haben ungefähr von März bis Mai Frischlinge. Eigentlich. Aber vielleicht hat sich auch das inzwischen geändert. Mit Blick auf den Klimawandel schließe ich kaum noch etwas aus.“

„Nee, keine Frischlinge. Hab’ keine geseh’n. Glaub’… das war’n … Keiler?“

Grübelnd kratzt er seinen Nacken. Seine Stirn legt sich in Falten.

„Weiß nich’ so genau. Das Tier hatte ziemliche… So voll die Reißzähne so.“

Wild gestikuliert er um seine Mundwinkel herum.

„Hier so. Und da so. Hab’ mich krass erschrock’n. War wie in dies’m Film, aber übelst echt. … ‚Zoombies‘. Kenn’n Sie den?“

„Nein. Aber ganz so schlimm kann es nicht gewesen sein. Der Keiler ist doch direkt weggelaufen.“

„Is’ abgehau’n, ja. War ich auch voll erleichtert drüber. Hätt’ nich’ gewusst, was ich machen soll. … Tja. … Wenn ich Glück hab’, könn’ die Bullen noch paar Haare oder so finden. Wär’ echt gut so. Wegen Versicherung un’ so.“

„Soll ich sonst noch jemanden verständigen? Einen Abschleppdienst? Oder einen Krankenwagen?“

„Nee. Das klär’ ich nachher mit der Bullerei. Wenn die den Schaden aufnehm’n.“

„O.k.“

Also wähle ich die 110 und gebe dem Wachtmeister am anderen Ende der Leitung sämtliche mir bekannten Daten zur Sache an: Autokennzeichen. Nummer der Landstraße. Abschnitt der Landstraße. Anzahl der geschädigten Personen. Zustand, Alter und Namen ebendieser… Nein, Name und Alter des Verunglückten weiß ich nun wirklich nicht. Und über dessen Zustand kann er doch besser selbst Auskunft geben. Ich biete dem Ordnungshüter eine Option an, auf die er fraglos mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sehr zeitnahe bestimmt auch selber gekommen wäre: Dem Unfallopfer mein Mobiltelefon zu reichen. Insbesondere da besagtes Unfallopfer bei vollem Bewusstsein ist.

Zurechnungsfähig? huscht eine leise Frage durch meine Gedanken. Ach du liebe Güte. Wer ist das schon? Zack, schon malt mein innerer Comicstift die Karikatur eines Männchens: Es ist gerade mal so groß wie ein Gartenzwerg. Mit seinen Händen umklammert es auf Mundhöhe eine Fanfare, die drei Mal so groß wie es selber ist. Laut lässt es diese erschallen.

Ebenso deutlich wie die Fanfare sehe ich jedes weitere Detail vor meinem geistigen Auge. Jede Augenfalte in der Mimik dieses Männchens. Jede seiner Schweißperlen. Verursacht durch die Anstrengung, mit der er diese riesige Fanfare auf Höhe seine Mundes gleichsam tapfer wie verbissen festhält und unermüdlich hineinbläst. Jeden einzelnen Speichelrest, der bei jeder aus der Fanfare hervorkommenden Note aus der Öffnung des Instrumentes tropft. Darunter steht, wohl platziert, ein Napf für jenen Speichel bereit. Er füllt sich rasch und stetig. Manchmal würde ich wirklich gerne so schnell malen können, wie mein innerer Comicstift es mir aufzeigt.

Ohne jedwede Unterbrechung trötet die übergroße Fanfare des kleinen Männchens musikalische Sprechblasen heraus: Tätärätäää! Zurechnungsfähig??? Wer will denn das allen Ernstes von sich behaupten?! Tärä-Tärä-Tätärätää! Influencer, die ihr Superselfie über einem Abgrund schießen?! Raucher, die schon einmal davon gehört haben, dass eine Lunge sich eher über Sauerstoff denn über Teer freut?! Konzerne, die nach wie vor Plastik en masse produzieren, ohne sich um die Müllberge in den Weltmeeren zu scheren?! Tätäräää! Täräää! Helikoptereltern, die ihrem Sprössling weder Selbsteinschätzung noch Privatsphäre zugestehen, weil sie alles, was sich deren Kontrolle entzieht, als Gefahr betrachten?! Alle, die auf Grund von Hunger oder Appetit einen Fast-Food-Anbieter konsultieren, anstatt sich ausschließlich ökologisch-bio-dynamisch zu ernähren?! Jeder Verbraucher, der anstatt teure Fair-Trade-Kleidung kostengünstige Kleidung aus Billiglohnländern kauft?! Täräää-Täräää! Menschen, die trotz etlichen Widersinns allen Ernstes die Überzeugung hegen, ihre Spezies sei die intelligenteste Lebensform, die es auf der Erde und im Weltall je gab, alsgleich geben wird?! Tärääää! Du?! Ich? Tätäärääää! Ein jeder Mensch auf Gottes Erden?! Tätärätäää-Tätäräätää! …

Gerade als mein innerer Comicstift sich aufmacht, den Speichelnapf schwungvoll entleeren zu wollen, unterbricht ihn der Herr am anderen Ende der Leitung, indem er mich erneut anspricht. Der Ordnungshüter befürwortet die von mir angebotene Handlung, mein Handy an das Unfallopfer weiterzureichen.

Die Noten fallen zu Boden. Die Sprechblasen zerpuffen. Wie ein tanzender Derwisch dreht das Karikaturmännchen sich um die eigene Achse. Sekunden später ist es ebenfalls zerpufft. Die dadurch entstandene Staubwolke löst sich zusehends in ihre Bestandteile auf. Die Fanfare hängt noch eine Millisekunde in der Luft, dann kracht sie zu Boden, zerschlägt dabei den Napf und birst auseinander. Staub rieselt. Eine freundlich lächelnde Windwolke kommt und pustet den Staub liebevoll ins Nirvana.

Weil der Hüter der Ordnung seinen Job gewissenhaft verrichtet, weist er mich noch darauf hin, auch während der Übergabe des Mobiltelefones einen Abstand von mindestens anderthalb, idealerweise bitte zwei Metern einzuhalten und an das Tragen eines Nasen-Mundschutzes zu denken.

„Könnten Sie bitte aussteigen und ein Stück auf die Seite gehen?“ rufe ich dem jungen Mann daraufhin zu.

Er nickt und begibt sich zum Warndreieck. Ich trete an sein Auto heran, desinfiziere mein Handy unter Zuhilfenahme eines bis zu diesem Zeitpunkt in meiner Hosentasche befindlichen Pumpzerstäubers nebst Baumwolltaschentuch, lege ihm mein Mobiltelefon auf das Fahrzeugdach und entferne mich wieder.

„Sie sin’ aber gut ausgerüstet. Is’n da drin’?“

„In Wasser verdünnter Alkohol.“

„Mega. Welchen hab’n Sie ’n da? Korn?“

„Da muss ich Sie enttäuschen. Verdünntes Isopropyl. Hilft zum Beispiel gegen Insektenbisse. Farben kann man auch damit anlösen. Falls mal etwas daneben ging.“

„Iso kenn’ ich nich’. Aber Alkohol klingt gut.“

„Diesen sollte man lieber nicht trinken.“

„Nee warte, ne! Iso kenn’ ich wohl! Das is’ so’n Sportdrink so! Nich so’n Proteinshake mein’ ich. Eher so mit Magnesi’m un’ so. Un’ das gibt’s jetzt auch mit Alkohol?“

„Öhem…“

„Is’ ja mega! Wo is’n das zu kauf’n? Im Lidl? Penny? Oder Internet? Bestimmt Internet, ne? Gib’ ma’ die Seite.“

„Ich glaube, Sie sollten den Herrn von der Polizei nicht so lange warten lassen. Der hängt bestimmt nicht gerne in der Warteschleife.“

„Ach fuck, stimmt ja. … Hallo? … Ja, bin ich. … Ja, auch der Fahrzeughalter. …“

Während der junge Mann mit dem Polizisten spricht, umkreise ich aus einiger Entfernung seinen ramponierten PKW. Ausgiebig betrachte ich Motorhaube und Frontscheinwerfer.

Oh ja, da dürften genügend Wildschweinborsten zu finden sein.

Der junge Mann beendet das Gespräch, reibt mein Handy an seinem Hosenbein ab und legt es zurück auf das Autodach.

„Danke so, ne“, ruft er mir erleichtert zu, als er wieder auf Abstand geht. „Die schick’n welche ’raus. Kann paar Minuten dauern. Sie müss’n aber nich’ hierbleib’n. Weil Sie… ähm... Weil…“

Der junge Mann ringt nach Worten. Offenbar bemüht, sich an den genauen Wortlaut seines telefonischen Ansprechpartners zu erinnern.

„Weil…?“ versuche ich ihm auf die Sprünge zu helfen.

„Genau: Weil Sie keine Zeugin sind“, formuliert er aus und ein zufriedener Stolz überzieht sein Gesicht. „Sie könn’n ja keine Aussage mach’n so. Oder Angaben. Zum Verlauf un’ so. Also Sie dürf’n weiter, ne. Hat der mir so gesagt.“

„Ah. Prima. Wenn Sie zurechtkommen, würde ich mich tatsächlich gerne auf den Weg machen. Ich bin nämlich ein wenig müde.“

Ich sammele das Handy mit meinem Baumwolltaschentuch ein, desinfiziere es erneut und lasse es in meiner Tasche verschwinden.

„Leider kann ich Sie nich’ nach Hause fahr’n“, scherzt er, inklusive süffisantem Grinsen. „Also… Ja. … Dann schön’n Tag noch. … So, ne.“

„Dafür nicht“, entgegne ich freundlich und mache stante pede kehrt.

Jetzt nehme ich doch denselben Weg zurück, auf dem ich herkam.

Denn da der angefahrene Keiler vorhin in das Unterholz auf der anderen Seite der Landstraße gelaufen ist, trottet er dort wahrscheinlich noch irgendwo herum.

Und ich habe keine Lust, ihm zu begegnen.

*

„War er süß?“ fragt Nicole mich unvermittelt.

„Bitte was?“ stutze ich irritiert.

„Na, ob er süß war?“ wiederholt Nici ihre Frage. „Oder sexy? Ist er ein Single?“

„Boah, Nici. Was weiß ich, ob der Single ist. Der Typ hatte einen Wildunfall, ich habe die Polizei verständigt und das war es auch schon.“

„Habt ihr denn wenigstens eure Telefonnummern ausgetauscht?“

„Nein“, antworte ich leicht genervt. „Ich sagte doch gerade: Das war’s. Ich hatte und habe kein Interesse an seiner Telefonnummer. Und es ist mir auch egal, ob er ein Single ist oder nicht.“

„Kein Interesse? Überhaupt nicht? Aber er hat dich doch angescherzt.“

„An-ge-scherzt?“

„Dass er dich nicht nach Hause fahren konnte“, setzt Nicole nach.

Fassungslos starre ich auf mein Telefon.

„Na und?“ erwidere ich gedehnt.

„Also war er nicht süß.“

Zwecklos. Es ist einfach zwecklos.

„Dass du das so kannst, dieses... für dich sein“, resümiert sie staunend. „Ehrlich gesagt, bewundere ich dich da fast ein bisschen.“

„Was? Wieso denn das?“

„Also, für mich wäre das nichts. Wenn ich Falk nicht hätte und er mich nicht… Ginge gar nicht. Da haben wir uns letztens noch drüber unterhalten. Könnten wir nicht. Würden wir auch nicht wollen. Weder er noch ich. Du bist da anders als ich.“

„Außer einer wirklich guten Freundschaft verbindet mich ja auch nichts mit ihm.“

„Du nun wieder“, lacht Nici. „Hätte ich sagen müssen: ‚Ich bin da anders als du‘? Oder wie? Oder wie man halt sagen möchte. Ist ja auch egal. Die Hauptsache ist doch, dass man glücklich ist. Und wenn man’s nicht ist, dann muss man halt sehen, dass man es wird. Und darauf hinarbeiten. Damit es wird.“

„Äh, ja. Gut, dass Glücklichsein individuell definiert wird.“

„Wo du Recht hast, hast du Recht. Wenn ich mir so vor Augen führe, was manche Leute unter ‚glücklich sein‘ verstehen…“

„Nici?“

„Ja?“

„Lass gut sein. Bitte. Ich bin gerade nicht in Plauderlaune. Ist nichts gegen dich. Wirklich nicht. Weswegen hast du mich angerufen?“

Stille.

„Na ja… Seit März haben wir ja nichts mehr voneinander gehört. Aber… Ehrlich gesagt… Ach Lenja. … Ich bin es so leid“, wispert sie auf einmal kaum hörbar. „Es ist… irgendwie… dieses… diese… Diese Tatsache, dass viele erwachsene Menschen es nicht mit sich selber klar kriegen, dass es Menschen gibt, die eine andere Meinung haben und vertreten und das Leben anders leben, als sie selber es tun!!! Dass sie schon diese Tatsache an sich nicht aushalten können!!! Und am besten noch meinen, aus eben diesem Grund – ich drücke es mal höflich aus: blöd – gegen andere werden zu dürfen!!! Ich könnt’ kotzen! Ehrlich!“ platzt es aus ihr heraus.

„Du liebe Güte, Nici. Was ist denn passiert?“

„Wenn ich das mal selber wüsste. Es gab keinen konkreten Anlass. Keine bestimmte Situation. Es ist mehr so dieses… Irgendwie ist es inzwischen echt zu viel! Zuviel von immer derselben Leier! Too much negative input but less positive.“

„Too much input von welcher Leier?“

„Du weißt doch, dass Falk und ich seit März im Home-Office sind.“

„Ja. Geht ihr euch gegenseitig auf die Nerven?“

„Nein, das ist es nicht. Das geht alles.“

„Ist es, weil ihr Sebastian bei euch habt? Die Kitas öffnen bestimmt bald wieder.“

„Nein, Sebastian ist relativ unproblematisch. Der spielt und baut den ganzen Tag vor sich hin. Wir sind ihm viel zu langweilig. Weil wir den Großteil des Tages im Home-Office sitzen. Nein, das ist es auch nicht.“

„Was ist es dann?“

„Es ist… Wie soll ich sagen? … Irgendwie haben die Leute alle viel zu viel Druck auf’m Kessel. Naja, nicht alle. Aber viele. Weil die mit irgendetwas nicht klarkommen. Mit der ganzen Situation… oder sich selber… oder beides… oder was auch immer. Und das lassen die dann an anderen aus. Auch an mir. Und darauf kann ich einfach nicht mehr!!!“

Nicoles Stimme wird zunehmend von einer Mischung aus Wut, Trauer und Verzweiflung durchzogen.

„Wer lässt das an dir aus?“

„Andere Eltern, die ihre Kinder seit dem Lockdown zu Hause haben. Nachbarn. Verwandte. Falks Arbeitskollegen. Trinker, die den gesperrten Spielplatz in unserer Siedlung belagern. Wildfremde Leute im Supermarkt …“ sprudelt sie los. „Ich kann gar nicht alle aufzählen. Meistens gehen sie genau dann auf mich los, wenn sie ihre Situation oder Emotion oder was weiß ich entweder nicht gut oder eben überhaupt nicht meistern können“, fährt sie in besagter Stimmlage fort. „Und zwar sowohl auf ihre Handlungsaktivität bezogen als auch hinsichtlich ihrer eigenen geistigen, körperlichen, seelischen, emotionalen und nervlichen Bewältigung mit sich selber. Und weißt du was? Das zieht sich durch sämt­liche Alters­klas­sen, Ge­schlech­ter, Berufs­grup­pen, Bil­dungs­level, Ein­kom­mens­klas­sen… Ich kann einfach nicht mehr!“

„Mensch Nici. Nimm dir das doch nicht so zu Herzen. Und lass mal für einen Augenblick von dieser päda­go­gisch-psy­cho­lo­gisch-ana­ly­ti­schen Sprech­weise ab. Du bist doch hier nicht auf einem Elternabend oder Pädagogentreff oder so. Wir kennen uns schließlich lange genug.“

„Tschuldige. Siehst’e, das ist auch so’n Punkt! Wehe, ich drücke mich nicht durch und durch abgefeimt aus. Dann wird’s mir gleich wieder sonstwie ausgelegt. Und dann wird das künstlich zum Thema aufgeblasen und rauf und runter zerpflückt. Bloß, damit die was zu wettern und belehren haben und von sich selber oder vom eigentlichen Punkt ablenken und sich selber aufwerten können!“

„Lasse das nicht so nahe an dich heran. Du weißt doch: In das Titelblatt von heute wickelt man schon morgen den Fisch vom Wochenmarkt ein.“

„Als ich noch kein Kind hatte, hieß das Totschlag-Argument immer: ‚Du hast ja keine Kinder, also kannst du da gar nicht mitreden‘, oder ‚Wart‘ mal ab, bis du Kinder hast, dann singst du auch ein anderes Lied.‘ Aber weißt du was?! Tatsächlich habe ich vor einiger Zeit unseren eigenen Nachwuchs zur Welt gebracht…“

„Ist mir nicht entgangen“, versuche ich sie aufzumuntern.

„… und ich singe kein anderes Lied. Ich sage und sehe die Dinge immer noch ganz genau so wie vorher. Und jetzt? Na? Jetzt ist den Leuten das eine Totschlag-Argument also ausgegangen und schon haben sie ein neues.“

„Das wundert mich jetzt nicht. Wie lautet es?“

„Na wie wohl?! ‚Ich kann zwar nicht dies oder das, aber…‘, oder ‚Vielleicht war das nicht so astrein von mir, aber…‘“

„… aber…?“

„…‚aber wenigstens hat mein Kind ein gutes Leben!‘ oder ‚…aber wenigstens hat meine Familie ein gutes Leben!‘ oder ‚…aber wenigstens haben wir ein gutes Leben!‘ Und so weiter. Was die dann halt immer so an Argumenten haben. Irgendetwas in dieser Richtung kommt jedes Mal. Und die ganz besonders netten, die treten dann noch nach. Sowas wie ‚Im Gegensatz zu deinem armen Würmchen‘, oder ‚Was man von dir ja leider nicht sagen kann‘, oder ‚Im Gegensatz zu euch‘, oder ‚Deine Familie kann einem echt leid tun‘, und lauter solche Nettigkeiten. Bloß, weil sie es nicht aushalten können, dass ich und meine Familie anders ticken und leben als sie! Und dass wir anders an die Dinge herangehen als sie! Ich könnte an die Decke gehen! Echt! Die sollen doch einfach mal den Ball flach halten!!! Ich spucke denen doch auch nicht in ihre Suppe! Ich lasse die doch auch nach deren Fasson selig werden! Leben und leben lassen! … Und das einfach mal in aller Gelassenheit. Aushalten können. Gerne auch freundlich gesinnt. Mit einer großen Portion Wohlwollen. Das wäre mal etwas.“

„Ja, das wäre schon einmal eine gute Grundlage.“

„Woher maßen die sich eigentlich an zu beurteilen, ob meine Familie und ich ein gutes Leben haben oder nicht?! Woher bitteschön?! Ich habe die nicht zum Tee eingeladen! Keinen von denen!“

„Ich vermute, die gehen von ihrem eigenen Maßstab aus. Mensch, Nici. Lasse dich doch nicht so fertigmachen. Denke dir deinen Teil und zeige denen innerlich den Stinkefinger. Wir wären längst nicht so lange und so eng miteinander befreundet, wäre ich der Meinung, du hättest keine guten Maßstäbe. Behalte einfach deinen Kurs bei, dann kommt das Schiff schon gut durch die Klippen. Du machst das schon richtig. Das meine ich ehrlich.“

„Danke.“

„Bitte. Was sagt Falk eigentlich dazu?“

„Er steht voll zu mir. Und hinter mir. Und Sebastian auch. Der ist zwar noch ein kleines Kind, aber wenn er möchte, kann er sich auf seine kindliche Art doch ziemlich unmissverständlich ausdrücken. Da staune ich selber.“

„Na, das ist doch prima.“

„Ja, das sehe ich auch so. Dafür bin ich auch echt dankbar. Du, Lenja?“

„Mmm?“

„Was genau ist bitte ein gutes Leben?“

„Oha. Jetzt wird’s philosophisch.“

„Eben! Da gibt es doch tausende Definitionen. Tausende Antworten. Diese Frage gibt es doch schon seit der Antike.“

„Ach, vielleicht gab es diese Frage sogar noch früher, wer weiß. Vielleicht ist sie damals nur nicht dokumentiert worden. Oder die Dokumentationen sind nicht erhalten geblieben. Oder noch nicht gefunden worden. Was weiß man schon wirklich über die Geschichte der Menschheit? Alle paar Jahre kommen neue Erkenntnisse und Thesen hinzu. Oder neue Entdeckungen werfen weitere Fragen auf. Der Mensch hat doch während seiner eigenen Lebensphase sowieso immer nur ein Guckloch auf das große Ganze.“

„Jetzt wirst du philosophisch.“

„Ja. Wieso auch nicht? Nach deiner Eröffnung.“

„Touché. Na gut, dann also: Was ist ein gutes Leben?“

„Das kommt ganz auf den Blickwinkel des Betrachters an.“

Ein Krachen im Hintergrund. Dicht gefolgt von Sebastians weinendem Aufschrei.

„Och nööö. Wart’ mal eben, Lenja. Ich leg’ dich mal kurz zur Seite.“

Rauschen. Sich entfernende Schritte. Sebastians weinendes Schreien kippt in ein wimmerndes Schluchzen. Weitere Schritte. Falks Stimme mischt sich unter das Gewirr. Nahende Schritte.

„Ich muss Schluss machen, Lenja. Sebastian hatte seinen frisch gebauten Kran auf das Sofa gestellt, weil er mit dem Greifarm das Spielzeug vom Boden aufsammeln wollte. Er war so in sein Spiel vertieft, dass er den Wohnzimmertisch vergessen hat. Da ist er grad mit dem Rücken gegen gerummst. Ich melde mich.“

„O.k. Gute Besserung.“

„Danke.“

Klack.

Was ist ein gutes Leben?

Reichtum? Wohlstand? Erfolg? Materielles? Mobilität? Optik? Gesundheit? Liebe? Verbundenheit? Freunde? Partnerschaft? Freizügigkeit? Keuschheit? Veränderung? Beständigkeit? Enge? Freiheit? Ruhe? Geräusche? Dunkelheit? Helligkeit? Sonne? Regen? Wind? Wärme? Kälte? Eremitentum? Geselligkeit? Fülle? Askese? Monokultur? Vielfalt? Nahrung? Trockenheit? Wasser?

Und was ist, wenn das eine das andere bedingt? Wie verhält es sich dann mit der Empfindung um ein gutes Leben?

Was ist, wenn man reich genug ist, sämtliche Möglichkeiten zur Genesung und Erhaltung der Gesundheit finanzieren zu können, diese jedoch nicht in Reichweite sind?

Was ist, wenn man eben diese Möglichkeiten zwar in Reichweite hat, sie jedoch kaum oder überhaupt nicht finanzieren kann und aus diesem Grund in einer schlechteren Verfassung ist, als man eigentlich sein müsste?

Was beinhaltet in einem solchen Fall die Auffassung von einem guten Leben?

Über den Tellerrand hinaus geschaut: Was ist, wenn man seine Lebensspanne nicht in Gestalt eines Menschen – wovon in der Regel ausgegangen wird und ergründende Gedanken somit per se relativ eng sind – sondern der eines Tieres verbringt? Zum Beispiel als eines, das in seinem Bewegungsraum und seiner Versorgung vollkommen abhängig von seinem Halter ist? Oder als eines, das weder Mähmaschinen noch Feuersbrünste kennt und in seiner Rettung arglos auf andere angewiesen ist?

Was ist dann ein gutes Leben?

Könnte es sinnvoll sein, mich postwendend an meinen Schreibtisch zu begeben um eine zwölfbändige Enzyklopädie über dieses Thema zu beginnen? Unterteilt in sämtliche der Menschheit bekannten Epochen, Regionen und Lebensformen? Geprägt vom jeweils kursierenden Rollen- und Weltbild? Dem Zeitgeist sowie auch politischen und religiösen Einflüssen und Strömungen? Bis hin zu Gesellschafts­schichten? Welche logischerweise im Kontext von Einkommen, Alltag, Gesundheit und Lebensumständen zu betrachten wären?

Nein. Eine solche Enzyklopädie ergäbe keinen Sinn. Letztendlich würde jedes Kapitel mit demselben Fazit schließen: Leben ist – neben vielen anderen Faktoren – an die Auffassung von Glück geknüpft.

Die Auffassung von Glück wiederum

war,

ist

und wird

individuell definiert.

*

„Können Sie auch einen Einhornkuchen backen?“

„Na klar. Bestimmt.“

„Ah, gut. Mein Enkelkind hat nämlich Geburtstag. Es wäre der erste Geburtstag gewesen, den sie im Kindergarten gefeiert hätte. Mit ihren ganzen neuen Freunden. Aber durch die Pandemie-Auflagen und dieses ständige Hin und Her, ob die Kindergärten und Schulen nun geöffnet sind oder nicht… Ach, man kennt sich ja gar nimmer aus. Und sie hatte sich doch so gefreut. Ach, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Aber mit all ihren Freunden im Kindergarten zu feiern, das geht im Moment nun einmal nicht. Da musste ich sie schon sehr trösten. Am Telefon. Und über Video. Das hat meine Tochter mir gezeigt. Wie das geht und so. Und da rufen wir uns jetzt immer gegenseitig mit Video an. Ja, und dann stellt meine Tochter ihr Handy auf die Nachttischkommode und meine Enkel können sich dann davor setzen und wir sprechen dann zusammen. Alle miteinander oder durcheinander, ach, immer so wie’s auskommt. Oder wer mag oder keine Zeit hat, der kann auch zwischendurch mal rausgehen. Und die anderen sprechen dann weiter. Meistens ist es ja so, dass meine Enkel nach ihrer Oma fragen. Und da lasse ich mich natürlich nicht lange bitten, das ist klar. Wozu bin ich sonst Oma? Und ja, und dann höre ich zu und wir sprechen so dies und das und ich mache, was immer mir möglich ist. Ach, das ist manchmal ganz herzig, was meinen Enkeln dann so zwischendrin einfällt. Es ist noch gar nicht so lange her, da wollten sie, dass ich denen etwas vorlese. Ja, um Himmels Willen, das Buch kannte ich gar nicht! Das hatte ich auch nicht da! Ja, du liebe Güte, da hatte ich eine Not. Und dann die traurigen Augen. Das können Sie sich gar nicht vorstellen. Ach, das war eine Stimmung, – nein. Mein Schwiegersohn hat dann das Buch im Internet bestellt und was soll ich Ihnen sagen? Am nächsten Tag war es bei mir! So schnell! Und dann gab es die Vorleserunde doch! So eine Freude! Da saßen meine beiden Enkel dann vor diesem kleinen Bildschirm und haben ganz andächtig zugehört. Vor dem Mittagsschlaf. Am Anfang haben sie noch zu mir hin geguckt, aber dann wurden die Augen immer müder. Ach, und da waren sie dann auch bald eingeschlafen. Oder was bei meinen Enkeln dann manchmal so ganz plötzlich raus geplappert kommt! Ich sage Ihnen, da gerate ich bisweilen regelrecht ins Staunen. Mein Schwiegersohn sagte das auch schon. Und dass er und seine Frau, also meine Tochter, das ja sonst gar nicht so mitkriegen. In dem ganzen Umfang. Weil der Große ja schon in der Grundschule ist und die Kleine im Kindergarten. Und meine Tochter und mein Schwiegersohn ja auf der Arbeit. Also vor dem Lockdown. Ja, und jetzt findet die Kinderbetreuung schon seit März zu Hause statt und da haben die Eltern ja keine Sekunde Ruhe. Oder mal einen Augenblick für sich. Es ist ja nicht nur die Kleine, um die sich gekümmert werden muss. Der Große ist ja auch noch da. Homeschooling! Ach, eine Katastrophe sage ich Ihnen…“

„Hmja. Der Einhornkuchen ist aber für die Kleine, wenn ich Sie recht verstehe?“

„Ja genau. Ich sag’ zu meiner Tochter und meinem Schwiegersohn ‚Ich backe ihr einen schönen Mamorkuchen.‘, sage ich. Ach, um Gottes Willen! ‚Nein‘, sagen beide. ‚Das ist total lieb von dir, Mutti‘, sagen sie, ‚aber sie wünscht sich so sehr einen Einhornkuchen.‘“

„Und diesen Wunsch möchten Sie als Oma Ihrem Enkelkind nun gerne erfüllen?“

„Ja natürlich! Die beiden kommen doch gar nicht dazu. Die haben ja nicht eine Minute für sich. Als wenn die noch heimlich etwas backen könnten. Nein nein, das ist nicht drin. Da muss die Oma ran. Tja, und jetzt? Ich habe doch noch nie einen Einhornkuchen gebacken. Ich weiß gar nicht, wie so etwas aussieht. Und wie das geht. So ein Einhornkuchen. Und als ich da Ihren Zettel im Supermarkt gesehen habe, der hing ja da an der Pinnwand, da dachte ich: Ruf doch mal da an. Vielleicht kann die dir ja weiterhelfen. Ich habe auch schon in den Bäckereien angerufen, – in Ödenpofen und in Strunzdorf. Aber so etwas Spezielles machen die im Moment alle nicht mehr. Und in der alten Mühle, diesem herrlichen Ausflugs-Café in Ödenpofen und in der Strunzdorfer Konditorei, da habe ich mich auch telefonisch erkundigt und die sagten mir, sie seien nur noch in der Minimalbesetzung da, beide, und fertigen nur noch schon vorbestellte Hochzeitstorten an und liefern die aus. Und es sei ja vorher schon so schwierig gewesen. Wegen der Unkosten und so weiter und sie hätten ja eine Sitzecke und die sei immer gut besucht gewesen, aber das fällt ja inzwischen alles weg und jetzt wissen die selber nicht, ob ihr Betrieb demnächst überhaupt noch da ist. Einhorntorte und so etwas, das nehmen die gar nicht mehr an. Ja, du liebe Güte, da habe ich aber einen Schrecken gekriegt! Was mache ich denn jetzt? Können Sie mir denn da weiterhelfen?“

„Das hoffe ich doch“, spreche ich uns beiden zuversichtlich Mut zu.

Geduldig lausche ich der stolzen Großmutter, welche mir im weiteren Verlauf unseres Telefonates eine ebenso wortgetreue wie ausführliche Beschreibung der Einhorntorte wiedergibt. So, wie ihre Enkelin sie ihr beschrieben hat. Im Geiste rechne ich bereits die Menge der dafür benötigten Lebensmittel hoch. Zwei Erwachsene und zwei Kinder. Laut dieser schnuckeligen Oma verspeist jede Person circa drei oder vier Stück Kuchen. Über den Geburtstag und die anschließenden zwei Tage verteilt. Sie selbst wird nicht mitessen. Denn weil Oma mit ihren dreiundsiebzig Jahren zur Risikogruppe gehört, darf sie vorerst leider nicht zum Geburtstag ihrer Enkeltochter kommen. Aber selbstverständlich wird sie, wann immer es die jeweiligen Beteiligten wollen, per Video dabei sein.

Gegen Ende des Gespräches einigen wir uns darauf, dass sie mir die Unkosten für die Lebensmittel erstattet und jenen Betrag um einen kleinen Bonus ergänzt. Schon jetzt ist mir klar, dass besagter Bonus keineswegs die aufzuwendende Arbeitszeit vergüten wird. Dennoch. Diese reizende alte Dame ist eine so herzensgute Vollblutoma, dass ich ihr dieses Anliegen weder abschlagen kann noch möchte.

*

O tempora, o mores.

Einhornkuchen.

Ein Drama in drei Akten.

Erster Akt: Der Biskuitboden.

Sorgsam trenne ich das Eigelb vom Eiweiß. Jedes kleine abgesplitterte Stück Eierschale wird akribisch mit einem sauberen Lebensmittelpinsel heraus gefischt. Während das mit Zucker aufgeschäumte und steif geschlagene Eiweiß schon im Kühlschrank steht und dort auf seinen Einsatz wartet, heizt der Backofen bereits vor.

Hayden untermalt die Szenerie seit Anbeginn. Im Stimmungsbarometer seiner Orchesterklänge verquirle ich diverse Zutaten in großen Kaffeebechern und Müslischüsseln und stelle sie separat, zur weiteren Verwendung, bereit. Sooo… Bitte nicht rutschen! Ich weiß, dass in meiner Küche wenig Platz ist, aber trotzdem: Nicht hinfallen, o.k.?! Nicht kaputt gehen. Bitte. Ich brauche diese Zutaten noch. Und neues Geschirr möchte ich mir zur Zeit auch keines kaufen. Nicht bewegen. Einfach brav stehenbleiben. Jaaa! Guuut! So stehenbleiben!!! Jaaaaa! Genau so! … Uff!!!

Zweiter Akt: Die Quarkcreme.

Der Biskuitboden ist mittlerweile fertig und in Sicherheit. Er steht zum Auskühlen im Schlafzimmer. Normalerweise empfiehlt es sich, Biskuitbackwerk einen ganzen Tag lang auskühlen zu lassen, bevor es weiter verwendet wird. Doch dieses Zeitfenster hat die Vollblutoma nicht. Ihr pressiert’s. Nun denn, – der Biskuitboden ist abgedeckt. Weichet, ihr Wespen! Für euch gibt es hier nichts zu holen!

Fertig angerührte Schlagsahne? Anwesend. Mit Puderzucker angereicherter Magerquark? Anwesend. Abgekühlte Zitronengelatine? Anwesend. Vier Lebensmittelfarben sowie fünf bislang unbenutzte große Tassen? Anwesend.

Nun denn.

Behutsam vermenge ich Puderzuckerquark, Schlagsahne und Zitronengelatine miteinander und befülle jede einzelne der fünf Tassen zu dreiviertel mit dieser Masse. Jetzt muss ich bloß noch die Farben unterrühren. Bloß noch. Ha! Von wegen! Es ist der Teil der Arbeit, auf den ich mich am meisten gefreut habe. Farben! Her damit!

Rot, Gelb, Blau und Grün werden hingebungsvoll auf vier der Tassen verteilt. Die Masse in der fünften Tasse bedenke ich mit einem sorgfältigen Blick, – ob sie auch keine Farbspritzer abbekommen hat. Denn sie soll für’s Erste noch weiß bleiben.

Ja, alles in Ordnung. Na bitte, geht doch.

Ab in den Kühlschrank! Zumindest mit all jenen Tassen, die darin noch Platz finden.

Dritter Akt: Aufbau der Torte.

Hm. Ein bisschen Inspiration könnte nicht schaden.

Hayden räumt seinen Platz und überlässt Max Bruch das Feld. Beziehungsweise die Lautsprecher.

Den ausgekühlten Biskuitboden befreie ich aus seinem vor Wespen gesicherten Verlies. Zurück in der Küche, schneide ich ihn in acht fast gleichmäßige Scheiben. Geringfügige Abweichungen inbegriffen. Die dickste Scheibe bildet den Boden. Ich beginne mit… hmmm… mit Grün. Schwungvoll entleere ich die grüne Creme aus der Tasse über dem untersten Biskuitboden. Ebenso beschwingt verteile ich sie nun mit dem breiten Kuchenmesser, – bis die gesamte Fläche vollständig bestrichen ist. Danach decke ich die grüne Cremeschicht mit der nächsten Biskuitbodenscheibe ab. Irgendwann sind endlich alle Farb- und Biskuitschichten zu einer mehrstöckigen Torte zusammengebaut. Es wird Zeit, dieses Wunderwerk der Backkunst mit der verbliebenen weißen Creme sorgsam zu ummanteln. Vorher jedoch…

Ein umgedrehtes Eiswaffelhörnchen wird das sagenumwobene Horn des Einhornes bilden. Ganz oben, auf dem höchsten Punkt der Torte. Deshalb muss ich nun ganz viel Fingerspitzengefühl aufwenden.

Man mag von der Farbe Rosa halten was man möchte, – ich werde nicht dafür bezahlt, mit der Großmutter oder den Eltern des Geburtstagskindes über die kommerzielle Verwendung dieses Farbtones, geschweige denn über ein fragwürdiges Frauenbild zu diskutieren. Auch steht mir nicht der Sinn danach. Denn ein Kind, das all den derzeitigen Widrigkeiten mit Hilfe seiner überzeugten Jawohl!-Prinzessinnen-haben-Einhörner!-Philosophie trotzt und immense Kraft sowie einen Teil seines seelischen Gleichgewichtes aus dieser Philosophie schöpft, hat meinen vollen Respekt und Rückhalt.

Vorsichtig mische ich den Rest der weißen Quarkcreme unter den verbliebenen Rest der roten Quarkcreme, bis ein unbeschwertes Pastellrosa entstanden ist. Behutsam pinsele ich das Waffelhörnchen damit ein und suche im Kühlschrank eine Nische. Passt!

Nun noch zwei sorgfältig ausgeschmückte Augen aus unterschiedlich farbigem Fondant am Fuße des Kuchens angebracht, mit einer Fondue-Gabel die Strähnen der Pferdemähne in das Kunstwerk hinein gezogen und virtuos ein paar bunte Schokoladenstreusel so wie rosa, silbern glitzernde und hellgelbe Marzipanblumen von verschiedener Größe in die Mähnenhaare gestreut. Fertig.

Dieses Kunstwerk von Torte ist – melodramatisches Hach – eine echte Diva. Darum lässt sie sich auch nicht in diesen ordinären Kühlschrank zwängen. Viel zu eng. Und soll sie diesen unzumutbar mickrigen Platz vielleicht auch noch mit anderen teilen? Womöglich etwa mit solchen aus dem gewöhnlichen Fußvolke? Püh!!!

Nee, ist klar. Gut, dass ich schon vorher mit dieser Entwicklung gerechnet habe. Was man eine kluge Frau heißt, so sorgt eine solche vor. Behände eile ich in das abgedunkelte Badezimmer, versiegele den Abfluss der Dusche mit dem Stöpsel, spurte zum Kühlschrank, zerre sämtliche eingelagerten Kühlakkus und Eiswürfel aus dem Tiefkühlfach und verteile diese flächendeckend in der Duschtasse. Et voilà! Der Frischhalte-Jungbrunnen ist angerichtet! Möge die hochwohlgeborene Diva gnädigst geruhen, dort Platz zu nehmen? Darf ich Ihre verehrte Durchlaucht untertänigst in ihr Gemach der ewigen Jugend geleiten?

Aber ja doch.

Das rosa Waffelhörnchen setzte ich erst dann auf die Spitze der Torte, wenn des Kindes Großmutter im Taxi vorfährt. So ist es ausgemacht.

Oma höchstselbst wird daheim noch frische Sahne schlagen und jene Stelle, an der das Einhorn sitzt, mit einem Zierrand aus eben dieser Schlagsahne versehen. Den Rest der bunten Schokoladenstreusel und Marzipanblumen wird sie auch mitnehmen. Die streut sie über das Einhorn und den Rand aus Sahne, sobald dieser fertig ist.

Max Bruch verstummt. Er hat den Zeitpunkt gut abgepasst. Stille kehrt ein.

Dies also ist der Moment, sich dem Anblick der anstehenden Nachbereitung zu stellen. Wohlan denn. Schaue den Tatsachen ins Auge, Lenja.

Imaginäres Grillenzirpen.

Meine Küche ist ein Schlachtfeld aus Farben und Speiseresten.

In meinem Schlafzimmer feiert eine Horde Wespen eine Party für Verwirrte.

Ich hatte vergessen, das Fenster zu schließen. Der Duft von frisch gebackenem Biskuitboden liegt noch immer in der Luft.

Der Flur wurde vorübergehend zur Sammelstelle für gebrauchte Geschirrtücher, Topflappen, Schüsseln, Schneebesen und dergleichen mehr. All das Zeug, für das in der Küche zwischenzeitlich kein Platz mehr gewesen ist, liegt in der Diele verstreut.

Nein, – im Sinne von nein. Ab und zu braucht der Mensch eine Pause. Kurzentschlossen leiste ich der Diva in meinem Badezimmer Gesellschaft. Denn jener vorsorglich abgedunkelte und gekachelte Raum ist nicht nur angenehm kühl sondern auch frei von Wespen.

Die Türglocke lässt mich aus meinem Nickerchen aufschrecken. Jetzt aber hurtig.

Wie abgesprochen, stelle ich den Einhornkuchen auf meine Fußmatte und lege den Kassenbon unter das Glas mit den bunten Streuseln und Blumen. Rasch schließe ich die Tür wieder. Gespannt lausche ich auf die Schritte im Treppenhaus.

Ein Juchzen erklingt. Treffer.

Aufrichtig freue ich mich mit der mir unbekannten Enkeltochter und ihrer Oma.

Erst nachdem das Taxi weggefahren ist, öffne ich meine Wohnungstür erneut.

Neben dem Geld für die Lebensmittel und einem zusätzlichen zwanzig Euro-Schein liegen fünf frische Waffeln. In Backpapier eingedreht.

Darunter ein Zettel:

Vielen, vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen.

P.S.: Waffeln kann ich.

*

„… und wie geht es Sebastian inzwischen? Hat er sich von dem Schrecken erholt?“

„Ach, da denkt der schon gar nicht mehr dran. Der hat vier Tage lang jeden Abend seinen Rücken von mir mit Salbe eingerieben bekommen und dann war gut.“

„Na, umso besser.“

„Ach Mensch, es wäre so cool, einfach mal wieder in Ruhe mit dir klönen zu können. So ganz unkompliziert, weißt du. Einfach irgendwo sitzen und quatschen und den Kleinen dabei im Blick haben. Wenn dieser ganze Pandemie-Mist vorbei ist und man endlich wieder so richtig normal `raus kann, besuche ich dich wieder. Mit Falk und Sebastian. Und dann gehen wir alle miteinander zu diesem liebenswerten alten Herrn bei dir in der Nähe. Der, der uns die Weißwürste und den Schokopudding serviert hat, als ich mit Sebastian schwanger gewesen bin. Meine beiden Jungens freuen sich schon sehr darauf. Falk hat ewig keine Weißwürste mehr gegessen und Sebastian kennt so etwas überhaupt noch nicht.“

„Tja. Ich fürchte, da werden sie kein Glück haben.“

„Wie jetzt? Wieso das denn nicht? Was meinst du?“

„Der alte Herr hat seine Gastronomie dicht gemacht. Direkt im März, im ersten Lockdown. Stand in der Zeitung und im Lokalradio kam es auch. Einen Nachfolger hat er wohl noch nicht gefunden, – aber er möchte sich den Stress mit den Auflagen nicht mehr antun. Er möchte seinen Lebensabend genießen, – so lange er noch da ist. Ich kann es ihm nicht verdenken.“

„Oh. Nein. Ich auch nicht. Schade ist es trotzdem. Der hat wirklich leckere Sachen aufgetischt. Nicht so`n vorgefertigtes Zeug.“

„Oh ja, – da sprichst du ein wahres Wort gelassen aus. Meinst du, Falk und Sebastian werden diese niederschmetternde Nachricht verkraften? Werden sie sich mit einer anderen Verköstigung arrangieren können?“

„Ach klar. Bestimmt. Zur Not nehmen wir uns eben eine Decke mit und picknicken irgendwo im Freien. Dann kann Sebastian mit Falk auch Fußball spielen und solche Sachen. Hauptsache, wir haben ein Stückchen Normalität zurück. So, wie wir es von vorher kennen. Was das betrifft, gehe ich irgendwie auf dem Zahnfleisch.“

„Das kann ich mir vorstellen. Und wie geht es dir sonst zur Zeit? Mit deinem Schlafpensum? Und den alltäglichen Anforderungen?“

„Gute Frage. Einerseits könnte man sagen, es ist alles beim Alten, aber das stimmt so nicht ganz. Denn andererseits sind Falk und ich ja ein gut aufeinander eingespieltes Team. Und genau das macht sich dieser Tage sehr bezahlt.“

„Aha? Inwiefern?“

„Tja, wie beschreibe ich dir das? Irgendwie haben wir das im Umgang mit Sebastian gemerkt. So gewisse Erziehungs-Bausteine haben sich auch bei uns eingebürgert. Aber ohne dass es zwischen Falk und mir eine Erziehung ist, – sondern mehr so im Miteinander. Und das ist irgendwie richtig klasse.“

„Das klingt tatsächlich super. Bei welchen Gelegenheiten macht sich das denn bemerkbar? Und ist das nur für dich so oder…?“

„Nein, das ist für uns alle so. Also, pass’ auf, ich gebe dir mal ein Beispiel: Wenn Sebastian in seiner Eigenschaft als kleines Kind seine alterstypischen fünf Minuten hat, müssen wir als Eltern das natürlich irgendwie aushalten können, es irgendwie auffangen und, wenn nötig, gegensteuern.“

„Klar. So weit kann ich dir folgen. Und weiter?“

„Wenn Sebastian zum Beispiel quengelig ist, weil er im Grunde einfach nur müde ist oder wenn er aufdreht, weil er von irgendetwas frustriert ist oder uns nicht seinen Willen aufzwingen kann,…“

„… dann…?“

„Dann sagen wir ihm zu ihm so etwas wie ‚Du kannst dich jetzt auf den Boden werfen und mit den Fäusten trommeln, das wird trotzdem nichts ändern.’ Oder Falk hat noch so einen schönen Wecker mit rundem Zifferblatt. Aus den Neunzigern. Dann sagen wir auch mal ‚Guck, der große Zeiger steht jetzt hier. Und wenn der große Zeiger dort steht, komme ich in dein Zimmer und dann sagst du mir, ob du noch eine Weile sauer oder etwas anderes sein möchtest.‘ Mal sagen wir so etwas in einem strengen Ton, mal in einem freundlichen, mal in einem verständnisvollen. Ganz so, wie es die Situation erfordert. Und ob du es glaubst oder nicht, – aber es funktioniert. Interessanterweise sogar recht häufig ohne irgendwelche Zerwürfnisse.“

„Wow. Nicht schlecht. Nur… Inwieweit hat das mit Falk und dir zu tun? Oder mit deinen Schlafstörungen?“

„Naja, wir haben das in gewisser Weise auch für uns übernommen. In abgewandelter Form natürlich, aber – es klappt. Und es geht uns richtig gut damit. Es gab da mal so einen Schlüsselmoment und seitdem machen wir das so.“

„Nämlich?“

„Ach, das war eine ganz putzige Situation. Ich hatte eine Nacht mal wieder nur knapp vier Stunden geschlafen und fühlte mich am darauf folgenden Morgen wie gerädert. Wir saßen alle am Frühstückstisch und ich sah wohl ziemlich zerknautscht aus und habe auch ein wenig herum gezickt.“

„Mmm.“

„Da ist Sebastian kommentarlos von Falks Schoß herunter gestiegen, hat den Raum verlassen, kam mit Falks Wecker zurück und hielt ihn uns wortlos, aber ganz ernst beteiligt hin.“

„Wuuaahhhahahaaaahahaaahahahahaaaaa!!!!!! Entschuldige… uhahahahhahaaha…“

„Tja… Und seitdem läuft vieles anders. Wenn ich merke, dass ich gerade mal wieder schlecht zurecht bin und weder Falk noch Sebastian um mich haben kann, dann sagen wir uns… mmm… Schlüsselsätze. Und verhalten uns daraufhin so, wie es sich für uns als gut erwiesen hat. Zum Beispiel sage ich dann so etwas wie ‚Tu etwas Sinnvolles, Schatz: Störe mich jetzt nicht.‘“

„Mmmmjaaauuhahahaaa…“

„‚Leg’ dich mit Basti auf das Sofa und meditiere über unseren Einkaufszettel. Basti, du kannst Papa dabei helfen. Solche Sachen wie Backofenpommes oder so vergisst er nämlich ziemlich häufig.‘ Und Falk antwortet dann: ‚Gute Idee. Zu dumm, dass ich manchmal zur Vergesslichkeit neige.‘ … Und dann verziehen die beiden sich. Ich kriege meinen Kram fertig und komme ein paar Minuten zur Ruhe. Und einen fertigen Einkaufszettel habe ich anschließend sogar auch noch.“

„Congratulations, Nici. Euch allen. Besonnenheit und Humor, – das sind zwei gute Ratgeber, die ihr euch da ins Haus geholt habt.“

*

Lange Spaziergänge durch die Natur sind zu einem festen Bestandteil meiner Tagesroutine geworden. Manchmal, sehr unregelmäßig, sehe ich auf meinen Wanderungen die Krähe mit den gezeichneten Flügeln. Ich weiß nicht, ob sie sich Futter aus den Resten meiner Wegzehrung erhofft oder ob sie mich streckenweise einfach nur begleiten möchte. Vielleicht ist es eine Mischung aus beidem.

Bewegung, das ist allgemein bekannt, tut dem gesamten Körper gut. Der Seele und dem Geist nicht minder. Ich merke, dass ich mich nach einem Spaziergang besser konzentrieren kann. Unter anderem. Liegt es am Sauerstoff? An der Bewegung selbst? An der unverbauten Natur, die mir Raum gibt, meinen Blick schweifen zu lassen? Oder daran, dass sie all meine Sinne mit ihren gleichermaßen wundervollen wie vielfältigen Erscheinungsformen von Flora und Fauna beschenkt?

Wie es Valtteri wohl geht? Und Anneline? Und Tarja?

Ich weiß, dass ich ihnen schon längst wieder hätte schreiben sollen. Ihnen allen. Es ging nicht. Bisher war ich einfach noch nicht wieder so weit.

Auf dem Heimweg komme ich an einem umzäunten Gartengrundstück vorbei. Drei Kinder, offensichtlich Geschwister, toben ungehemmt darin herum. Eines dieser runden Mini-Trampoline, die in jedes Wohnzimmer passen, steht neben einem großen runden Schwimmbassin und wird abwechselnd in Beschlag genommen.

Solange eines der drei Kinder auf dem Trampolin springt, tollen die anderen beiden im Wasser herum. Das hält nicht lange vor. Immer nur ein paar Minuten, dann wechseln sie reih­um.

Ja, Bewegung tut gut. Kindern ist das vollkommen klar. Wenngleich auch nicht immer bewusst. Vortrefflich, dass sie einen Garten haben. Wie gut, dass neben bunten Blumenbeeten noch genug Platz für ein kleines Trampolin und ein großes Bassin vorhanden ist. Fabelhaft, dass sie ganz und gar ungetrübt spielen und herumalbern.

Freude zu haben, ist so wichtig.

Im Gegensatz zu diesem Miniparadies aus Lebensraum und Lebensfreude sind die zahlreichen Steingärten, an denen ich innerhalb der nächsten Viertelstunde vorbeikomme, regelrecht freudlos.

Lieblos. Freudlos. Leblos.

Angesichts dieses offenkundigen Kontrastes mutet die abgestumpfte Teilnahmslosigkeit der Passanten, gleich welchen Alters, fast schon gruselig an: Keiner der Vorbeilaufenden hält inne. Keinem geht das Herz auf. Keiner lächelt.

Niemand schaut hin. Es ist, als hätten die Steingärten mit all ihren Eigenschaften bereits Einzug in die Herzen vieler Menschen gehalten. Wie innen, so außen, sagt eine Redensart. In der Regel mache ich es mir nicht so einfach. In diesem ausnehmenden Fall allerdings, liegt vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit darin.

Schriebe ich Valtteri davon, – ich weiß, er würde mich verstehen. Durch und durch.

Mir tritt der Vorspann zur Peter-Lustig-Sendereihe vor mein geistiges Auge. Zuerst ist es nur ein kleiner grüner Halm. Er sprengt den Asphalt und entfaltet seine Blätter. Letztendlich gelangt das Gewächs zu voller Blüte und wird zu einem leuchtend gelben Farbtupfer im omnipräsenten Grau einer ganz und gar betonierten Gegend. Ein fröhlicher Zuruf von Mutter Natur, die der Selbstüberschätzung gnadenloser Menschen frohgemut den Spiegel vorhält. Immer bereit zur Versöhnung. Immer bereit zur friedlichen Symbiose. Sofern man ihr nur aufrichtig entgegen kommt.

Kaum jemand trägt eine Atemmaske. Ich trage eine und stelle fest, dass mich diesbezüglich ab und zu ein missmutiger oder gar feindseliger Blick streift. Sonderbar. Bei jedem dieser Blicke überkommt mich ein Unbehagen. Ich bin irritiert, verstehe diese Blicke nicht. Weder kenne ich diese Menschen noch kennen sie mich. Ich weiß nicht um ihre jeweilige Job- und Lebenssituation oder ihre etwaigen Vorerkrankungen. Sie nicht um die meinen. Keineswegs habe ich ihnen abverlangt, es mir gleich zu tun. Mitnichten habe ich sie aufgefordert, einen Nasen-Mundschutz zu tragen. Der offiziellen Empfehlung, genau dann eine solche Maske aufzusetzen, wenn man in dichter besiedelten Bereichen oder nahe diversen Ansammlungen von Menschen unterwegs ist, liegt eine gewisse Kausalität zu Grunde. Das ist alles.

Mir kommen zurückliegende Gespräche mit Allergikern in Erinnerung. Manche von ihnen blieben an der Weide stehen, als ich noch dort arbeitete. Viele fluchten über ihre Erfahrungen mit herum schwirrenden Gräsern, Pollen, Haaren unterschiedlicher Tiergattungen oder Hausstaub. Andere waren einfach nur traurig. Sie bedauerten, nicht so zu können, wie sie wollten. Beinahe untröstlich war ein zwölfjähriges Mädchen, das sich den heiß ersehnten Reitunterricht schon seit mehreren Jahren versagen musste. Nicht aus finanziellen Gründen. Sie war allergisch gegen Pferdehaare. Und gegen Heu. Und gegen Stroh. Und gegen… Kurzum: Quasi gegen alles, was man vorfindet, so man sich denn mit Pferden umgibt. Wie das Mädchen mir bereitwillig erklärte, setzte sie ihre ganze Hoffnung auf eine sogenannte Immuntherapie. Wie es diesem Mädchen heute geht, weiß ich nicht. Seit jener Begegnung habe ich sie nicht wiedergesehen. Möglicherweise weil die Therapie angeschlagen hat und sie mittlerweile jede freie Minute im Reitstall verbringt? Das wäre kolossal.

Alles in allem waren die Gespräche mit Allergikern sehr aufschlussreich. Ist man selber von keiner Allergie betroffen, kommt man zunächst nicht darauf, wo überall Reizstoffe unterwegs sein oder sich absetzen können. Viren sind kleiner als Pollen. Und flexibler.

Außerdem macht derzeit ein Gerücht hinsichtlich eventueller Bußgelder die Runde. Sollte auch nur im Entferntesten etwas daran sein, – ich habe kaum Reserven für finanzielle Schnitzer.

Es mutet an, als sei der Mund-Nasenschutz für einige Menschen zum roten Tuch geworden. Und als sei es jeden Tag auf’s Neue schwer einzuschätzen, von welcher Seite der Stier denn heute nun wieder herandonnert. Weder kann man ihn sich nähern hören noch Vibrationen im Boden spüren. Er taucht überraschend auf, dieser Stier. Mal aus dieser, mal aus jener Richtung. Fast kommt es mir so vor, als stünde ich mitten in der Arena. Ohne allerdings zu wissen, wie ich dorthin gelangt bin.

Entschuldigen Sie, wo ist bitte der Ausgang? Hier liegt nämlich ein Irrtum vor. Ich bin kein Torero. Ich war nie einer und möchte auch niemals einer werden. Ich mag keine Stierkämpfe. Im Gegenteil. Ich finde sie total bescheuert. Der arme Stier.

Nichts davon spreche ich laut aus. Stattdessen warte ich lieber still, bis sämtliche der missmutigen Passanten vorüber gezogen sind. Und noch ein paar Minuten länger. Nur so, zur Sicherheit. Erst dann mache ich mich wieder auf den Weg.

„Dub-dub-dubidu. Badaba-dub-dub-dubidu. … Löwenzahn“, singe ich dabei leise vor mich hin. Singen hilft.

Nachdem der Fußweg entlang der Steingärten verstrichen ist, erblicke ich zwei prall gefüllte Blumenkästen vor einem ebenerdigen Küchenfenster. Erfreut bleibe ich stehen und schaue aus gebührendem Abstand genauer hin. Aaahhhh… Wie das duftet. Wer auch immer da seinen privaten Lebensraum anhand dieser zwei Blumenkästen verschönert, macht seine Sache wirklich gut. Den Pflanzen geht es prächtig. Ein üppiger Rosmarinstrauch wächst in dem einen Blumenkasten, Pfefferminze in dem anderen.

Nicht nur ich werde von diesem Anblick und den Gerüchen angezogen, sondern auch allerlei Getier. Schmetterlinge, Bienen, Marienkäfer, Hummeln und… Wespen. Wespen treten in diesem Jahr wirklich außerordentlich zahlreich und aggressiv auf. Zehn solcher Plagegeister sitzen im Rosmarin. In der Pfefferminze hingegen nur vier. Eine von ihnen hat sich gerade einen Falter geschnappt und beginnt, ihn bei lebendigen Leibe aufzufressen. Seufz. Ja, auch das ist Natur.

Während ich dort so vor mich hin sinniere, öffnet eine ältere Dame ihr Küchenfenster. Sofort strömt mir der Duft warmer Krapfen entgegen. Meine Atemmaske vermag ihn nicht aufzuhalten. Was ich durchaus begrüße.

Vorsichtig legt die Frau sechs Zitronenschalen zwischen die Äste des Rosmarins und der Pfefferminze. Ehe sie das Fenster wieder schließt, steckt sie noch getrocknete Nelken hinein. Jetzt bin ich aber gespannt.

Tatsächlich.

Innerhalb einer Minute ergreifen sieben Wespen die Flucht.

„Faszinierend“, murmele ich unter meiner Atemmaske, sende Mr. Spock im Stillen einen Gruß und setze meinen Weg fort.

*

Zuhause sitze ich an meinem Schreibtisch, bis ich müde werde. Schlafen kann ich anschließend trotzdem noch nicht. Malen? Nein, im Moment nicht. Tanzen? Ja. Tanzen geht immer. Ein Blick auf die Uhr empfiehlt Zimmerlautstärke. Oder gleich den Kopfhörer? Nein, Zimmerlautstärke genügt völlig. NDW? Peter und der Wolf? Mmmm… Nein. Swing ist jetzt die Wahl der Stunde.

Mein Handy bimmelt.

„Micha. Hi. So spät noch?“

„Hi Lenja. Störe ich?“

„Wie man’s nimmt. Ich tanze gerade.“

„Aha. Ähem… Wieso?“

„Hm. Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass Bewegung, die mit Freude verbunden ist, viel effektiver als solche ist, die unter Stress oder Druck ausgeübt wird. Zum Beispiel weil die Produktion von Nervenzellen positiv beeinflusst wird. Ich meine mich zu erinnern, dass es auch beim Vernetzen von Synapsen eine Rolle spielt. Möglicherweise tanze ich gerade aber auch einfach nur, weil ich Bock darauf habe.“

„Tanzen…“ seufzt Micha, „Das würde ich auch gerne mal wieder.“

„Dann mache das doch. Schalte dir Musik ein und leg’ los.“

„Wahrscheinlich mache ich das sogar. Nachher, wenn wir aufgelegt haben. Ich hoffe, die Clubs öffnen bald wieder. Selbst wenn man hundert Jahre alt wird, ist das Leben viel zu kurz, um ins Sofa zu pupsen.“

„Insbesondere dann,

so man stattdessen

Musik hören

und tanzen kann.“

„Das reimt sich… und was sich reimt, ist gut. Oft jedenfalls. Ja, ich weiß. Du hast wirklich Recht. Ich werde mir gleich tatsächlich mal eine Runde abzappeln gönnen. Durch’s Zimmer zu tanzen ist schließlich nicht nur Teenagern vorbehalten.“

„Quatsch, das darf man mit über Vierzig noch genauso. Sowohl in Zeiten einer Pandemie als auch ohne eine solche.“

„Stimmt. Leider machen das nur sehr wenige. Du machst das. Das ist einer deiner Vorzüge.“

„Und was hast du gerade gemacht? Bevor du mich angerufen hast?“

„Ich habe meine geringe Freizeit damit verbracht, mit dem autodidaktischen Erlernen einer von mir vernachlässigten Programmiersprache zu beginnen. Äußerst trocken.“

„Aha. Äußerst trocken. Ja, das klingt danach. Warum tust du auch so etwas? Und dann noch in deiner Freizeit. Da gibt es doch Schöneres.“

„Ja, gibt es. … Ich mache das, weil ich diese Programmiersprache seitens meiner Arbeit demnächst benötigen werde. Zumindest ansatzweise. Wusstest du eigentlich, dass das logische Denken in der linken Gehirnhälfte sitzt?“

„Ja, da habe ich schon einmal von gehört. Ähem. Gibt es einen besonderen Grund, aus dem du angerufen hast?“

„Och, ich wollte einfach nur mal auf andere Gedanken kommen. Naja, und… hören, wie es dir geht.“

„Ah.“

„Und? Wie geht’s dir?“

„So lala.“

„Das ist immerhin besser als ‚äußerst bescheiden’.“

„Ja.“

„Gehst du noch täglich spazieren?“

„Ja.“

„Hey, das ist prima. Bewegung tut gut! Alles wird angekurbelt: Die Dopaminausschüttung, der Stoffwechsel…“

„Ja.“

„Ich wollte dich nur aufmuntern, Lenja.“

„Weiß ich, Micha. … Danke.“

„Malst du noch?“

„Ja.“

„Sehr gut. Lass das bloß nicht schleifen. Was hast du denn zuletzt gemalt?“

„Fließenden Sand.“

„Fließenden Sand?“

„Ja.“

„In einer Wüste?“

„Boah, wie langweilig!“

„In einer Sanduhr?“

„Geht es noch einfallsloser?!“

„Öh… Oder… an einem Meeresstrand?“

„Micha!!!“

„Öhm. O.k. Wie malst du fließenden Sand? Also solchen, den du nicht so furchtbar abgedroschen findest?“

„Sagt dir der Begriff ‚lost place‘ etwas?“

„Lost place: Verlassener Ort. Oder auch: Verloren gegebener Ort. Bist du jetzt auch so jemand, der sich da herum treibt?“

„Ach Micha. Du solltest mich besser kennen.“

„Das hätte mich auch gewundert. Und was hat das jetzt mit dem fließenden Sand zu tun, den du gemalt hast?“

„Ich habe ja nicht nur den Sand gemalt. Also: Auf dem Bild ist ein riesiges Gebäude. Das ist aber längst verlassen. Lost Place. Steht leer. Ist marode.“

„Leer stehender maroder Riesenbau. O.k. Klingt interessant.“

„Ranken wachsen durch die Fenster. Baumsprösslinge brechen durch die Böden. Vögel sitzen auf den Steinen. Alles eingebettet in eine ungestört wild wuchernde grüne Landschaft. Und aus den Fugen rieselt Sand. In ganz vielen kleinen wunderschönen Körnern. Keines gleicht dem anderen. Manche glitzern. Manche wirken unscheinbar. Einige werden vom Wind durch die Gegend geweht. Andere kleben an Laub oder Zweigen und gelangen dadurch irgendwohin. Zum Beispiel, indem einer der Vögel beginnt, Nistmaterial einzusammeln.“

„Hmmmmm. Ja, so langsam bekomme ich eine ungefähre Vorstellung.“

„Ein Großteil des Sandes rieselt aber einfach zu Boden, – wo er sich zu einem kleinen Hügel auftürmt. Und dort wiederum befinden sich Ameisen. Die musste ich einfach dazu malen. Die gehören dahin. Die freuen sich über den Sand.“

„Und sind in einem gesunden Ökosystem nicht ganz unwichtig.“

„Stimmt auch wieder. Das hatte ich beim Malen gar nicht bedacht. Ich habe einfach gemalt, was sich richtig anfühlte.“

„Genau so soll es ja auch sein. Und? Wie nennst du das Bild? Oder lässt du es ohne Titel?“

„Nein. Dieses hat einen Namen.“

„Nämlich?“

„‚Ausgleich‘.“

„Cool!“

„Danke.“

„Hast du Valtteri schon ein Foto davon geschickt? Was sagt er denn dazu?“

„Der weiß noch gar nichts davon. … Und von der anderen Sache auch nicht.“

„Oh. … Also hast ihm noch immer nicht geschrieben?“

„Nein. Ich nehme es mir jeden Tag vor, aber…“

„Ist nicht so schlimm, Lenja. Mache dir da keinen Druck. Valtteri und du, ihr seid so gut miteinander befreundet. Ihr habt so einen Draht zueinander. Er wird es verstehen, wenn er erst weiß, weswegen.“

„Ich hoffe es.“

„Na klar. Die kleine Funkstille tut eurer Freundschaft keinen Abbruch. Du meldest dich einfach bei ihm, wenn du soweit bist. Alles andere ergibt sich schon von selbst.“

„Ja.“

„Soll ich jetzt lieber auflegen?“

„Nein.“

„Soll ich dich noch ein bisschen aufmuntern? Oder ablenken?“

„Ja bitte.“

„Öhm. Na super. … Da habe ich mir etwas eingebrockt. … Tjaaa. … Ich weiß im Grunde auch nicht so recht, was ich dir noch erzählen soll. Aber… Du solltest auf jeden Fall weiterhin durch dein Zimmer tanzen. Nicht nur heute. Immer. Ähhh… Also, immer, wenn dir danach ist, meine ich. Und spazieren gehen. Und solche Sachen.“

„Schwimmen wäre auch mal wieder toll. Wäre ich jetzt in Finnland, würde ich bestimmt in einen der vielen Seen hüpfen und ein bisschen darin herumschwimmen.“

„Schwimmen ist auch gut, natürlich. So langsam werden die hiesigen Schwimmbäder und Badestrände doch wohl eine gescheite Regelung finden. Die Temperaturen steigen mehr und mehr an. Ich könnte mir denken, dass noch mehr Leute außer dir wieder ins Schwimmbad wollen.“

„Wahrscheinlich.“

„Schwimmen ist, so meine ich mich zu erinnern, auch sehr schonend für die Gelenke. Bewegung an sich ist sowieso eine prima Sache. Weniger Zivi­li­sations­krank­heiten, mehr Kon­zentra­tions­fähig­keit und so weiter.“

„Und irgendwie tut Schwimmen auch der Selbstdisziplin gut.“

„Äh. Aha. Inwiefern?“

„Auch wenn einem die Muskeln brennen oder man müde wird: Man bricht nicht ab, bevor man das Ufer oder den Beckenrand erreicht hat. Man zieht durch, bis man am Ziel ist. Andernfalls könnte es ‚blubb‘ machen. Ohne Spinat.“

„Stimmt, da hast du natürlich Recht. So hatte ich das noch gar nicht gesehen.“

„Wie geht es denn dir, Micha? Dein Job scheint dir zur Zeit viel abzuverlangen?“

„Aaaach. Geht schon.“

„Dir droht jetzt aber keine Arbeitslosigkeit oder so etwas?“

„Nein. Nur zwei Tage Kurzarbeit pro Woche. Ich genieße neuerdings den Luxus eines Home-Office.“

„Wieso wundert mich das jetzt nicht?“

„Ehrlich gesagt, finde ich das Home-Office super. Du glaubst gar nicht, um wie vieles ich fitter bin und besser arbeiten kann. Weil ich mich nun nämlich nicht mehr ständig in den morgendlichen Wahnsinn aus Auto-Rush-Hour und ÖPNV begeben muss. Das spart Zeit, Kraft und Nerven. Enorm, sage ich dir.“

„Das glaube ich durchaus. … Micha? Auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt unhöflich wirke: Können wir später wieder telefonieren?“

„Klar. Ähm. Wieso?“

„Dein Anruf hat einen entspannenden Effekt.“

„Oh?“

„Ja. Ich merke gerade, dass ich jetzt schlafen könnte. Und wenn ich den Moment verpasse, dauert es wieder, bis ich das nächste Mal so weit bin.“

„Kein Problem. Das war ja auch irgendwie Sinn der Sache.“

„Du hast angerufen, um mich in den Schlaf zu quatschen?!“

„Nicht direkt. Eher aus Interesse. Oder, ähm, oder besser gesagt zur Entspannung. Für uns beide. Oder, ähm, oder so ähnlich. Na jedenfalls: Erhole dich, Lenja.“

„Du dich auch, Micha. Du hast definitiv Erholung nötig.“

„Werde ich. Nach dem Tanzen.“

„The Cure? Kraftwerk? Anne Clark? The Clash? The Sex Pistols? Die Beatles? Bill Haley? Benny Goodman? Johann Strauss Junior? Hugo Strasser? … … … ?“

„Och, das weiß ich noch nicht. Mal schauen. Vielleicht eher Klaus Schulze oder so.“

„Zum Tanzen? Aber ist Klaus Schulze nicht eher… fast schon meditativ?“

„Ja. Und? Passt doch. Dann kann ich meditativ Zähne putzen während ich tanze und danach vom Tanzen ermüdet direkt ins Bett fallen und in den Schlaf hinüber gleiten.“

Blümchenkaffee

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