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Mai

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Von: Valtteri

Betreff: Lebenszeichen?

An: Lenja

Liebe Lenja

Wie geht es dir?

Bist du wohlauf?

Seit deiner letzten Nachricht sind viele Tage vergangen.

Ich vermisse es, von dir zu hören und zu lesen. Hoffentlich bist du gesund. Sei herzlich gegrüßt, auch von Anneline.

Valtteri

Seit satten zwei Stunden leuchtet Valtteris E-mail mir vom Display meines Laptops entgegen. Zwar bin ich wahrhaft gewillt, ihm zu antworten – kriege bislang jedoch keinen einzigen Satz zustande. Dabei weiß ich doch genau, welchen Stellenwert es hat, dass Valtteri mir eine Brücke in mein langes Schweigen hinein baut. Nur Mut, Lenja. Das schaffst du. Mühsam rücke ich mir selbst den Kopf zurecht und lege meine Finger auf die Tastatur.

Von: Lenja

Betreff: Lebenszeichen.

An: Valtteri

Lieber Valtteri

Vielen Dank für Deine und Eure herzlichen Grüße. Es tut gut, von Dir zu lesen.

Gesundheitlich bin ich wohlauf.

Was alle anderen Faktoren meines Befindens betrifft, so halte ich mich aufrecht. Möglichst ohne in ein merkwürdiges Irgendetwas zu mutieren. Das klappt. Irgendwie. Erstaunlicherweise. Wofür ich dankbar bin.

Insbesondere angesichts der Dinge, die sich während meiner Funkstille ereigneten.

Kurz nachdem im März der Lockdown ausgerufen wurde, hatten Autoraser die kaum noch befahrenen Landstraßen zwischen Ödenpofen, Strunzdorf und den umliegenden Ortschaften für sich entdeckt. Auf diesen Strecken wurden immer wieder Wettrennen gefahren. Woraufhin an manchen Stellen mobile Blitzer aufgestellt wurden. Natürlich unter strengster Einhaltung der Pandemie-Auflagen.

Einige Tage später erhielt ich einen Anruf von Annerose: Günter war auf seinem Fahrrad, ohne seinen Hund Johnny, zur Weide gefahren. Und zum Zeitpunkt des Geschehens bereits auf dem Rückweg gewesen. Er wollte die Straße überqueren. Von Bürgersteig zu Bürgersteig. Die Fußgängerampel zeigte Grün. Sein Fahrrad hatte er neben sich her geschoben. Zwei Autos kamen wie aus dem Nichts angeschossen. All das konnte man rekonstruieren. Den gesamten Unfallhergang.

Damit nicht genug, hatten die Raser keine erste Hilfe geleistet. Geschweige denn einen Notarzt gerufen. Ebenso skrupellos wie sie ihre Rennen fuhren, begingen sie auch Fahrerflucht.

Weil durch den Lockdown kaum jemand unterwegs war, hatte zunächst niemand Günter dort liegen gesehen. Bis schließlich ein Fußgänger kam. Ebenfalls ein Hundebesitzer. Dessen Hund verhielt sich schon einige Meter vorher ungewöhnlich. Er bellte und zog permanent, wich hartnäckig von seiner sonst üblichen Gassiroute ab. Als der Mann den Grund dafür sah, verständigte er sofort den Notarzt.

Günter lag eine Woche im Koma, danach ist er verstorben.

Seine Beerdigung fand kurz darauf unter Einhaltung der zu jenem Zeitpunkt geltenden Auflagen statt. Ich war nicht zugegen und weiß auch nicht, auf welchem Friedhof er liegt. Annerose wollte nicht darüber reden.

Über vieles andere ebenfalls nicht.

Die Raser wurden direkt nach dem Unfall von drei mobilen Blitzern geknipst. Sie konnten ermittelt werden. Die verbeulten Stellen in beiden Motorhauben, Günters Hautpartikel so wie Faserreste seiner Kleidung, ergaben eindeutige Beweise. Auch der Fahrstreckenverlauf ließ sich dank diverser Abriebspuren, der Reihenfolge der mobilen Blitzer und einiger weiterer Faktoren einwandfrei nachweisen.

Auf Grund von Verdunkelungsgefahr und ähnlichen Gründen erhielten die Raser ergänzend zum Lockdown verschärfte Auflagen. Frügest Du mich, worum genau es sich dabei handelt, ich könnte es Dir nicht beantworten. Ich weiß es selber nicht. Ich weiß nur, dass sie seitdem auf den Beginn ihres Gerichtsprozesses warten müssen. Was wiederum noch eine Weile dauern kann.

Weitere Zeilen kann ich heute nicht mehr verfassen, Valtteri. Bitte sieh mir das nach. Mein regionaler Freundeskreis weiß Bescheid. Einigen von ihnen habe ich all das schon im März mitgeteilt. Wenige Tage, nachdem es passiert war. Seitdem habe ich das Thema ruhen lassen. Darüber zu schreiben war mir bis dato unmöglich.

Alles Liebe. Bleibt gesund. Bis demnächst.

Lenja

*

Cy79 ist online.

LJ loggt sich ein.

LJ klopft an.

Cy79: Hi Lenja. Schön dich zu sehen.

LJ: Dito Conny. Schön, dass es endlich mal wieder geklappt hat.

Cy79: Ich freue mich auch. Wann hatten wir eigentlich zuletzt miteinander gesprochen? Im März, oder?

LJ: Ja. Im März.

Cy79: Wie geht es dir denn inzwischen?

LJ: Geht schon. Und selbst?

Cy79: Nicht so toll.

LJ: Was ist denn los? Seid ihr krank?

Cy79: Nö. Jörg ist arbeitslos. Erst hatte er keinen Außendienst mehr, dann hatte er keinen Job mehr. Zehn seiner ehemaligen Kollegen sind noch in Kurzarbeit. Allen anderen wurde inzwischen gekündigt.

LJ: Au. Weia.

Cy79: Ach, irgendwie war diese Entwicklung absehbar. Jörgs Chef hatte schon vor der Pandemie Ambitionen, die Anzahl seiner Arbeitnehmer zu verschlanken, wie man es neudeutsch so schön umschreibt. Einfacher ist unsere Situation deswegen trotzdem nicht. Ich habe meinen Job zwar noch, kann von meinem Einzelgehalt aber nicht abdecken, was wir vorher von zwei Gehältern getragen haben.

LJ: Logisch. Und wie hat Jörg es aufgenommen? Wie geht es ihm?

Cy79: Naja, geht so. Er hat natürlich umgehend Arbeitslosengeld beantragen wollen. Auf dem Amt gab und gibt es aber keine freien Termine mehr. Stattdessen haben sie Wartelisten, die sich auf Grund des Lockdowns angestaut haben. Auf dem Amt sind sie jetzt erst einmal damit beschäftigt, diese Wartelisten Schritt für Schritt abzuarbeiten.

LJ: Die sind wahrscheinlich schlichtweg überlastet.

Cy79: Klar. Dafür haben wir ja auch Verständnis. Unser Leben läuft trotzdem in der Zwischenzeit weiter.

LJ: Ja, das kenne ich. „Januar, Februar, März, April, …

Cy79: … die Jahresuhr steht niemals still“, genau. Also tut eben jeder von uns beiden, was er kann, um unsere Situation zu verbessern. Du hast ja keine Ahnung, wie viele Stunden Jörg nun täglich vor dem Rechner verbringt. Ach was, von wegen täglich. Zähle die Nächte mal getrost dazu. Übrigens soll ich dich von Frank grüßen. Wir sind uns letztens zufällig über den Weg gelaufen. Er ist jetzt auch arbeitslos. Die Gastronomie mit dem Biergarten dran musste dicht machen.

LJ: Nee, oder? Au je. Grüße ihn mal von mir.

Cy79: Mache ich. Er wollte dich auch längst schon angerufen haben, aber er traut sich nicht. Wegen der Geschichte vom März. Er möchte dir gegenüber nicht pietätlos sein. Ich hatte Jörg schon vorgeschlagen, dass wir uns doch wieder einmal mit Frank treffen oder ihn zu uns einladen könnten, aber Jörg will nicht. Meistens surft er auf der Suche nach Stellenangeboten durch das Internet. Jedes Mal, wenn er eine für seinen Fachbereich vakante Stelle entdeckt, schreibt er sofort eine Bewerbung. Egal wie weit der Arbeitsplatz entfernt liegt. So lange es innerhalb von Deutschland ist, zieht er alle passenden Jobangebote in Erwägung.

LJ: Angenommen, er würde weiter entfernt etwas finden. Und dann?

Cy79: Dann würde er sich vor Ort zur Zwischenmiete einquartieren. Möglichst kostengünstig natürlich. Am Besten auf Firmenkosten. Je nachdem, was machbar wäre. Dann würde er seiner Arbeit nachgehen und an den freien Tagen pendeln. Nach Feierabend würde er Stellenangebote durchforsten, die in der Nähe unseres Wohnortes liegen und sich dort bewerben, sobald die Lage wieder etwas überschaubarer geworden ist. Oder ich komme nach, sobald auch ich einen sicheren Job in seinem neuen Wohnort habe.

LJ: Uff. Naja, wahrscheinlich würde euch das Amt dies oder etwas Ähnliches eh abverlangen.

Cy79: Genau dasselbe dachten wir uns auch.

LJ: Nichtsdestoweniger: Hut ab.

Cy79: Danke. Nur leider werden für seinen Arbeitsbereich zur Zeit kaum Leute gesucht. Wie sieht es denn bei dir aus? Kommst du über die Runden?

LJ: So einigermaßen. Es könnte besser sein. Die meiste Zeit halte ich mich mit kurzfristigen Aushilfstätigkeiten über Wasser.

Cy79: Im Bereich Literatur und Kunst wimmelt es nicht gerade von Jobs, was?

LJ: Kann man nicht gerade behaupten. Ist nicht so wild. Ich komme schon durch. Es gibt bestimmt andere, denen es schlechter geht.

Cy79: Das mag wohl sein. Einfach ist es für dich aber auch nicht gerade.

LJ: Ja, im Augenblick ist es noch schwerer als sonst. Aber ich kriege das schon irgendwie hin. Ich achte auf Aushänge in lokalen Supermärkten und Drogerien. Und zwei Mal täglich gucke ich in diversen Internetforen nach Anfragen zu Arbeitsaufträgen.

Cy79: Und dann?

LJ: Mache ich, was so anfällt: Rasen mähen, Unkraut zupfen, Hecke schneiden, Einkäufe erledigen, Gartenzaun anstreichen und vieles mehr. Arbeitsablauf und Entlohnung erfolgen meistens kontaktlos.

Cy79: Wie das denn? Die tätigen doch bestimmt nicht alle eine Überweisung?

LJ: Wo denkst du hin? Nö. Meistens wird die Garage oder das Gartenhäuschen vorher aufgeschlossen. So dass ich die Gerätschaften für die Arbeit herausnehmen kann. Oft steht ein Zink-, Emaille- oder Plastikeimer bereit, den ich benutzen soll. Da liegt dann in der Regel meine Lohntüte drin. Mal ist das Geld auch in das Armaturenbrett eines Traktors oder die Verkleidung eines Anhängers eingeklemmt.

Cy79: Bitte was? Wie kommt man denn auf die Idee, dort Geld einzuklemmen?

LJ: Zum Beispiel dann, wenn das Fahrzeug so eingedreckt ist, dass die Räder nicht mehr drehen oder die Ladefläche unbenutzbar ist.

Cy79: Ach, und du sollst den Karren dann wieder in Ordnung bringen oder was? Wenn der so eingesaut ist, dass der nicht mehr nutzbar ist?

LJ: Japp. In so einem Fall muss der Traktor oder Hänger häufig noch am selben Tag, spätestens jedoch am nächsten Morgen, wieder einsatzbereit sein. Es kommt durchaus vor, dass der Bauer einfach keine Zeit hat, um die Autowäsche selber durchzuführen. Und was eine reguläre Waschstraße betrifft: Selbst wenn die geöffnet wäre, würde manch ein Bauer sie verschmähen.

Cy79: Wieso denn das? Ist doch praktisch: Einfach durchfahren und fertig.

LJ: Weil die nicht nur die Kosten für den Waschgang, sondern auch das Spritgeld für ihre mitunter lange Hin- und Rückfahrt berechnen. Solange ich auch nur zwei Euro günstiger bin, besteht zwischen ihnen und mir eine echte Gesprächsgrundlage.

Cy79: Das ist nicht dein Ernst?

LJ: Doch.

Cy79: Was haben die denn vor der Pandemie gemacht, wenn sie ihre Fahrzeuge sauber kriegen mussten? Wenn die keine Waschstraße benutzen?

LJ: Das weiß ich auch nicht. Vielleicht haben die das dann doch mal selber gemacht. Oder jemanden anderes dafür in Anspruch genommen.

Cy79: Und wenn gerade mal keine Fahrzeuge zu schrubben sind?

LJ: Mache ich halt das, was sich so ergibt. Manchmal ist es auch so, dass ich in einem offenen Kellerraum ein altes Weck-Glas finde, das den vereinbarten Geldbetrag enthält. Meistens direkt dort, wo ich den Großeinkauf zwecks Einlagerung abstellen soll.

Cy79: Wird dort etwa immer noch gehamstert???

LJ: Naja. Die Nachfrage für WC-Papier, Masken, Desinfektionsmittel und Mehl ist mittlerweile ein klein wenig zurückgegangen. Für jegliche Art von Hefe jedoch blüht der Schwarzmarkt konstant.

Cy79: Na, das klingt doch nach einer guten Einkommensquelle!

LJ: Richtig. Leider habe auch ich für Hefe keine anderen Bezugsquellen als die umliegenden Supermärkte, Drogerien und Bäckereien.

Cy79: Das ist natürlich schade. Ein prall gefülltes Hefe-Versteck ist jetzt wahrscheinlich Gold wert.

LJ: So ungefähr, ja.

Cy79: Wir haben, glaube ich, auch keine mehr. Muss ich gleich mal nachgucken. Wenn noch welche da ist, stelle ich die sofort online. Danke für den Tipp.

LJ: Bitte sehr. Viel Glück.

Cy79: Zehn Euro pro Portionsbeutel, was meinst du?

LJ: Connyyyyyy…!!!

Cy79: War ja nur eine Frage. Also fünf Euro pro Portionsbeutel. Sofern ich in unserer Küche noch Hefe finde. Du hangelst dich also auch von Tag zu Tag. Viel kommt bei den Aushilfstätigkeiten wohl nicht herum?

LJ: Nö. Es reicht gerade eben so aus, um den Kühlschrank aufzufüllen und die Miete auszubalancieren. Mal im Voraus, mal rückwirkend. Wenn es ganz besonders gut läuft, stehen im Schuppen Lebensmittelreste für mich bereit. Dabei handelt es sich meistens um Waren, die sie nicht verkaufen oder als Futter verwenden können. Was jedoch sehr selten der Fall ist. Üblicherweise verwerten die Bauern alles, was auf irgendeine Art und Weise noch verwertet werden kann. Oder sie bringen es im Tausch gegen andere Sachen unter die Leute.

Cy79: Die könnten dir gegenüber ruhig ein bisschen großzügiger sein. Meines Wissens lebst auch du nicht nur von Luft und Liebe. Manche Anfragen kommen ziemlich kurzfristig herein, nehme ich an?

LJ: So ist es. Ich sehe deren Situation durchaus, aber auch ich muss über die Runden kommen. Mich fragt auch keiner, ob ich am Ende des Tages hungrig schlafen gehe, meine Miete beglichen ist oder wovon ich die Sachen bezahle, die von der Krankenkasse nicht erstattet werden. Nasenspray, Desinfektionsmittel, Kopfschmerztabletten und was weiß ich noch für’n Zeug. Das ist zwar alles Kleinkram, aber es läppert sich zusammen. Und die Versicherungen wollen auch ihr Geld.

Cy79: Oh ja, allerdings. Davon kann ich dir ein Lied singen. Sind die Leute denn wenigstens höflich zu dir?

LJ: Da das alles eh kontaktlos abläuft, gibt es wenige Reibungspunkte. Manchmal liegt meiner Lohntüte ein Zettel mit ein paar freundlichen Worten bei. That’s it. Was ich allerdings wirklich unverschämt finde, sind die Beschimpfungen.

Cy79: Beschimpfungen? Wie jetzt? Welche Beschimpfungen denn?

LJ: Na, es gibt Anfragen von Leuten, die hätten gerne alles gratis. Das geht vom Wocheneinkauf, den ich ihnen transportieren und spenden soll, bis hin zu Einfahrt freilegen, begradigen und neu betonieren. Diese Leute versuchen einfach, die aktuelle Lage für sich auszunutzen. Und zwar dahingehend das sie ausschweifend wehklagen, welch arme Opfer der Entwicklungen sie seien und ob das nicht alles kostenfrei und sofort zu machen sei. Nämlich unter der Rubrik ‚Nachbarschaftshilfe‘.

Cy79: Nee, ne?!!

LJ: Japp.

Cy79: Boah, wie dreist ist das denn?! Du sagst denen doch ab?!

LJ: Klar. Immer höflich, denn fragen ist ja erlaubt. Aber manche können einfach kein ‚Nein‘ als Antwort akzeptieren. Die schreiben dann noch die eine oder andere Quengelei und wechseln direkt in Beschimpfungen über, nachdem sie erneut eine Absage bekommen haben. Was für ein kalter, herzloser Mensch ich sei und so weiter.

Cy79: Nee, ist klar. Und die anderen Anfragen? Diejenigen, die in Ordnung sind? Wie lang- oder kurzfristig trudeln die so bei dir ein?

LJ: Unterschiedlich. Wie Du Dir sicher denken kannst, spielt das Wetter bei sämtlichen Außenarbeiten eine nicht unerhebliche Rolle. Also soll ich bitteschön flexibel und schnell sein. Oder zumindest gut improvisieren.

Cy79: Und natürlich bist du nach wie vor mit dem Fahrrad unterwegs?

LJ: So ist es. Während ich auf meinem Fahrrad unterwegs bin, muss ich zwar keinen Mundschutz tragen, dafür hingegen während jeder Arbeit. Egal, wie sehr mir der Schweiß von der Stirne rinnt und wie wenig Luft ich bekomme. Zudem muss ich ständig Desinfektionsmittel verwenden.

Cy79: Dieser Mist, ey. Ich finde das auch total furchtbar. Nicht bloß nervtötend, sondern wirklich furchtbar. Meine Hände sind total rot und überreizt. Es spielt überhaupt keine Rolle, wie häufig ich sie eincreme! Meine Haut schorft wie verrückt. Die kann ich abziehen!!! Echt jetzt! Und meine Nebenhöhlen sitzen auch ständig zu!

LJ: Mitunter frage ich mich, weswegen es eigentlich noch keine Verschwörungstheorie gibt, bei der davon ausgegangen wird, dass die Menschen absichtlich in Neurosen getrieben werden. Zum Beispiel, damit die entsprechenden Psychologen dieses Fachgebietes bis zu ihrer Rente ausgesorgt haben.

Cy79: Ja genau! Ich lach’ mich weg! Oder hier, das wäre doch auch eine super Verschwörungstheorie: Die Fraktion der Schönheitschirurgie hat an der Pflicht, Mundschutz zu tragen, maßgeblich mitgewirkt. Um durch die Bänder mehr abstehende Ohren zu verursachen, die sie dann durch ihre kostspielige Schönheitschirurgie wieder anlegen können.

LJ: Au ja, das ist auch eine Variante. Nicht schlecht. Leider gibt es zur Zeit genügend Leute, die so etwas für bare Münze nehmen könnten.

Cy79: Bei mir auf der Arbeit liegt auch so eine komische Stimmung in der Luft. Die zwei Kolleginnen, die mich so gerne mobben, vergiften ja ohnehin schon das Arbeitsklima. Aber mittlerweile sind leider auch einige andere Kollegen merkwürdig drauf. Das ist gar nicht mal speziell gegen mich gerichtet, sondern mehr so’ne allgemeine Grundstimmung. Letztens hat sogar einer den Kommentar fallen gelassen, die Theorie der flachen Erde sei gar nicht so abwegig und wir, also die Kollegen, seien ja alle verblendet und würden nichts raffen.

LJ: Hat der das wirklich ernst gemeint oder einen Witz gemacht?

Cy79: Also für mich klang das nicht nach einem Witz. Was weiß ich, was in dessen Kopf vorgeht. Und ein Großteil der anderen Kollegen ist unterschwellig aggressiv. Meistens herrscht Wortkargheit. Seit dem Lockdown schieben wir alle Wechselschicht. Die eine Gruppe sitzt im Home-Office, die andere im Büro. Wir sind alle gespannt darauf, ob und wann der reguläre Betrieb wieder hochgefahren wird. Und wie das alles weitergeht. Insofern ist die angespannte Stimmung ganz klar.

LJ: Ja, sie ist mehr als verständlich.

Cy79: Erst recht mit Blick auf die zahlreichen Einzelschicksale.

LJ: Deren Summe wiederum sowohl eine Gemeinschaft als auch einen gewissen Prozentsatz einer Gesellschaft ergibt.

Cy79: So ist es. Weißt du, manchmal möchte ich hinausgehen und jedem geplagten Menschen, der mir begegnet, zurufen: „Nur die körperliche Nähe ist eingeschränkt worden! Innere Nähe ist erlaubt!“

LJ: Yeah! Glück auf! Und? Hast du das schon einmal gemacht?

Cy79: Nope. Angesichts der grassierenden Stimmung könnte auf meinen aufrichtigen Zuruf freundlich gesinnter Ermutigung ein Schlag gegen meinen Körper erfolgen. Woraufhin in Folge dessen meine körperliche und seelische Unversehrtheit beeinträchtigt seien könnte.

LJ: Welch wohlgeratene Formulierung.

Cy79: Nicht wahr? Das kommt davon, dass wir schon jahrelang miteinander befreundet sind.

LJ: Wie soll ich denn das jetzt verstehen?

Cy79: Als ein Kompliment! Du färbst ab. Auf eine angenehme Art und Weise.

LJ: Oh? Danke sehr. Wie du es beschreibst, scheint eine beklemmende Atmosphäre bei dir im Job zu herrschen.

Cy79: Das scheint nicht nur so, das ist so.

LJ: Hoffentlich legt sich das bald wieder.

Cy79: Das hoffe ich auch. Wo bleibt eigentlich der Rest der Clique? Wollten die nicht schon längst online sein?

LJ: Doch. Ich habe keine Ahnung, wo die bleiben.

Cy79: Hmmmmmmmmmmm?????? … … … Ich habe keine Nachricht auf meinem Handy. Und du?

LJ: Moment, ich schaue mal eben nach. … … … Ja, da ist eine Nachricht. Die ist allerdings von keinem aus unserer Clique, sondern von Valtteri.

Cy79: Ach, von dem Künstler aus Finnland?

LJ: Exakt.

Cy79: Was schreibt er denn?

LJ: Das weiß ich nicht.

Cy79: Hast du seine SMS denn noch nicht geöffnet?

LJ: Nein. Die schaue ich mir nachher in Ruhe an.

Cy79: Na, dann mach’ das mal. Ich wollte mich jetzt sowieso ausloggen. Es ist ganz schön spät geworden. Morgen muss ich wieder fit sein.

LJ: O.k. Schlafe gut, Conny.

Cy79: Du auch, Lenja. Bis dann.

Cy79 hat sich ausgeloggt.

Eine weitere halbe Stunde vergeht, ehe ich meinen Laptop herunter fahre.

Zwar loggte sich während dieser Zeit keine weitere Person unserer Clique ein, dafür fand ich eine sehr verzweifelt klingende Arbeitsanfrage in meiner Nachrichtenbox vor: Ein Ehepaar namens Gemsbach möchte wissen, ob ich ihnen bei diversen Umzugsarbeiten behilflich seien könnte. Auf Grund der Pandemie-Auflagen dürfen seit März weder Sozialkaufhäuser noch Möbelpacker noch sonstige branchenübliche gewerbliche Anbieter Möbel abbauen, abholen, einlagern, transportieren, andernorts wieder aufbauen, tapezieren helfen und dergleichen mehr. Oder gar Spenden aus Haushaltsauflösungen entgegen nehmen.

Die klassischen Umzugshelfer seien also unabkömmlich, da diese wegen der allseits bekannten Entwicklungen nun einmal so ihre Auflagen hätten. Zumal es, gesetzt den Fall sie dürften wieder ran, sowieso schon sehr lange Wartelisten gebe.

Leider war die Gesundheit der werten Frau Mutter des Herrn Gemsbach nicht gewillt, dies zu berücksichtigen.

So sei man jetzt in der misslichen Lage, allen Umständen zum Trotz der lieben Frau Mama ihr neues Quartier herrichten zu müssen.

Und alles dafür Notwendige sei, so die inständige Bitte – versehen mit drei Ausrufezeichen – so zügig wie möglich umzusetzen.

Weil nämlich die aktuelle persönliche und familiäre Situation für alle Beteiligten nicht unbedingt vorteilhaft sei und…

Sie verstehen…

Bei Zusage möchten seine Frau und er selbst sich jetzt schon vorab für eventuelle Unannehmlichkeiten, die durch die werte Frau Mama herrühren könnten, entschuldigen…

… hierfür bestehe hoffentlich jedoch kein Anlass…

… dennoch, weil es leider nicht auszuschließen sei…

… seine Frau oder er selber könne bei den Tätigkeiten keinesfalls anwesend seien…

… Hintergrund aus Zeitmangel momentan leider nicht näher zu erläutern…

Sofern Sie also freie Kapazitäten hätten…

… sich bitte umgehend bei uns melden könnten…

Es soll Ihr Schaden nicht sein. Nochmals drei Ausrufezeichen.

Die anfallenden Arbeitsbereiche umfassen, soweit bis jetzt absehbar, hauptsächlich das Demontieren, Verladen, Transportieren, Ausladen, Montieren und gegebenen Falles auch das Befestigen des Mobiliars. Eventuell käme auch die ein oder andere Neuanschaffung in Frage, so zum Beispiel…

… müsse man in der Situation sehen und entscheiden…

Angenehme Arbeitszeiten, da flexibel zu vereinbaren…

Aufwandsentschädigungen gemäß Rücksprache…

Garantierte und großzügige Vergütung…

Stundenlohn oberhalb des gesetzlichen Mindestlohnes…

Auf Wunsch Barzahlung gegen Quittung, gerne aber auch per Überweisung…

Und so weiter und so fort.

Mich dünkt, Frau Gemsbach senior ist keine angenehme Zeitgenossin.

Wenn sich Herr Gemsbach junior nebst Frau Gemahlin dermaßen ins Zeug legen, um Madame Senior so bald wie möglich anderweitig unterzubringen, muss sie ihnen schon arg das Leben vergällen. Respektive vergällt haben.

Nun denn. Schauen wir mal.

*

Von: Valtteri

Betreff: Traurige Grüße

An: Lenja

Herzlichste Lenja

Ich musste erst einmal begreifen, was du hast mir da geschrieben.

Ich bin wie von ein Donner erschlagen.

Jetzt habe ich ein tiefes Bedauern über mein Versäumnis. Dass ich es bisher nicht schaffte, dich in Deutschland zu besuchen. Gemeinsam mit Anneline.

So, dass auch Günters Einladung von damals in der Zwischenzeit in eine Möglichkeit gelegen hätte. Wir wären sehr erfreut gewesen, gerne mit dir, ihm, seiner Frau, seinem Hund, drei Pferden und zwei Rindern auf der Weide zu sitzen und zu grillen.

Leider, diese Möglichkeit ist nun vorüber.

Und du bist ohne seine Freundschaft. Und ohne ein Einkommen.

Ich brauche Zeit, das zu verstehen.

Ist es nicht merkwürdig? Ich habe Günter nie in ein direkter Kontakt die Hand geschüttelt. Obwohl ich ihn nur von damals skypen und aus deine Erzählungen kannte, er ist mir sympathisch gewesen.

Dennoch, du bist wahrscheinlich mehr in Trauer als Anneline und ich. Sicher nicht nur von Günters Tod, aber auch zu vermissen die Tiere und deine Arbeit mit ihnen.

Es ist nicht notwendig, dass du mir davon berichtest. Ich kenne dich lange und gut genug, zu wissen, es ist so.

Wenn du es kannst, bitte helfe mir, mehr besser zu verstehen:

Wann war die Beerdigung? Wie fand das statt? Unter die geltenden Auflagen in Deutschland? Wie funktionierte die Finanzierung von alles? Wie war es in ein organisierter Ablauf zu bringen? Wie geht es Günters Frau? Wieso hat sie nicht die Weiden in deine Arbeit gelassen? Warum wurde alles aufgelöst? Wo sind die Tiere? Was passierte mit die Raser? Wie ging es weiter? Was ist für dich geworden?

Ach, viele Fragen habe ich offen. Aber ich will dich nicht in eine Bedrängnis bringen.

Schreibe mir, wann immer du möchtest und schreibe, was du möchtest.

Sei umarmt, von Anneline und mir,

Valtteri

*

Von: Lenja

Betreff: Zeit

An: Valtteri

Lieber Valtteri

Natürlich kannst Du Dir bis zu Deiner nächsten E-mail etwas Zeit nehmen.

Ich kann Dich nur zu gut verstehen. Du musst das erst einmal verdauen. Ich weiß. Mir ging und geht es nicht anders. Zumal alles noch so frisch ist.

Nun bemühe ich mich, näher auf Deine Fragen einzugehen. Leider kann ich Dir nur bedingt Auskunft geben, – da ich wider Erwarten wenig weiß.

Vielleicht entsinnst Du Dich, dass Günter manchmal von seiner „Haupt­ein­kommens­quelle“ sprach, auf der er sich ab und zu „mal blicken lassen“ musste? Davon hatte ich Dir berichtet. Ich habe das damals wenig hinterfragt, wusste nur, dass seine Haupt­ein­kommens­quelle rechtens war. Wie sich herausstellte, ist er, gemeinsam mit seinem Bruder, Inhaber einer gewerblichen Autowerkstatt gewesen. Zwei Ortschaften weiter. Er hatte sich aber schon weitgehend daraus zurückgezogen. Persönlich und zeitlich. Finanziell und rechtlich allerdings nicht. Zumindest das hatte Annerose mir noch erzählt, – während wir Amira, Lucky, Dana, Frieda und Mimmi auf die Transporter verluden. Die Tiere dürfen ihr restliches Leben auf einem wirklich schönen Gnadenhof verbringen. Sie werden nicht geschlachtet. Sogar von eventuellen Notschlachtungen sind sie ausgenommen. Das wurde uns schriftlich zugesichert.

Ansonsten hat Annerose kaum etwas gesagt. Mir ist noch bekannt, dass sie Günters Rechte an der Autowerkstatt an seinen Bruder und die Weiden an einen Bauern abtrat. Ich weiß nicht, wieviel Geld der Verkauf von Anteilsrechten an einer gut laufenden Autowerkstatt und zwei Weiden in einer Zeit wie dieser einbringt, aber so konnte Annerose Günters Beerdigung und ihren Umzug bezahlen. Ich habe keine Ahnung, wie sie den Umzug unter Pandemie-Auflagen bewerkstelligte. Vermutlich hatte Günters Bruder ihr geholfen. Der verkaufte die Autowerkstatt übrigens fast zeitgleich und brach ebenfalls sämtliche Zelte ab. Wer wo genau hin zog, ist mir unbekannt. Mit Günters Bruder hatte ich ohnehin nichts zu tun. Vor Günters Tod wusste ich nicht einmal, dass er existiert.

Alles, was Annerose mir bei unserer Verabschiedung noch mitteilte, war, dass sie ihre Arbeitsstelle in Strunzdorf gekündigt hat und immer schon ans Meer wollte. Dort möchte sie nun alt werden und mit Johnny, Günters Hund, oft am Strand spazieren gehen. Immer nach Schichtende ihrer neuen Halbtagsstelle. Mehr mochte sie mir nicht sagen. Sie will auch keinen Kontakt mehr mit mir. Sie möchte alles hinter sich lassen. So waren ihre Worte.

Seitdem ist meine Arbeit auf der Weide Geschichte. Mir blieb nur, mit alledem abzuschließen. Wenigstens geht es den Tieren gut.

Aktuell halte ich mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Spontaner Reichtum ist bei mir dadurch bisher noch nicht aufgekommen, aber immerhin bin ich mit der Miete und den Nebenkosten nicht in Verzug geraten. Und ein bisschen etwas im Kühlschrank habe ich auch. Das allein macht mich nicht glücklich, aber man kommt durch. Dafür bin ich dankbar, – und hoffe jeden Abend auf eine bessere Zeit.

Nach wie vor widme ich mich der Schreiberei. Hin und wieder auch der Malerei. Das bringt mich auf andere Gedanken und öffnet neue Türen. Bildlich gesprochen. Na, Du weißt schon, wie ich das meine.

Vor kurzem habe ich ein neues Bild fertig gestellt. Es heißt ‚Ausgleich‘.

Falls Du möchtest, kannst Du Dir ein Foto davon ansehen. Du findest es als Dateianhang dieser E-Mail. Fühle Dich aber nicht verpflichtet. Lasse Dir die Zeit, die Du brauchst, und nimm jeden Tag, wie er kommt.

Ich denke oft an Rauma. An das Meer. An Dich. Anneline. Tarja. Und an viele andere.

Auch an die bunten Häuser. Ruderboote. Saunagänge. Seen. Schwimmrunden. Die Wälder. Tiere. Felsen. Sonnenuntergänge. Sonnenaufgänge. Dein Mökki. Deine Naturfarben, Bilder und Skulpturen. An all die langen Spaziergänge.

Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich mir wünsche, es würde all dies auch in Deutschland geben. Aber dann denke ich mir wieder, selbst wenn es das alles auch in Deutschland gäbe, wäre es fraglich, wie lange es hier Bestand hätte. So oft, wie Bürokratie hier sinnfrei wütet? Und der Amtsschimmel wiehert? So oft, wie hier wilde Müllhalden entstehen? Ignoranz Waldbrände verursacht? Aggressivität sich destruktiv entlädt? Das Entwenden von Privat- oder Allgemeingut überhand nimmt? So oft, wie das Ich-Ich-Ich-Virus in etlichen Facetten um sich greift? Etwas aushalten zu können fast schon zu einer neuen Hochbegabung stilisiert wird? Nicht zu vergessen die weit verbreitete Angst vor Dreck, Laub, Schürfwunden, kleinen und großen Tieren und so weiter. Ist es angesichts all dessen nicht fraglich, ob eine Natur und Mentalität, wie Du sie aus Finnland kennst, hier überhaupt eine Chance auf konstante Existenz hätte? Ich weiß es nicht. Missverstehe mich nicht, Valtteri. Ich halte die Menschen in Deutschland nicht für schlecht. Es gibt zahlreiche, die guten Geistes sind. Genau darum schüttele ich bisweilen meinen Kopf darüber, dass es hier so viel mehr Steingärten als früher gibt.

Schreibe mir bald wieder, Valtteri. Ich werde Dir auch antworten.

Grüße Anneline von mir und bleibt alle gesund.

Herzlichst,

Deine Lenja

Blümchenkaffee

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