Читать книгу Die Jägerin - In Alle Ewigkeit - Nadja Losbohm - Страница 5

3. Kapitel

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Ja, Michael fühlte sich wohl und kam zurecht, und trotzdem schien in ihm eine Sehnsucht zu sein nach seinem alten Zuhause, der St. Mary’s Kirche. Ich selbst wäre niemals auf die Idee gekommen, er könne dorthin zurückgehen, doch dann erhielt ich Anrufe, bei denen mir von seinen Ex-Gemeindemitgliedern berichtet wurde, sie hätten ihn in der Allee vor der St. Mary’s Kirche stehen sehen, wie er sich, mit Einkaufstüten beladen, die Ruine betrachtete. Beim ersten Mal hatte es mir die Sprache verschlagen und ich war auch nicht in der Lage gewesen, ihn zur Rede zu stellen. Zu sehr hatte es mich erschreckt und ich sah meine Zweifel, die ich schon während unserer Zeit in Aidans Haus an der Küste gehabt hatte, bestätigt, er wäre unglücklich. Ich dachte zunächst im Stillen für mich allein darüber nach, aber als es nicht bei einem Mal blieb und sich die Anrufe häuften, wusste ich, ich musste etwas unternehmen. Ich sprach Michael auf seine Ausflüge an. „Sehnst du dich danach zurück, in der St. Mary’s Kirche zu sein? Bist du unglücklich? Wünschst du dir, es wäre wieder wie vor der Zerstörung der Wiege des Bösen?“, fragte ich ihn.

„Ich bereue nichts“, hatte er mir zur Antwort gegeben, sich lächelnd zu mir heruntergebeugt und mich geküsst. Dann war er zu Rosalie gegangen und hatte fröhlich mit ihr gespielt.

Ich hatte angenommen, wir seien über die Phase der Geheimniskrämerei hinaus. Aber ich irrte mich ganz offensichtlich. Michael verbarg seine wahren Gefühle und Gedanken bezüglich dieses Themas vor mir. Was sollte ich tun? Wie sollte ich mich verhalten? Ich war ratlos. Mir fiel absolut nichts ein. Und was macht man in solch einem Fall? Man wartet ab und hofft, dass sich die Sache schon irgendwie klären wird. Die Erinnerung an die Zeit, als Mister Hawk, mein alter Nachbar und Michaels langjähriger Freund, gestorben war und Michael lange nicht darüber reden wollte und es schließlich doch tat, als er soweit war, stimmte mich zuversichtlich, es auch dieses Mal so zu handhaben und ihn auf mich zukommen zu lassen, wenn er es wollte. Er tat es nicht. Er kam nicht auf mich zu. Er schüttete mir nicht sein Herz aus. Dafür aber bemerkte ich eine Veränderung an ihm: Mit jedem Tag, der verging, wurde er ruhiger, nachdenklicher, ja regelrecht melancholisch. Unzählige Male fand ich ihn in dem Ohrensessel in unserem Wohnzimmer sitzend vor, unentwegt vor sich hin starrend. Ging ich zu ihm und fragte, was ihn bedrückte, gab er mir zur Antwort, er sei nur müde. Betrachtete ich mir dann sein Gesicht eingehender, stellte ich fest, dass er vielmehr putzmunter aussah. Woher kam die Müdigkeit, die er als Ausrede benutzte, und welcher Art war sie? War er des Lebens müde? War er mich müde? War er unseren Streitereien darüber, wer die Zahnpastatube offen liegen gelassen oder wer das letzte Stück Toilettenpapier genommen und keine neue Rolle hingehängt hatte, überdrüssig geworden? Oder hatte er in Wirklichkeit nur Sehnsucht nach den guten, alten Zeiten oder steckte mehr dahinter? Hatte es etwas mit seiner Arbeit zu tun oder mit den Menschen, die er immer besser kennenlernte? Begann er zu verstehen, woher meine Einstellung kam, dass das Leben unter den Menschen in der normalen Welt nicht wirklich lohnenswert ist? Die Menschen, mit denen er hauptsächlich zu tun gehabt hatte, seine ehemaligen Gemeindemitglieder, unterschieden sich sehr von denen, die er am Zeitungsstand oder an der Ampel kennengelernt hatte, während er darauf wartete, dass es Grün wurde. In seiner heilen Kirchenwelt zu leben, war einfacher gewesen, fern von Missmut, Selbstsucht und Ignoranz. Sehnte er sich danach, sich wieder vor der Wahrheit zu verstecken? Hatte seine Überzeugung, die Menschen würden sich ändern, einen Riss bekommen?

Auf die Melancholie folgte ein Übermut, der mich schwindelig machte und mich nicht mehr mitkommen ließ. Von einem Tag auf den anderen wollte er plötzlich alles Mögliche ausprobieren. Er wollte das Autofahren lernen und engagierte sogar einen Fahrlehrer, der Mitglied seiner früheren Gemeinde gewesen war. Obwohl ich wusste, dass Michael viele Begabungen hatte und in allem gut, ja perfekt war, überraschte es mich zu hören, dass er im Führen eines Fahrzeuges anscheinend ein Naturtalent war. „Er fährt, als hätte er nie etwas anderes getan“, meinte der Fahrlehrer und war sichtlich stolz auf den ältesten Fahrschüler, den die Welt je gesehen hat. Bis dahin war ich einverstanden damit, dass Michael Fahrstunden nahm und den Führerschein machte. Als er aber davon zu reden anfing, er wolle das Motorradfahren lernen, flippte ich aus! Selbstverständlich würde er auf so einer heißen Maschine toll aussehen. In enge Lederklamotten gezwängt, würde vermutlich jede Frau mit gutem Geschmack Schnappatmung bekommen. Allerdings vergaß er dabei ein wichtiges Detail. „Du bist nicht mehr unsterblich, Michael! Wenn du einen Unfall baust, heilen deine Wunden nicht mehr innerhalb eines Fingerschnippens. Denkst du, Gott hat dir, uns diese zweite Chance gegeben, damit du leichtfertig dein Leben aufs Spiel setzt?“, fuhr ich ihn wütend an. Es ist unnötig zu sagen, dass er nicht auf mich hörte. Die Liste meiner verlorenen Schlachten gegen ihn war lang und wurde mit dieser Diskussion nur noch länger. Somit musste ich zusehen, wie er sich zusammen mit seinen neuen Kumpels auf die heißen Öfen setzte und mich zitternd und bebend vor Angst zurückließ. Dabei war es kaum ein Trost, dass ich einige dieser Kumpels kannte. Ich hatte trotz allem einen riesengroßen Schiss und stand bis spät nachts bei strömendem Regen vor dem Haus und wartete darauf, dass Michael zurückkehrte. Als er dann vorfuhr, war ich entsetzt, dass er keinen Helm trug, um sich zu schützen. Lachend stieg er von dem Motorrad ab und verabschiedete sich seelenruhig von den anderen Männern, die dann davonbrausten und uns in einer stinkenden Abgaswolke stehen ließen. Michael hatte mich noch nicht bemerkt und sah ihnen sehnsüchtig nach. Als er sich dann umdrehte, entdeckte er mich und kam auf mich zugerannt. Stürmisch umarmte er mich, hob mich hoch und wirbelte mich herum.

„Lass mich runter, du Trottel!“, blaffte ich ihn an und trommelte mit meinen Fäusten auf seine Schultern ein.

Michael setzte mich wieder auf den Boden ab und sah mich überrascht an. Ich warf ihm einen grimmigen Blick zu, wandte mich um und stapfte zurück ins Haus. „Was hast du denn, Ada?“, rief er mir nach. Das Patschen seiner Stiefel sagte mir, dass er mir folgte.

„Du bist ohne Helm gefahren“, antwortete ich, ohne mich zu ihm umzudrehen und ihn anzusehen. Ich sah nicht, dass er mir dicht auf den Fersen war und ließ die Haustür hinter mir achtlos zufallen. Erst als ich ein Klopfen hörte, blieb ich stehen und wandte mich um. Michael breitete die Arme aus und sah mich flehentlich, ihn reinzulassen, an. „Was ist los? Hast du keinen Schlüssel?“, trällerte ich mit süßer Stimme.

„Komm schon, Ada. Lass mich rein“, bettelte er und rüttelte am Türgriff, als würde es irgendetwas nützen.

„Erst wenn du zugibst, dass du verantwortungslos gehandelt hast“, sagte ich, ging zur Tür und blieb vor dem Glas stehen.

Michael schloss die Augen und ließ den Kopf hängen. Ich betrachtete seine nassen Haare, die schwer von seinem Kopf hingen. Einige Strähnen kräuselten sich und standen in sämtliche Richtungen ab. „Du hast Recht. Ich sehe es ein, Ada. Ich war verantwortungslos, und nun lass mich bitte rein. Vom Herumstehen wird mir allmählich kalt hier draußen“, meinte er.

Ich zuckte mit den Schultern. Es war mir egal, ob er fror. Er war selbst schuld daran. Ich hätte ihn gern noch länger schmoren lassen, aber wenn er mich mit seinen dunklen Augen so reumütig ansah, wurde mein Herz weich und auch meine Knie. Das weiße T-Shirt, das vom Regen durchtränkt und beinahe durchsichtig gemacht worden war und mehr von seiner makellosen Brust zeigte, als mir im Moment lieb war, tat sein Übriges, mich sanftmütiger zu machen. Ich legte eine Hand auf die Türklinke, die von innen angebracht war, und sagte: „Wenn nicht um meinetwillen, dann doch um Rosalies willen. Vergiss deine Tochter nicht, wenn dir schon solche waghalsigen Freizeitaktivitäten in den Sinn kommen“, sagte ich und öffnete die Tür. Für einen Moment starrte Michael mich mit großen Augen an. Ich sah, wie der Adamsapfel an seinem Hals auf und ab hüpfte, als er wegen meiner Worte schwer schluckte. Offenbar waren sie genau das, was er hatte hören müssen. Ich nickte zufrieden, wandte mich um und lief die Treppe hinauf zum Fahrstuhl. Nur wenige Sekunden vergingen und patschende Schritte folgten mir nach. Als Michael sich zu mir gesellte, verströmte er eine unangenehme Kälte, die mich dazu brachte, die Arme um mich zu schlingen, aber ich nahm auch den herrlichen Duft von Regen wahr, den er mit sich ins Haus trug. Ich wandte leicht meinen Kopf zu ihm und musterte ihn von oben bis unten. Missbilligend verzog ich den Mund. „Ich sehe es schon wieder lebhaft vor mir: du, krank im Bett, wegen der Dummheiten, die du machst!“

„Es tut mir leid“, flüsterte er. Er hob seine Hand und strich mit seinem Zeigefinger über meine Wange. Die kühle Berührung ließ mich zusammenfahren. Ich drehte hastig meinen Kopf weg und trat einen Schritt beiseite, um mehr Abstand zu ihm zu bekommen. Ich hörte Michael schlucken. „Verzeihung“, murmelte er. Meine Reaktion verletzte ihn.

„Ich habe mir Sorgen gemacht“, sagte ich und blickte hinauf zu der Anzeige, die mir verriet, in welcher Etage der Fahrstuhl sich befand.

„Es tut mir leid, Ada. Es war nicht meine Absicht -“

„Dann hör auf damit!“, zischte ich. Ich blickte ihn mit grimmiger Miene an, aber die Tränen in meinen Augen entschärften mein Auftreten. „Wenn dir etwas passiert wäre – bei dem Wetter sind die Straßen rutschig. Da verliert man leicht die Kontrolle. Du bist nicht mehr allein, Michael! Du hast eine Familie. Rosalie braucht dich. Sie liebt dich über alles. Ich will nicht, dass sie ohne dich aufwächst.“ Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Ich konnte sie nicht aufhalten und sagte viel mehr, als ich beabsichtigte. Er musste nicht über alles Bescheid wissen, was in mir vorging. Nicht, wenn er selbst Geheimnisse vor mir hatte. Solch ein Wie du mir, so ich dir-Benehmen konnte ich nicht ausstehen. Immun war ich dagegen allerdings nicht. „Du hast mich verlassen, bist gestorben und wieder zurückgekommen. Du hast ein zweites Leben geschenkt bekommen und setzt es waghalsig aufs Spiel. Ich verstehe, dass du viel verpasst hast, aber benimm dich nicht wie jemand, der in seiner Midlifekrise steckt und alles nachholen will, was geht, egal um welchen Preis.“ Ich redete mich geradezu in einen Rausch, und irgendwann wusste ich nicht mehr, was aus mir sprach: die Sorge um ihn, mein Neid auf ihn, dass er alles tat, was er wollte und sein Leben genoss, oder immer noch die Wut, weil er sich von mir auf so überzeugende Weise verabschiedet hatte, obwohl er mit Gott bereits einen Pakt geschlossen hatte, dass er wieder zurückkommen würde. Mir war durchaus bewusst, hätte er gegen die Schweige-Regel verstoßen, würde er nun nicht vor mir stehen. Nichtsdestotrotz saß der Stachel tief. Die Emotionen, die ich damals durchlebt hatte, waren durch das Geschehene wieder an die Oberfläche getragen worden.

„Ada.“ Sein Flüstern war so sanft wie eine Feder, die über meine Haut strich und mich erschauern ließ. „Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll außer, dass es mir leid tut. Du hast vollkommen Recht. Ich habe nicht nachgedacht, habe meinen Gefühlen nachgegeben, ohne darauf zu achten, was gut für Rosalie ist – und für dich.“ Seine Finger angelten sich eine rote Haarsträhne, die sich aus dem Knoten in meinem Nacken gelöst hatte. Er steckte sie mir hinter das Ohr und umschloss mit seiner Hand meine Wange. Als ich mich ihm entziehen wollte, umfasste er mein Gesicht mit beiden Händen. Ich kannte diesen Trick. Er hatte es schon oft getan. Und doch überraschte es mich. Michael trat auf mich zu. Ich legte meine Hände auf seine Brust und stemmte mich gegen ihn. Der nasse, kalte Stoff war widerlich. Ich wollte ihm nicht nahe sein. Meine Bemühungen blieben fruchtlos. Ich war stark, in vielerlei Hinsicht, aber Michael war stärker. Er drückte mich fest an sich und ich landete in einer Duftwolke riechend nach Regen, Freiheit, Abgasen und Mann. „Vergib mir, meine Königin. Ich habe dir wehgetan. Es tut mir leid.“ Ich erwiderte etwas darauf, doch gepresst gegen seinen Oberkörper kam nur ein unverständliches Genuschel aus meinem Mund. Michael lehnte sich ein Stück zurück, sah zu mir hinunter und wartete darauf, dass ich meine Worte wiederholte.

„Du hast Recht: Du hast mir wehgetan“, sagte ich, was sein Gesicht dazu brachte, dass es sich vor Schmerz verzog.

Michael lehnte seine Stirn an meine. Als er sprach, strich sein warmer Atem über mein Gesicht. „Ich liebe dich. Du darfst das niemals vergessen“, hauchte er. Leichter gesagt als getan. In mir tobte ein Sturm der unterschiedlichsten Gefühle: Wut, Traurigkeit, Zuneigung, Sorge, Enttäuschung. Ich wusste nicht, welchen Weg ich einschlagen sollte: den der Versöhnung oder den des Streits? „Und liebst du mich denn auch?“, fragte Michael. Anscheinend erwartete er auf seine zärtliche Liebeserklärung eine herzzerreißende Reaktion meinerseits. Mein Schweigen dauerte ihm wohl zu lange, also wagte er den Frontalangriff.

„Im Moment nicht besonders“, konterte ich und stieß ihn von mir weg. Der Fahrstuhl klingelte, die Türen glitten gemächlich auf und ich trat in die hell erleuchtete Kabine ein. Ich drückte auf die Taste für unsere Etage und den Knopf, der das Schließen der Türen beschleunigte. Obwohl ich schnell handelte, war es zu langsam für Michael. Flink schlüpfte er in den Fahrstuhl und beraubte mich der Möglichkeit, ihm eines auszuwischen.

„Du verletzt mich, Ada“, bemerkte er.

Ich zuckte mit den Achseln. „Du hast es nicht anders verdient.“

„In Ordnung. Sind wir dann jetzt quitt?“

Im hellen Licht des Fahrstuhls stehend konnte ich seine Erscheinung besser betrachten als im Hausflur, der nur von einer statt zwei Lampen erleuchtet worden war. Bei seinem Anblick lief mir das Wasser im Munde zusammen. Es gehörte verboten, so sexy zu sein. Die ausgeblichene Jeans, deren Farbe durch den Regen viel dunkler wirkte, saß eng an Michaels langen Beinen und ließ wenig Raum für Fantasie, besonders in einer gewissen Region auf der Vorderseite. Auf der schwarzen Lederjacke lagen die Wassertropfen wie kleine Perlen. Er musste sie während seines Höllentrips auf dem Motorrad offen gelassen haben, da sein T-Shirt völlig durchnässt war. Es klebte auf seiner Haut, die dunkel durch den Stoff hindurchschien. Seine Muskeln und andere anatomische Besonderheiten zeichneten sich deutlich ab. Er hätte nicht mehr preisgeben können, wäre er nackt gewesen. Ich leckte mir unwillkürlich mit der Zunge über die Lippen und staunte nicht schlecht, als Michael die Jacke auszog, die Arme ausbreitete und sich um die eigene Achse drehte, sich mir präsentierend von allen Seiten. Als er mit dem Gesicht wieder zu mir stand, sah er meinen missbilligenden Blick und meine abwehrende Haltung.

„Wenn du dich über mich lustig machen willst – das trägt nicht unbedingt zu meiner Besänftigung bei“, stellte ich klar.

„Ich mache mich nicht über dich lustig, Liebste. Ich finde es großartig und mehr als schmeichelhaft, die Begierde meiner Frau so offenkundig in ihrem Gesicht stehen zu sehen.“

„Pah!“, machte ich, reckte das Kinn in die Höhe und wandte den Kopf weg. Es nützte nur nichts, da auf dieser Seite des Fahrstuhls ein Spiegel hing, in dem ich Michael sah, wie er sich den unteren Saum seines T-Shirts schnappte, ihn ein Stück nach oben zog und damit sein Gesicht trocken tupfte, was sinnlos war, da der Stoff ebenso nass war. Aber Michael hatte gelernt zu spielen. Er wusste ganz genau, dass ich ein visueller Mensch war, ganz besonders wenn es um ihn ging, und dass er mich, indem er durch diese Aktion seine wohl definierten Bauch- und Brustmuskeln entblößte, wuschig machte. Ich schluckte den Speichel in meinem Mund hinunter. „Dieser Auftritt bringt auch nichts“, log ich und gab mich unempfänglich für sein Balzverhalten.

Mhh“, machte er. Sein Spiegelbild rieb sich das Kinn und suchte den Fahrstuhl mit den Augen ab, als würde an seinen Wänden die Lösung für das Problem geschrieben stehen. Schließlich trafen sich unsere Blicke in dem Spiegel und Michael fragte: „Und was ist hiermit?“ Schnell wie ein Blitz schoss er auf mich zu. Seine Hände packten mich grob an den Schultern. Er wirbelte mich zu sich herum und presste seine Lippen auf meine. Stürmisch, übermütig küsste er mich, sodass es mir die Luft zum Atmen nahm, während seine Hände meine über seinen Körper dirigierten. Als er sie dorthin geführt hatte, wo er am empfindlichsten war, löste er seinen Mund von mir, warf den Kopf zurück und stöhnte laut. Alles, was ich denken konnte, war: Er ist ein Bild von einem Mann! Ich drehte den Spieß um und stürzte mich nun auf ihn. Unser Atem wurde eins, unsere Herzen schlugen im selben rasanten Tempo. Es gab kein er und ich. Es gab nur wir. Nun ja, bis zu einem gewissen Punkt. Bis zum äußersten kam es nicht. Leider. Das Klingeln des Fahrstuhls, welches ich niemals zuvor als so dermaßen unerträglich empfunden hatte wie in diesem Augenblick, und eine Stimme, die uns ansprach, beendeten unser Tete-a-tete. „Guten Abend Mister und Misses Dale.“ Michael und ich stoben auseinander wie von der Tarantel gestochen. Geistesgegenwärtig platzierte er mich vor sich, damit der Störenfried nicht noch mehr Zeichen seiner Erregung sah, als er es ohnehin schon getan hatte. Mit hochrotem Kopf sahen wir unsere Nachbarin Misses Winston an, eine rundliche ältliche Lady, die uns grinsend und mit aufgemalten wackelnden Augenbrauen unverhohlen von oben bis unten musterte. Michael schob mich vor sich her in Richtung der Fahrstuhltüren. „Guten Abend Misses Winston“, sagte er. Seine Stimme war rauer als üblich und belegt. Er räusperte sich. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er, nun wieder Herr seiner selbst.

„Gut, danke. Und Ihnen?“, erkundigte sie sich bei ihm mit einem Zwinkern.

„Bestens, bestens, danke“, antwortete Michael.

„Ja, das sehe ich“, erwiderte sie, lehnte sich ein Stück zur Seite, vortäuschend, einen Blick auf sein bestes Stück zu werfen.

Im Spiegel sah ich, wie Michael an sich hinunterschaute, kontrollierend, ob ich ihn nach wie vor verdeckte. Er sah zu der Alten, lächelte peinlich berührt und manövrierte uns beide aus der Kabine. Sobald wir draußen waren, ließ er mich los, drehte sich um und verschwand in Richtung unserer Wohnungstür. Ich wollte ihm folgen, doch Misses Winstons Hand auf meinem Arm hielt mich zurück. Ich wandte mich zu ihr um und sah sie fragend an. Sie zog mich dicht zu sich heran und flüsterte: „Ich verstehe Sie voll und ganz. Wäre ich an Ihrer Stelle, könnte ich auch nicht die Finger von ihm lassen.“

Nachbarn – wie sehr ich sie vermisst habe.

Die Jägerin - In Alle Ewigkeit

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