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2 ERSTES HEFT Verlorene Kindheit

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ANFANGS GEFIEL ES GAWAHIR GAR NICHT, ihre Töchter mit dem Vater ausgehen zu lassen. Das war nichts Neues, denn sie wusste bereits seit ihrer Scheidung, dass das einzige Mittel, ihren Mann zu bestrafen, darin bestand, irgendwie zu verhindern, dass er seine Töchter sah. Weil jedoch die drei Mädchen selbst, vor allem Soad, die mittlere, ihre Mutter so sehr bedrängten, gab diese schließlich nach und bat ihren Ex-Mann nur, sich diesmal vor den Militärfahrzeugen in Acht zu nehmen: »Die Leute sagen, sie haben die Straßen besetzt.« Mit dieser Warnung lag Gawahir nicht falsch. Zum vielleicht ersten Mal versuchte sie ihre Töchter nicht daran zu hindern, auszugehen, weil sie sich an deren Vater rächen wollte, sondern weil sie sich tatsächlich Sorgen um ihr Wohlergehen machte.

Es war ein heißer Julitag. Seit die Einwohner Kairos drei Tage zuvor von einer ungewöhnlichen Bewegung in den Straßen erwacht waren, hörten sie im Radio nur noch Militärmärsche. Man sprach von einem historischen Tag, von der Revolution der Freien Offiziere im Namen des Volkes. Die Stadtmitte war noch voller Armeefahrzeuge, erzählten sich die Menschen, die von dort kamen, weil sie ihre Arbeitsplätze verlassen hatten, um zu Hause Schutz zu suchen. Nie zuvor hatten sie so viel Militär in den Straßen gesehen. Selbst die Gesichter der Älteren, die noch den Ersten Weltkrieg miterlebt hatten, wirkten verängstigt. Niemand wusste, wer für und wer gegen die Revolution war. Was das Militär betraf, so war klar, dass seine Aufgabe darin bestand, zu kämpfen. Aber bewaffnete Zivilisten? An welcher Front sie standen, vermochte niemand zu sagen. Zwar versicherten sie den Menschen, ihnen würde nichts geschehen, sie sollten nur umsichtig und ruhig bleiben, doch der Anblick, den die Stadt bot, war beängstigend.

Anders sah es in Bulaq aus. Im Viertel war es völlig ruhig, als stünde es in keinerlei Beziehung zum Rest der Stadt, als sei es seit seiner Entstehung am Ostufer des Nils ein von ihr losgelöster Hafen. Der Verkehr lief normal, die Autos fuhren wie gewohnt durch die Straßen, die Passagierboote und Lastkähne pflügten durch den Fluss wie an allen anderen Tagen auch. Selbst am Ufer von Bulaq hatte es in den letzten zweiundsiebzig Stunden keine ungewöhnlichen Bewegungen gegeben. Tags zuvor erst waren die Mädchen in der Abenddämmerung mit ihrer Mutter und deren neuem Ehemann, dem Schulrat Abd al-Mazhar Hafiz, spazieren gegangen. Wie stets zur Zeit des Sonnenuntergangs war das Nilufer zur Promenade von Liebespaaren und Familien geworden, die den Wind des kühler werdenden Tages genossen. Auch am dritten Tag nach der Revolution hatte man wie sonst gearbeitet. Sogar die einundzwanzig Salutschüsse der militärischen Artillerie hatte man vernommen. Es hieß, ein neues Zeitalter habe begonnen, der König sei abgesetzt und außer Landes gebracht worden. Im Land herrsche eine neue Regierung und mir ihr neue Gesetze. Man sprach von einer Republik, von einer geplanten Landreform, von der Abschaffung des Kolonialismus, von der Errichtung einer starken Armee, von sozialer Gerechtigkeit und von einem gesunden demokratischen Leben.

Die Nachrichten, die sich in diesen Tagen überschlugen, hatten Bulaq offenbar noch nicht erreicht. Hier lag der aus den Gassen dringende Rauch der Haschischzigaretten in der Luft, hier hatten die Eiscafés ihre Türen geöffnet, was auch der Grund sein mochte, warum die drei Mädchen so versessen darauf waren, mit dem Vater auszugehen. Seit sie nicht mehr mit ihm zusammenlebten, hatte ihre Mutter ihnen immer wieder eingebläut: »Wenn euer Vater, dieser Verräter, kommt, geht ihr nicht mit ihm mit!«

Letztendlich jedoch hatte sie ihre Töchter nicht überzeugen können, und zwar nicht, weil der Vater ihnen stets ein Eis versprach, sondern weil die drei Mädchen sich jeden Abend vor dem Einschlafen geschworen hatten, selbst zu entscheiden, ob sie mit dem Vater mitgingen oder nicht. Der Vorschlag dazu stammte von Kauthar, der Ältesten, und Soad hatte ihm gleich zugestimmt. Nur auf Sabah mussten sie intensiver einwirken, denn sie war noch zu klein, um solche Dinge zu verstehen, und außerdem ziemlich faul. Die Mädchen gingen davon aus, dass sie auch diesmal an vielen Kneipen und Bars auf ihrem Weg Halt machen würden, bei der San James Bar etwa oder dem Solt, wo ihr Vater, das wussten die Mädchen, besonders gern länger verweilte. Er legte dort immer eine Pause ein, holte sein altes Akkordeon aus dem Kasten, begann zu spielen und forderte seine Töchter auf zu singen. Das Solt war sowohl Restaurant und Konditorei als auch Ausschank. Deshalb musizierte der Vater dort am liebsten. Er selbst bekam ein alkoholisches Getränk – an den Tagen, an denen der Inhaber gut gelaunt war, auch zwei – und die Mädchen so viele Süßigkeiten, wie sie wollten. Doch zu ihrer Überraschung ging der Vater in dieser Julihitze einfach daran vorbei. Soad dachte zuerst, es sei ja noch mitten am Tag und der Vater mache hier lieber erst am Abend Halt, zwischen zehn und ein Uhr nachts, wenn die Bar zum Treffpunkt eines ganz speziellen Typs von Männern wurde. Der Vater bezeichnete diese Männer als große Literaten, Dichter, Intellektuelle und Journalisten. Am deutlichsten erinnerte sich Soad an einen freundlichen Glatzkopf mit Brille. Er hieß Si Chamis. Später sollte sie erfahren, dass er tatsächlich ein großer Poet war. Er hatte sich einmal lobend über ihre Stimme geäußert und gesagt: »Dieses Mädchen wird einmal ganz groß herauskommen!«

Zu ihrer großen Überraschung aber blieben sie diesmal weder vor dem Solt stehen noch vor dem al-Mahrusa, einer berüchtigten Quelle für Pressenachrichten und bevorzugter Treffpunkt der Notabeln aus den Familien Yakan und al-Manistrali, noch vor der Petersburg-Bar gleich gegenüber. Nicht einmal vor den Cafés hielten sie wie sonst auf ihren Rundgängen an, dem Port Fuad etwa, wo die Gäste an Tischen auf dem Gehsteig saßen, oder dem Port Nur an der Ecke Bulaq- und Soliman-Pascha-Straße. Das war seltsam, ebenso seltsam wie die Tatsache, dass ihr Vater nicht wie sonst von der Mutter verlangt hatte, ihnen alte, abgerissene, aber saubere Kleider anzuziehen, um seine Kunden mitleidig zu stimmen. An diesem heißen Julitag hatte er die Mutter aufgefordert, ihre Töchter baden zu lassen, sie hübsch anzuziehen und mit ihrem besten Parfum zu besprühen. Sie sollten aussehen »wie Prinzessinnen«. Gawahir war wütend geworden und hatte ihn angefahren: »Meine Töchter sind Prinzessinnen!« Als sie schließlich das Haus verlassen hatten und nicht mehr unter der Aufsicht der Mutter standen, trieb ihr Vater sie unaufhörlich an. Warum er heute so nervös war, wusste Soad nicht, und genauso wenig wusste sie, warum er solchen Wert auf hübsche Kleidung gelegt hatte.

An diesem Tag, der für Soads künftiges Leben bestimmend sein sollte, ahnte sie nichts von dem, was sie und ihre Schwestern erwartete, als sie das große Gebäude an der Corniche in Zamalek, gleich in der Nähe des alten Ankerplatzes, erreichten. Obwohl sie schon fast neun Jahre alt war, konnte sie weder lesen noch schreiben. Hätte sie eine reguläre Schule besucht oder wäre ihre Ausbildung nicht allein ihrer Mutter überlassen gewesen, hätte sie das Schild vor dem Gebäude lesen können, auf dem in breiten Lettern geschrieben stand: »Offiziersclub der Streitkräfte«. So jedoch war es für sie nur ein Gebäude, vor dessen Eingang scharenweise Militär stand. Anfangs hatte sie Angst verspürt, doch ihr Vater zog sie mit sich. Sie hörte, wie er den bis an die Zähne bewaffneten Soldaten und Wachtposten, die eine Eintrittserlaubnis verlangten, erklärte: »Sagen Sie seiner Exzellenz, dem Pascha, ich bin der kurdische Kalligraf!«, als seien alle von seinem Kommen unterrichtet. Kaum waren sie in einen großen Saal getreten, erblickten sie mehrere Offiziere, die Weingläser in der Hand hielten und dort standen, als hätten sie nur auf sie gewartet. Die Mädchen erhielten viele Komplimente, so mancher erlaubte sich sogar, ihnen über den Kopf zu streichen. Plötzlich sah Soad einen Offizier im Alter ihres Vaters, also gut Mitte dreißig, auf diesen zugehen und ihm die Hand reichen. Ihr schien, als würden die beiden einander gut kennen.

Captain Samah zeigte keinerlei Interesse an den drei Mädchen, er sah sie kühl und distanziert an, selbst sein kleines Lächeln wirkte gezwungen. »Alles in Ordnung?«, fragte er den Vater, und ohne dessen Antwort abzuwarten, setzte er sich eilig in Bewegung und forderte ihn und seine Töchter auf, ihm zu folgen. Sie gingen durch einen langen Flur, eine Art Tunnel beinahe, und je weiter sie sich vom großen Saal entfernten, desto stiller wurde es. Schließlich gelangten sie ganz am Ende des Gebäudes zu einem kleinen Raum, dessen Tür offenstand. Kaum waren sie eingetreten, erblickte Soad einen jungen Offizier, den Captain Samah fragte: »Ist alles bereit, Scharif?«, woraufhin dieser knapp und gehorsam antwortete: »Ja, Captain, alles bereit.«

Soad verstand nicht, wovon die beiden sprachen, sah aber in ihrer kindlichen Neugier den Vorgängen zu, als wäre sie beim Versteckspiel mit ihren Schwestern auf den Straßen in Bulaq.

Was auch immer Soad in ihrem Leben vergessen sollte, die Zeit, die sie in jenem kleinen Raum verbrachte, blieb ihr in Erinnerung. Noch Jahre später hatte sie die Tonbandgeräte, die hier bereitstanden, ebenso vor Augen wie jenen seltsamen Moment, wo sich ihr Blick mit dem des jungen Leutnants kreuzte. Sie sah ihn an und er sie. Das Lächeln, mit dem sie das seine beantwortete, war nichts weiter als der Versuch, sich von ihrer Verlegenheit und dem Gefühl zu befreien, seine Gegenwart löse etwas Ungutes bei ihr aus.

Leutnant Scharif war ein ansehnlicher Mann. Seine Uniform, sein kurzes, gepflegtes schwarzes Haar ließen ihn ebenso elegant erscheinen wie die vielen Herren in den Bars und Cafés von Bulaq. Er zeigte sich freundlich, wenn er mit Soad sprach, abgesehen von den kurzen Momenten, in denen sich sein Gesicht verdüsterte, als fühle er sich bedroht. Dann lag unvermittelt etwas Lauerndes, Kaltes in seinen Augen, das Soad erschauern ließ. Es war, als hätte sie intuitiv wahrgenommen, was geschehen würde, wäre er länger als eine Viertelstunde mit ihr allein im Raum gewesen. Sie bemerkte, dass er schwitzte und beim Sprechen schwer atmete. Mehrmals bat er sie, die Stücke, die er von ihr aufnahm, zu wiederholen. Sie wusste nicht, ob er vergessen hatte, das Aufnahmegerät einzuschalten, oder ob er es mit Absicht nicht getan hatte. Anders als bei ihr machte er von ihren Schwestern nur kurze Aufnahmen, von der Ältesten vielleicht zwei, bestenfalls drei Minuten, bevor er sie bat, den Raum zu verlassen, von der kleinen Sabah gar nur eine knappe Minute. Dann schickte er auch sie und ihren Vater hinaus.

Soad bekam Angst, wagte aber nicht, etwas zu sagen. Sie schöpfte Mut aus der Tatsache, dass ihr Vater und Captain Samah gleich hinter der Tür auf sie warteten. Vor allem die Anwesenheit von Captain Samah beruhigte sie.

Trotz ihres jungen Alters und obwohl sie sich mit militärischen Hierarchien nicht im Geringsten auskannte, war Soad klar, dass Scharif während jenes Tages wie auch während der folgenden, regelmäßigen Treffen nichts anderes tat, als die Befehle seines Vorgesetzten auszuführen. Selbst als Captain Samah zu Scharif gesagt hatte: »Starten Sie die Aufnahme!«, war dies im Tonfall eines Befehls geschehen. Und er hatte nicht ohne drohenden Unterton hinzugefügt: »Machen Sie uns keine Schande!«

So hatten die Militärs mit der Aufnahme jenes Liedes begonnen, das man später die Hymne der Revolution nennen sollte, der Revolution vom 23. Juli 1952: Gott erhalte deine Armee, mein geliebtes Ägypten!

Den Anfang dieses Liedes sang Soads ältere Schwester, während sie selbst einen Vers mehrmals wiederholte, der sich zu einer Art persönlichem Fluch entwickeln und später wie ein Albtraum auf ihr lasten sollte: Die Armee ist es, die uns schützt, mein geliebtes Ägypten.

Das neunjährige Mädchen aber, das sie war und das später als »Goldkind« und »Zuckerpüppchen« und noch sehr viel später als »die Cinderella« bekannt werden sollte, ahnte davon zu jenem Zeitpunkt noch nichts.

»Das war’s!«, freute sich der Vater, als er mit seinen Töchtern aus dem Gebäude des Offiziersclubs wieder zurück in die Tageshitze trat. »Von nun an wird nicht mehr in den Straßen und Bars gesungen. Ab morgen wird alles anders!«

Und er wusste nicht, wie recht er damit haben sollte.

Soad und das Militär

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