Читать книгу Nachtschwarze Sonne - Narcia Kensing - Страница 4
Kapitel zwei
ОглавлениеHolly
Ich versuche, mir den Weg einzuprägen, doch die Gleichförmigkeit aller Flure, Treppen und Türen im Hauptgebäude macht es mir nicht leicht. Es geht mehrere Gänge hindurch und eine Treppe hinunter. Hier weisen die Böden einen roten Streifen auf, keinen gelben, wie vor meinem Zimmer. Das ist aber auch schon der einzige Unterschied. Ich bezweifle, dass ich den Rückweg allein finden würde.
Bewaffnete Männer versperren uns jäh den Weg. Die Tür, die sie bewachen, ist größer und macht einen stabileren Eindruck als die einfachen Metalltüren der anderen Zimmer. Sie ist mit zusätzlichen Eisenbeschlägen versehen. Die Nummer des Kerls, der mich hergebracht hat, lautet 75-2. Nicht, dass er sich mir vorgestellt hätte, aber jeder Anzug eines Obersten ist mit dessen Nummer bestickt, auch meiner. Der Mann hat überhaupt kein Wort mit mir gesprochen, seine Miene ist finster, er hat mir nicht einmal in die Augen gesehen, während er mich durch das Labyrinth der Zentrale geführt hat.
»Anliegen?« Die Stimme des Türwächters ist monoton, aber sein Blick zuckt kurz über mich hinweg, ehe er 75-2 streng in die Augen sieht. Mir entgeht nicht, dass eine seiner Hände auf seiner Waffe ruht, die in seinem Gürtel steckt. Auch sein Kollege spannt den Rücken, als müsste er sich auf einen Angriff vorbereiten.
»Ich bringe 4-19 zur Impfung. Befehl von ganz oben.« Zum ersten Mal höre ich 75-2 sprechen. Er knurrt undeutlich und tief, fast wie Cade. Unwillkürlich schießt mir ein Schmerz ins Herz.
»Wo ist die Genehmigung?«
75-2 zieht eine schwarze Plastikkarte aus seiner Hosentasche. Er hält sie dem Wächter hin, dieser greift danach und zieht sie durch den Schlitz des schwarzen Apparates neben der Tür. Ein grünes Licht blinkt daneben auf.
»Haben Sie noch eine schriftliche Erklärung, dass Sie die Sicherheitszone betreten dürfen?«
»Nein«, fährt 75-2 den anderen V23er harsch an. »Das brauche ich nicht. Die Karte hat die höchste Zugangsberechtigung. Reicht das nicht als Erklärung?«
Er greift plötzlich nach meinem Arm und zerrt grob meinen linken Ärmel nach oben. Er präsentiert meinen Arm den beiden Türstehern. Ich will ihn zurückziehen, aber 75-2 ist schnell und stark, fast wie ein Acrai. Mir wird plötzlich wieder bewusst, dass ich körperlich keine Chance gegen die V23er hätte.
»Sie ist eine neue Rekrutin, sie hat noch kein Mal. Wollt ihr das Risiko tatsächlich eingehen, Mr. Hampton zu verärgern?«
Mr. Hampton? Wer ist das?
Der Türsteher verzieht das Gesicht, tritt dann jedoch zur Seite und gibt uns den Weg frei. Die Tür steht offen, wir können passieren.
Der Flur dahinter unterscheidet sich von den anderen. Er ist nicht grau und aus Metall, sondern komplett weiß gefliest. Es blendet mich. Während 75-2 mich am Arm hinter sich her zieht, werfe ich einen Blick zurück auf die massive Stahltür, die mit einem Klong wieder ins Schloss fällt. Okay, dies scheidet als Fluchtweg aus. Ich fühle mich einer Ohnmacht nahe. Was bleiben mir noch für Optionen? Alle Obersten überwältigen, die mich zwingen werden, das Serum zu bekommen? Wohl kaum. Sie sind um einiges stärker als ich.
Ich kämpfe mit den Tränen und kann kaum noch erkennen, wohin er mich führt. Nachdem wir noch um zwei Ecken abgebogen sind, bleiben wir stehen. Zu meiner Verwunderung steht eine Tür am Ende des Ganges weit offen, als würde man uns bereits erwarten. Der scharfe Geruch nach Desinfektionsmitteln steigt mir in die Nase.
Wir betreten einen großen Raum, der mich im ersten Moment so sehr in Erstaunen versetzt, dass ich sogar mein wild pochendes Herz ignoriere. An drei Wänden reihen sich über die ganze Länge Tische aneinander, sie bestehen aus glattem weißen Stein. Darüber befinden sich zahlreiche Schränke und Regale, alles ebenfalls schneeweiß. Surrende Apparate stehen auf den Tischen, ein jeder so unbekannt und fremd in Form und Funktion, dass ich mich in einem Traum wähne. An manchen Tischen stehen Hocker, auf denen Menschen in Kitteln sitzen, die bis zum Boden reichen. Sie tragen Gummihandschuhe und seltsame große Brillen. Es befinden sich acht Personen im Raum, einige sehen überhaupt nicht auf, als wir ihn betreten, sondern beugen sich über ihre Arbeitsplätze und gehen Tätigkeiten nach, deren Sinn sich mir nicht erschließt. Mit spitz zulaufenden handlangen Gegenständen überführen sie Flüssigkeiten von einem Gefäß in ein anderes, es wird geschüttelt, gemixt, und an Schaltern herumgedreht. Einer starrt in einen auf dem Tisch stehenden Apparat, der zwei Gucklöcher für die Augen hat und mich entfernt an ein Fernglas erinnert.
»Ich bringe 4-19«, sagt mein Begleiter. Mir fällt auf, dass auch er sich schaudernd umsieht, als wäre auch ihm die Umgebung fremd.
Eine Frau schiebt geräuschvoll ihren Hocker zurück und kommt auf uns zu. Unter ihrem weißen Kittel sehe ich den Kragen ihres schwarzen Einheitsanzuges hervorblitzen. Ihre Haare hat sie zu einem strengen braunen Pferdeschwanz zurückgebunden. Ihre Augen sind kaltblau. Sie sieht mich überhaupt nicht an, sondern deutet nur mit dem Kinn auf mich.
»Ist sie die Nachzüglerin? Alle anderen Rekruten sind letzte Woche schon hier gewesen.« Sie seufzt genervt. »Ich habe eigentlich gar keine Zeit für die Prozedur. Ich weiß ohnehin nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Können wir schnell machen?«
»Meinetwegen, soll mir recht sein«, sagt 75-2. Mich wundert es nicht, dass mich niemand nach meiner Meinung fragt.
»Hoffentlich wird es bei ihr komplikationslos ablaufen. Einer der Neuen hat uns letzte Woche das halbe Labor vollgekotzt.« Die Missbilligung in der Stimme der Frau jagt mir einen Schauder über den Rücken. Sie sagt es ohne Mitgefühl.
Mehr denn je möchte ich fliehen. Das Blut rauscht nun unüberhörbar laut in meinen Ohren. 75-2 und die Labormitarbeiterin sprechen miteinander, während sie mich voran stoßen. Ich kann nicht hören, was sie sagen, die Worte verwaschen sich zu einem monotonen Singsang in meinem Kopf. Mir ist schwindlig. Meine Beine fühlen sich an, als seien keine Knochen mehr darin. Früher habe ich immer Angst vor dem Zahnarzt gehabt, wenn er einmal im Jahr nach Manhattan gekommen ist. Ich habe stets mit feuchten Händen auf dem Stuhl gesessen und geglaubt, es sei das Schlimmste, das einem Menschen widerfahren könne, wenn der Arzt mit seinen Instrumenten im Mund herumfummelt. Doch das war gar nichts gegen die nackte Panik, die mich jetzt schüttelt. Kalter Schweiß läuft meinen Rücken hinab. Ich fühle mich wie vor einer Hinrichtung, und in gewisser Weise liegt der Vergleich gar nicht so fern.
Neal hat es auch schon hinter sich und er lebt noch, versuche ich mich zu beruhigen. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie Cade mich hat glauben lassen. Aber ich möchte nicht mit dreißig sterben! Oder war das etwa auch nur ein Märchen? Vielleicht leben die alten V23er tatsächlich in einem gesonderten Bereich der Zentrale. Nur, weil sie niemand gesehen hat, bedeutet dies doch nicht, dass es sie nicht gibt, oder? Andererseits ... Müsste Cade es nicht am besten wissen? Er ist ein Acrai, und die sterben auch früh. Sie haben ebenfalls das Mal. Wenn die V23er tatsächlich von ihnen abstammen, ist ihr Schicksal vielleicht doch ein früher Tod ...
75-2 drückt mich auf einen Stuhl. Ein weiterer Mann in einem weißen Kittel steht plötzlich neben mir. Ich habe ihn nicht kommen sehen. Seine Haare sind schwarz und streng zurückgekämmt. Um seinen Mund herum liegt ein verärgerter Zug. »Glauben Sie, dass dies der richtige Ort ist, um sie zu optimieren? Sollten wir nicht lieber woanders hingehen? Eine Liege wäre besser als ein Stuhl. Außerdem ist das hier ein Forschungsbereich. Hier darf nichts zu Bruch gehen!«
Die Dame macht eine wegwerfende Geste. »Stephen, ich habe keine Zeit, um mit ihr zur medizinischen Station zu gehen. Wie du siehst, stecke ich bis zum Hals in Arbeit! Es wird auch so gehen müssen. Kanüle rein, Serum rein, fertig. Was kann ich dafür, wenn noch Nachzügler mit Extraeinladungen kommen? Es muss jetzt leider schnell gehen. 75-2 kann sie danach meinetwegen zur Krankenstation bringen, sollte sie sich schlecht fühlen.«
Stephen? Man spricht sich also doch mit dem Vornamen an, aber anscheinend nur unter guten Bekannten, die man nicht siezt. Okay, das macht mir die Obersten nur geringfügig sympathischer. Mein Blick irrt von einem zum anderen. Ich hoffe, dass sie mich doch noch woanders hinbringen, obwohl es nur eine Verzögerung des Unvermeidbaren wäre. Sie drängen mich in die Ecke, mein Unwille steigert sich ins Unermessliche. Ich bin kurz davor aufzuspringen und alles kurz und klein zu schlagen.
Die Oberste entfernt sich ein paar Schritte von uns. Ich beobachte, wie sie zu einer Tür am Ende des Raumes geht, ihre Handfläche auf einen Scanner drückt und in dem dahinter liegenden Raum verschwindet. Weiße Dampfwolken quellen daraus hervor. Sie kommt mit einem winzigen gläsernen Gefäß wieder heraus. Aus einer Schublade nimmt sie weitere Gegenstände und legt sie auf ein Metalltablett. Ich habe das schon einmal gesehen, damals, bei der Erstuntersuchung, als mir Blut abgenommen wurde. Es ist eine verschweißte Nadel mit einem kurzen dünnen Schlauch am Ende. Mit all dem kommt sie zurück zu meinem Stuhl, 75-2 und der andere Mann flankieren mich. Als die Oberste sich einen Hocker heranzieht und sich anschickt, die Nadel aus der Verpackung zu schälen, bricht meine Angst aus mir hervor. Ich verliere die Kontrolle über meine Handlungen, es ist der nackte Überlebensinstinkt, der mich nun steuert. Mein Atem geht stoßweise und ich spüre, wie mein Gehirn ohne mein Zutun den Befehl an meine Beine gibt, vom Stuhl zu springen.
Im ersten Moment liegt die Überraschung auf meiner Seite. Der Dame fällt die Nadel aus der Hand, weil ich gegen ihren Arm gestoßen bin. Blitzschnell, schneller als meine Augen es wahrnehmen können, greifen 75-2 und Stephen zugleich nach mir. Sie erwischen mich am Ärmel, ziehen mich brutal zurück, aber ich versteife meinen Körper und weigere mich, mich wieder hinzusetzen. Ich trete um mich, treffe aber nur Luft.
»Siehst du, Melissa, das ist nicht der richtige Ort für die Prozedur!« Ich höre Stephens Worte, aber ihre Bedeutung sickert nicht bis zu meinem Verstand durch. Ich bin beseelt von dem Gedanken, mich aus der Situation zu befreien.
In meiner Panik beiße ich in die Hand von 75-2, der mich in seinem eisernen Griff am Arm hält. Er schreit kurz auf und lässt los, aber er packt schneller wieder zu, als ich um mich schlagen kann.
»Sie hat mich gebissen!«
»Sie ist wahnsinnig!« Melissa stellt das Tablett mit der Nadel und dem Serum neben sich, außerhalb meiner Reichweite. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als darauf herumzutrampeln, kann mich aber keinen Zoll weit von der Stelle bewegen. Ich spüre, wie mir Speichel am Kinn hinab läuft. Ich knurre wie ein Tier, was sich sogar in meinen eigenen Ohren furchterregend anhört. Ich will leben! Weshalb versteht das niemand?
Dann fährt mir ein scharfer Schmerz durch Mark und Bein, ich sehe Sterne vor meinen Augen tanzen. Meine Wange brennt wie Feuer. Jemand hat mir ins Gesicht geschlagen.
»Bringt sie auf die Krankenstation«, höre ich Melissa rufen. Nur am Rande nehme ich wahr, dass sich inzwischen auch alle anderen Labormitarbeiter um uns geschart haben.
Stephen greift um meine Taille und wirft mich in einer schwungvollen Bewegung über seine Schulter. Ich trete weiterhin um mich. Wieder schlägt mir jemand ins Gesicht. Es ist 75-2, der hinter Stephen geht und ihm aus dem Labor hinaus folgt. Auch Melissa schließt sich an, zuvor nimmt sie das Tablett wieder auf und trägt es hinter uns her.
Es geht wieder mehrere Flure entlang, aber ich schaffe es nicht, mir den Weg einzuprägen. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, mich zu winden und zu kreischen, bis ich nass geschwitzt und völlig entkräftet bin. Tränen der Verzweiflung tropfen von meinem Kinn auf Stephens Rücken, der immerwährend vor sich hin flucht und Melissa anfährt, weshalb sie mich nicht sofort in ein Krankenzimmer hat bringen lassen.
Irgendwann bleibt Stephen stehen. Ich höre, wie er seine Plastikkarte durch den Apparat zieht und ein leises Piepen ertönt, ehe eine Tür aufschwingt.
Wir betreten einen Raum, der genauso kahl und steril ist wie das Labor. Er ist winzig, gerade so lang wie die Krankenliege, die an einer Wand steht. Zu meiner Angst vor der Verwandlung gesellt sich nun Platzangst. Vier Personen in diesem engen Raum! Außer der Liege gibt es nichts, das ich durch mein wildes Gestrampel hätte zerstören können, und mir drängt sich der Verdacht auf, dass genau das der Grund ist, weshalb sie mich ausgerechnet hierher gebracht haben.
»Drückt sie nieder«, presst Melissa hervor. Ihr Tonfall lässt nun jede Art von Freundlichkeit missen. Die beiden Männer tun, wie ihnen geheißen und pressen meine Arme und Beine auf den kühlen Untergrund der Liege. 75-2 reißt meinen Ärmel nach oben und ich sehe an ihm vorbei, wie Melissa die klare Flüssigkeit aus dem Fläschchen auf eine Spritze aufzieht, ehe sie mit der Nadel auf mich zukommt.
»Halt still«, sagt sie, aber ich denke gar nicht daran. Soll sie mit dem Ding fünfhundert Mal daneben stechen. Ich fürchte mich nicht vor dem Schmerz. Ich bewege den Arm im Rahmen meiner Möglichkeiten. 75-2 kann ihn nicht so fest nach unten drücken, dass ich ihn nicht trotzdem minimal drehen kann. Es reicht, damit Melissa die Vene nicht findet.
»Hör auf damit!«, schnauzt mich Stephen nun an, der meine Beine festhält. »Was versprichst du dir davon? Du kannst es nicht verhindern.«
Ich will es nicht wahrhaben und spucke Melissa ins Gesicht. Sie weicht zurück und hätte beinahe die Kanüle fallen gelassen.
»Es reicht!«, schreit sie. »Ich hole Betäubungsgas. Haltet sie derweil fest!« Mit diesen Worten springt sie auf und stürmt wieder zur Tür hinaus.
75-2 und Stephen fixieren mich weiterhin, aber ich wehre mich nicht mehr. Ich möchte meine Kräfte für den Ernstfall schonen. Mein Herz hämmert so heftig gegen meine Rippen, dass es weh tut. In meinem Gesicht kleben verschwitzte Locken, aber ich kann sie mir nicht zurückstreichen, weil ich beide Arme nicht bewegen kann. Ich kneife die Augen fest zusammen. Ich möchte nicht gezwungen werden, in das Gesicht von 75-2 zu sehen, während er mich festhält.
»Hast du den Verstand verloren?«, fragt er mich, aber ich antworte nicht.
»Sie ist völlig verrückt. Unmöglich, dass sie ausgewählt wurde. So etwas habe ich noch nie erlebt! Wir sollten Mr. Hampton Bescheid sagen. Er wird sie entsorgen lassen.« Die Abneigung in Stephens Stimme ruft unbändigen Hass in mir hervor. Entsorgen lassen! Wollen sie mich töten? Diese gefühlskalten Monster, beraubt jeder Menschlichkeit? Sie sind schlimmer als die Acrai. Töten werden sie mich doch ohnehin, wenn sie mir dieses Zeug verabreichen! Ich habe nie zuvor mehr Ekel und Missbilligung empfunden als in diesem Moment.
Dann kehrt Melissa zurück. Ich sehe nur einen kleinen Ausschnitt des Raumes, weil 75-2 direkt neben der Liege steht und mein Sichtfeld einschränkt, aber ich kann erkennen, dass sie einen Apparat herein trägt, etwa so lang und breit wie eine Elle und mit einem Griff am oberen Ende, um ihn zu transportieren. An der Seite ist ein Schlauch, der in einen trichterförmigen Gegenstand mündet. Melissa betätigt einen Schalter. Das Teil fängt daraufhin an zu brummen.
Meine Lebensgeister erwachen wieder, erneut will ich um mich treten, doch meine Beine bewegen sich kein Stück. Als Melissa sich mit dem Trichter meinem Gesicht nähert, werfe ich den Kopf wild hin und her, aber ich kann nicht verhindern, dass sie ihn mir auf Mund und Nase drückt. Kurz halte ich die Luft an, aber mein kräftezehrendes Verhalten lässt meinen Körper binnen Sekunden nach Atemluft lechzen, sodass ich wohl oder übel einatmen muss. Es riecht nach nichts, und einen Augenblick lang wundere ich mich darüber, dass nichts passiert. Aber dann verschwimmt meine Umgebung zunehmend, mein Blick irrt durch die aufziehenden Nebelschwaden an 75-2 vorbei an die gegenüberliegende Wand. Ich sehe keine Konturen mehr, meine Muskeln entspannen und meine Wahrnehmung löst sich in Schwärze auf.
***
Mein Verstand schält sich nur langsam aus der wohligen Decke der Benommenheit. Ich träume. Von warmer Junisonne auf meiner Haut, von lachenden Menschen und Wind, der meine Haare zersaust. Vor mir liegt ein weites Feld, auf dem struppiges braunes Gras wächst, so weit das Auge reicht. Eine tote und verlassene Gegend, und dennoch fühle ich mich befreit. Es riecht nach Erde, die herrlichen Gerüche, die Sommerregen auf ausgedörrtem Boden hervorlockt. Ich bin nicht in Manhattan. Dies ist die Freiheit.
Etwas stört meine Glückseligkeit. Ich friere. Etwas kaltes ist an meinem Rücken. Im nächsten Moment blendet mich grelles Licht. Ich möchte mich zurück in meinen Traum flüchten, aber die Realität holt mich mit großen Schritten ein. Ich liege auf einem harten Untergrund, aber unter meinem Kopf ist es weich. Ich spüre, dass eine dünne Decke meinen Körper bedeckt. Ich möchte die Augen öffnen, aber es fällt mir unendlich schwer, als hätte sie jemand zusammen geklebt. Ich würde lieber wieder in den Schlaf hineingleiten, aber das ist unmöglich. Mit einem Mal schlägt mein Herz wieder schneller. Ich öffne die Augenlider zu schmalen Schlitzen. Das weiße Licht treibt mir Tränen in die Augen. Ich zwinge mich dennoch dazu, den Kopf zu drehen und die Augen zur Gänze zu öffnen. Ein scharfer Schmerz fährt mir unter die Schädeldecke.
Ich zittere vor Kälte. Mein Kreislauf kommt nicht in Schwung. Langsam schärft sich das Bild, ich befinde mich in einem Raum, den ich nicht kenne. Außer meiner Liege, die nicht so bequem ist wie ein Bett, gibt es hier nichts. Kein Fenster, und von meinem Standort aus kann ich auch keine Tür sehen. Ich sehe nur eine nackte weiße Wand. Zu hören ist nichts außer meine eigenen flachen Atemzüge.
Mir gelingt es, den Kopf ein wenig zu heben. Über mir hat jemand ein weißes Laken ausgebreitet, aber es wärmt mich nicht. Was ist passiert? Wo bin ich?
Ich wünschte, ich hätte nicht darüber nachgedacht, denn wie ein Messer schießen Erinnerungen in meinen Kopf. Man hat mich festgehalten und mir einen Apparat auf Mund und Nase gedrückt.
Das Serum! Herrje, sie haben mir dieses todbringende Zeug in den Blutkreislauf gepumpt! Ich konnte es nicht verhindern.
Angestrengt versuche ich, eine Veränderung in mir zu spüren. Fühle ich mich anders als zuvor? Stärker? Wenn sie mich in einen von ihnen verwandelt haben, müsste ich über größere Kräfte verfügen als zuvor.
So sehr ich mich auch bemühe, ich fühle mich lediglich benommen, außerdem schmerzt mein Kopf.
Ich möchte den Arm heben, aber er ist taub, als hätte ich lange darauf gelegen. Ich hebe noch einmal den Kopf an. Mein rechter Arm hängt ein Stück weit über die Bettkante, das weiße Fleisch, das unter dem Laken hervorlugt, hebt sich farblich kaum von diesem ab. In meiner Armbeuge steckt etwas. Ein Schreck durchfährt mich. Es ist eine Kanüle, die mit Pflastern befestigt ist. Es besteht kein Zweifel daran, dass sie mir etwas in die Vene gespritzt haben.
Ich möchte schreien, aber kein Laut entweicht meiner Kehle. Mein Mund verzieht sich nur, sodass meine rauen Lippen aufspringen und sich der metallische Geschmack von Blut auf meiner Zunge ausbreitet. Ich zwinge mich, den Kopf auf die andere Seite zu drehen. Nur unter Aufbringung all meiner Kraft gelingt es mir, meinen linken Arm unter der Decke hervorzuwühlen. Der Ärmel meines schwarzen Anzuges ist aufgekrempelt. Meine Haut ist ebenmäßig weiß und glatt. Keine Spur von einem schwarzen Mal. Doch das tröstet mich keineswegs. Vielleicht bekommt man es erst später. Ich weiß nicht, wie lange der Prozess der Verwandlung dauert.
In diesem Moment höre ich hinter mir etwas surren, ein Lufthauch streicht über meine Kopfhaut. Dann Schritte. Zwei. Drei. Im nächsten Moment verdunkelt etwas neben mir das Licht der grellen Neonröhren an der Decke. Ich hebe den Blick. Es ist ein fremder Mann. Er trägt ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose, aber keinen Einheitsanzug. Seine Stirn ist hoch, auf seinem Kopf glänzen kahle Stellen. Seine kurzen dunklen Haare sind von grauen Strähnen durchzogen. Um seine Augen herum ziehen sich Falten, sein Mund ist klein und zusammengepresst. Ist er einer der Obersten? Er ist älter als dreißig, so viel ist sicher. Einen kurzen Moment lang durchströmt mich Erleichterung. Die Geschichten über die frühe Sterblichkeit der V23er sind vielleicht gar nicht wahr.
Er setzt sich ans Fußende meiner Liege. Lange sehen wir uns nur in die Augen. Er strahlt eine natürliche Autorität aus, eine Strenge, die mich verunsichert. Was erwartet er von mir? Sollte ich etwas sagen?
»Wie geht es dir?«, fragt er mich schließlich. In der völligen Stille wirkt seine dunkle feste Stimme wie Donnergrollen.
Ich stutze ob seiner Frage. Niemand in der Zentrale hat mich bislang nach meinem Befinden gefragt. Ich rufe mir seinen Tonfall in Erinnerung. Habe ich ehrliches Interesse herausgehört? Oder war er genauso kalt und nüchtern gewesen wie bei allen anderen Obersten?
Er sieht mich weiterhin durchdringend an. Ich sollte etwas sagen, damit er mich nicht für schwachsinnig hält.
»Ich habe Kopfschmerzen.« Meine Stimme ist brüchig und leise. Ich erschrecke mich davor. Im nächsten Moment schäme ich mich für meine dumme Antwort. Ich jammere wie ein Kind! Weshalb sollte es ihn interessieren, ob ich Kopfschmerzen habe?
»Du wirst wieder auf die Beine kommen.« Der Anflug eines Lächelns, aber es wirkt wie Balsam. Hier lächelt sonst keiner. »Du hast es meinen Laboranten ganz schön schwer gemacht.«
Ein Schwall heißen Blutes steigt mir in den Kopf. Ich ärgere mich darüber. Ich sollte mich nicht dafür schämen. Es ist mein gutes Recht, über mein Leben zu bestimmen.
»Was möchten Sie von mir?«, frage ich geradeheraus.
»Mir das Mädchen ansehen, das so vollkommen anders auf das Serum reagiert hat als alle anderen.«
Weshalb? Wie haben denn die anderen reagiert? Die Frage liegt mir auf der Zunge, aber ich verkneife sie mir.
»Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen«, sagt der Fremde, der mir gleichermaßen freundlich wie unnahbar und autoritär vorkommt. »Mein Name ist Chris Hampton, Captain der Zentrale. Ich denke nicht, dass du schon einmal von mir gehört hast.«
Ich bin verwirrt. Ich erinnere mich an seinen Namen, aber mehr auch nicht. Ich wusste nicht, wer er ist und dass die Zentrale überhaupt einen Captain hat. Sicherlich ist er eine wichtige Person. Weshalb interessiert er sich für mich? Und weshalb ist er anders als die anderen V23er?
Er scheint mir meine Gedanken im Gesicht abzulesen. »Mach dir keine Sorgen. Ich bin lediglich hier, um mir das Phänomen mit eigenen Augen anzusehen.«
Ich hebe die Augenbrauen, sage aber nichts. Mein Blick wandert zu meinem Arm, der noch immer unter der Decke hervorlugt. Ich starre auf die Kanüle.
»Hat man mir ...?« Ich kann nicht weitersprechen, weil meine Stimme bricht.
»Ja, du hast das Serum von uns erhalten. Wie du weißt, ist es ein großes Privileg.«
Mein Herz klopft wie wild, gleichzeitig kämpfe ich mit den Tränen. Tränen der Wut. Ich hasse mich selbst, weil ich mein ganzes Leben lang daraufhin gearbeitet habe, diesen Alptraum zu erleben. Ein Leben in einer Lüge.
Sollte ich Mr. Hampton darauf ansprechen, dass ich kein Mal am linken Arm habe? Nein, das weiß er sicherlich längst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jeden verwandelten Rekruten an seinem Krankenbett besucht. Es muss etwas passiert sein, dass anders verlaufen ist als bei anderen. Mir brennt die Frage unter den Nägeln, ob Mr. Hampton selbst ein Mal hat, aber ich traue mich nicht, sie zu stellen. Wäre doch nur Cade hier, vielleicht könnte er mir weiterhelfen. Der Gedanke an ihn erschüttert mich noch mehr. Jetzt muss ich wirklich hart dagegen ankämpfen, keine Träne zu vergießen.
»Hat man dir schon mitgeteilt, in welchem Arbeitsbereich man dich einsetzen wird?«, fragt er mich.
Ich krame kurz in meinem Gedächtnis. »Ja. In der Wäscherei.«
Mr. Hampton nickt. »Eine typische Anfängeraufgabe. Wie stehst du dazu?«
Ich komme mir seltsam ertappt vor. Wie bei einem Verhör, bei dem ich genau weiß, dass ich schuldig bin. Hoffentlich bemerkt er nicht, wie sehr ich schwitze. Was möchte er von mir hören? Während ich in seine grauen Augen blicke, fasse ich einen Entschluss. Ich sollte mich nicht mehr wehrhaft zeigen. Wie wenig Sinn das macht, habe ich am eigenen Leib gespürt. Nein, ich sollte das Spiel mitspielen und stattdessen auf eine passende Gelegenheit lauern, um dem Irrsinn zu entfliehen.
Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Ich freue mich auf meine Karriere als Mitglied des Volkes V23. Ich möchte meine Aufgaben gewissenhaft erfüllen.«
Herrje, wie dämlich sich das anhört! Das glaubt er mir doch nie im Leben.
»Schön, dass du dich dazu entschlossen hast. Ich hatte schon befürchtet, du könntest wieder toben und mich anspringen. 75-2 hat mich bereits darauf vorbereitet, wie wehrhaft du bist. Für gewöhnlich verhalten sich unsere Rekruten ein wenig anders.« Er sieht mich eindringlich an, als wollte er hinter meinen Augen ergründen, was in meinem Gehirn vorgeht. Ein Glück, dass er meine Gedanken nicht lesen kann. Was meint er mit anders?
Ich denke an Neal. Auch er hat sich verändert. Ihm scheint alles egal geworden zu sein. Ich erinnere mich daran, wie tief der Schock saß, als ich erfuhr, dass er Cade und mich verraten hat. Das hätte er niemals getan, wenn er Herr seiner selbst gewesen wäre. Neal hat die Obersten immer heimlich verachtet. Er hätte nicht mit ihnen zusammen gearbeitet. Meine Wut auf ihn schmilzt bei dieser Erkenntnis dahin. Wenn die Verwandlung beinhaltet, dass man zur Marionette der Führungsetage wird, sollte klar sein, was von mir erwartet wird. Hat man mir nicht deutlich zu verstehen gegeben, dass die Obersten nicht zögern, unliebsame Quertreiber zu töten?
Ich schlucke. »Ich entschuldige mich für mein dummes Verhalten.«
Mr. Hampton nickt. »Zu diesem Zeitpunkt hast du es noch nicht besser wissen können. Es sei dir verziehen.« Sein Blick wandert zur Kanüle in meinem Arm. »Ich werde gleich jemanden rufen lassen, der sie entfernt. Danach kannst du auf dein Zimmer gehen, etwas essen und dich ausruhen. Morgen trittst du deine Arbeit in der Wäscherei an.«
Ich wage nicht, einen Kommentar dazu abzugeben, sondern nicke nur dankbar, als hätte er mir ein Geschenk gemacht. »Neal... 46-19... ist nach seiner Erstuntersuchung nicht rekrutiert worden. Bleibt er dennoch in der Zentrale?« Ich gebe mir Mühe, gleichgültig zu klingen. Er soll nicht merken, dass Neal mir etwas bedeutet.
»Ja, das wird er. Nur, weil er nicht erwählt wurde, heißt es nicht, dass er gänzlich untauglich ist. Die Zeit wird zeigen, ob er sich in sein neues Leben fügt.«
»Wonach wird in unserem Blut gesucht?«
Seine Augen verengen sich und ich könnte mich selbst ohrfeigen, so neugierig zu sein. Ich habe den Bogen überspannt, ganz sicher. Mr. Hampton sieht mich skeptisch an, als sei er es nicht gewohnt, solche Fragen gestellt zu bekommen. Verhalte ich mich falsch?
»Nach der allgemeinen Gesundheit. Der Rest geht nur die Laboranten etwas an.« Jetzt klingt er wieder unfreundlich und kalt. Vielleicht sollte ich besser den Mund halten. Ich mache mir eine geistige Notiz, dass Neugier nicht zu den erwünschten Eigenschaften eines V23ers gehört. Ich darf keine Fragen mehr stellen, wenn ich hier nicht auffallen möchte. Eines ist sicher: Falls das Serum tatsächlich eine Veränderung der Persönlichkeit mit sich bringt, merke ich davon bisher nichts. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass dies der Grund ist, weshalb der Captain mich besucht hat. Plötzlich wird mir klar, was genau er bezweckt. Er möchte ergründen, inwiefern ich mich den V23ern entsprechend verhalte, auch ohne Mal. Okay, ich werde ihn nicht enttäuschen. Sollen sie doch glauben, ich sei eine von ihnen. Wenn sie mir irgendwann vertrauen, werde ich abhauen.
Mr. Hampton erhebt sich und wendet sich ab, ohne sich zu verabschieden. Ich nehme an, auch das ist hier nicht Brauch, deshalb lasse ich mir meine Verwunderung darüber nicht anmerken.