Читать книгу Purpurner Nebel: Undying Blood 3 - Narcia Kensing - Страница 5
Kapitel drei
ОглавлениеCade
Schon bei unserer Ankunft bemerke ich die seltsame Stille, die über der Stadt liegt. Manhattan hat seit dem großen Krieg nie viele Einwohner gezählt, aber immerhin herrschte eine ruhige, friedvolle Atmosphäre. Jetzt ist es einfach nur gespenstisch. Die Straßen sind nicht menschenleer, denn hinter jeder Ecke lauern Männer und Frauen in schwarzen Anzügen, bis an die Zähne bewaffnet und bereit, jeden ohne Vorwarnung niederzustrecken, der sich trotz Ausgangssperre draußen herumtreibt.
Auf dem Weg zur Williamsburg Bridge, die von Brooklyn aus nach Manhattan führt, habe ich mit mehr Schwierigkeiten gerechnet, immerhin sind wir mit drei Autos und einem Motorrad nur wenige Häuserblocks an der Zentrale vorbei gefahren. Mir scheint, die V23er richten ihre Aufmerksamkeit momentan ausschließlich auf ihren Rattenkäfig. Das hatte mir bereits zu denken gegeben. Unsere Fahrzeuge haben wir einige Blocks entfernt auf einem alten Sportplatz abgestellt. Richards kryptische Andeutungen, nach denen wir sie für einen längeren Zeitraum nicht mehr benötigen würden, hat mich aufmerken lassen. Entweder, er hält unser Unternehmen ebenso wie ich für eine Selbstmordmission, oder er plant tatsächlich, den Mittelpunkt seiner Aktivitäten vorerst nach Manhattan zu verlegen. Wie dem auch sei - ich bin vorwiegend wegen Holly hier, weil sie ihren Mentor Carl aus der Gefahrenzone retten will. Insgeheim hoffe ich, dass wir uns danach wieder verdrücken können, obwohl ich die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihren Vater zurücklassen wird, für äußerst gering halte. Nun, über dieses Problem werde ich mir Gedanken machen, wenn es soweit ist.
Die Williamsburg Bridge ist auf gewöhnlichem Weg nicht passierbar. Die Fahrbahnträger der Hängebrücke bestehen komplett aus Stahl. Einst hat sie zwei Gleise und acht Fahrspuren über den East River geleitet, ein wirklich imposantes Bauwerk. Doch von dem damaligen Glanz ist nicht mehr viel übrig. Der flirrende Energieschild vereitelt eine Überfahrt etwa auf halber Höhe. Weder auf der unteren, für die Subway und den PKW-Verkehr freigegeben Ebene, noch auf der oberen mit Rad- und Fußwegen gibt es ein Durchkommen. Wir mussten über die Brüstung klettern und in Höhe des Schildes an der unteren stählernen Fachwerkkonstruktion über eine Distanz von etwa zwei bis drei Yards entlang hangeln, um auf der anderen Seite wieder die Fahrbahn betreten zu können. Das hört sich nicht allzu schwierig an, aber für einen Acrai bedeutet es einiges an Überwindung, frei schwingend über dem East River, und noch dazu mit dem Gewicht von Shelly auf dem Rücken, die wenigen Yards zu überwinden. Zum Glück ist Holly so sportlich. Sie hat den Weg allein geschafft. Bis alle neun Personen sicher durch den Riss im Schild gelangt waren, verging mindestens eine Stunde. Da war mir der Weg durch den Lincoln Tunnel lieber, den meine Sippe seinerzeit benutzt hatte. Zumindest barg er nicht das Risiko, ins Wasser zu stürzen.
Wir befinden uns nun in der Lower East Side, nahe einem Stadtviertel, dass einst als Little Italy bekannt war. Obwohl wir erst seit einer knappen Stunde in der Stadt sind, habe ich schon fünf Mal einen Schuss durch die Luft gellen gehört.
Die Acrai-Zombies, von denen Jamie erzählt hat, haben wir bislang nicht lebend zu Gesicht bekommen, wohl aber drei ihrer Leichen, die mit verdrehten Gliedern auf der Treppe zum Zugang einer U-Bahnstation lagen. Inzwischen sehen wir unsere These als bestätigt, dass es sich definitiv um von Wandlern in Acrai verwandelte Menschen handelt. Eine hässliche Methode, die vom Obersten Rat seit Jahrhunderten nicht mehr geduldet wird. Ich bin mir sicher, dass Lucas dahintersteckt. Aber weshalb? Wo ist der Zusammenhang? Er möchte Holly benutzen, ja, und er möchte mich bestrafen, weil ich abtrünnig gewesen bin. Und dann macht er sich selbst des schlimmsten Verbrechens schuldig, das unsere Rasse kennt?! Welchen Sinn soll das haben? Ich kann es nicht verstehen.
»Alle, die eine Waffe haben, lassen den Finger bitte am Abzug«, flüstert Elijah und entsichert seine halbautomatische Pistole. »Hinter jeder Ecke lauern Gefahren. Unserem momentanen Standort am nächsten wohnen unsere Kontaktpersonen Patricia und Steve. Nach ihnen sollten wir als erstes suchen.«
Allgemeine Zustimmung durch Kopfnicken. Okay. Also suchen wir als erstes irgendwelche Rattenkäfig-Bewohner, die den Rebellen ans Herz gewachsen sind. Na super. Da habe ich große Lust zu. Aber ich werde wohl oder übel mitziehen müssen. Immerhin haben sie mir eine Waffe gegeben, eine CZ 75 Kaliber 9mm in Silber. Stil haben die Typen, das muss man ihnen lassen. Holly hat ebenfalls eine Pistole haben wollen, aber das konnte ich zum Glück verhindern. Das Mädel ist unerfahren im Umgang mit allem, sogar mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs. Ernsthaft: Ich hätte eher Shelly zugetraut, mit einer Knarre umzugehen als Holly. Sie hat sich darüber geärgert, aber Richard hat eingesehen, dass eine Schusswaffe nichts in ihren Händen verloren hat. Wir haben die beiden jungen Mädchen stattdessen mit schönen langen Jagdmessern besänftigen können, die sie etwas unbeholfen vor den Körper halten. Ich habe Holly die Anweisung gegeben, immer dicht bei mir zu bleiben. Bislang hält sie sich daran, aber wir sind auch noch nicht auf echte Schwierigkeiten gestoßen. Ich bete, dass uns das erspart bleibt.
Wir huschen wie Schatten um die Häuserecken, leise und schnell. Zwei Mal entkommen wir nur knapp den Blicken bewaffneter V23er. Wir kauern uns hinter eine Mauer und verhalten uns still, als die Patrouillen nur einen Yard neben unserem Versteck an uns vorüber ziehen. Das ging gerade noch einmal gut. Ich habe keine Angst um mich, auch nicht um Elijah oder die anderen Kerle, aber die Frauen empfinde ich in diesem Moment eher als Belastung. Wir sind zu neunt - was glauben wir, wie lange wir ungesehen durch den Löwenkäfig streifen können, ohne auf uns aufmerksam zu machen?
Wir bewegen uns auf der Delancey Street in östlicher Richtung auf den Broadway zu, als uns hinter einem ausgebrannten Eckgebäude an der Bowery Street eine Gruppe Menschen überrascht. Flüchtig zähle ich fünf. Im ersten Moment geht ein Ruck durch unsere Truppe, weil sich die meisten erschreckt haben, dann fällt auch schon der erste Schuss aus Zacs Pistole. Er trifft einen Mann im blauen Einheitsanzug, der lautlos umfällt wie ein Sack Reis. War es eine Reflexhandlung gewesen oder hat Zac so schnell erkannt, dass es sich um die durchgedrehten Acrai handelt, die die Gegend in ein von Monstern verseuchtes Sperrgebiet verwandeln? Er hat zumindest völlig richtig gehandelt, denn in den Gesichtern der anderen vier Streuner erkenne ich, dass sie nicht wirklich über ein hohes Maß an Verstand verfügen. Aus dem Mund eines Mannes rinnt ein Speichelfaden, sein Gang ist seltsam taumelnd. Doch der Moment der Überraschung währt nur kurz, viel zu groß ist der Hunger dieser frisch ins Leben gerufenen Acrai. Sie sind unberechenbar und gefährlich. Sofort stürzt sich der erste - ein junger Kerl, nicht älter als fünfzehn - auf Sarah. Was er durch die Verwandlung an Verstand eingebüßt hat, macht er leider durch Schnelligkeit wieder wett. Leider eine Eigenschaft aller Acrai, ob verwandelt oder nicht. Im letzten Moment, ehe seine Finger sich um Sarahs Kehle schließen, schlägt sie ihm mit dem Griff ihrer Waffe auf den Kopf. Schwer getroffen taumelt er zurück, stürzt und bleibt liegen.
Nur noch drei Biester übrig. Einer stirbt durch meine Waffe, ein anderer durch die von Richard. Holly und Shelly stehen etwas abseits, obwohl ich ihnen gesagt habe, sie sollen sich nicht zu weit von mir entfernen. Sie halten ihre Messer verkrampft vor den Körper, die Klingen zucken im Rhythmus ihres Herzschlags. Hollys Stirn glänzt feucht, sie ist blass und presst die farblosen Lippen aufeinander. Ich glaube nicht, dass sie sich wirklich im Klaren darüber war, was sie in ihrer Heimat erwarten würde.
Der letzte verbliebene Acrai, ein kräftig gebauter Mann mittleren Alters, ist schneller und gerissener als seine Kollegen. Zwei Schüssen weicht er aus, er springt wie ein Flummi von rechts nach links - zu schnell für die Augen der Menschen.
Und dann kommt es, wie es kommen musste. Der Kerl wittert leichte Beute und hechtet den beiden Mädchen entgegen.
»Nein!«, schreie ich. »Du Arschloch lässt sie gefälligst in Ruhe!«
Ich ziele auf den Kerl und drücke ab. Ich bin mir sicher, dass ich ihn getroffen hätte, wenn mich meine Waffe in diesem Moment nicht im Stich gelassen hätte. Es löst sich kein Schuss. Ist das Magazin schon leer? Haben sie mir ein angebrochenes gegeben? Ladehemmung? Verdammt!
Richard und Jamie schießen ebenfalls, aber sie verfehlen ihr viel zu schnelles Ziel. Die Patronen bleiben in der Wand dicht neben Holly und Shelly stecken.
»Hört auf! Ihr trefft die Mädchen!«, kreischt Susan.
Dann packt sich der Acrai Shelly. Unsere Mission scheint ein erstes Opfer zu fordern, denn ein Acrai kann durch Berührung töten, indem er die Emotionen mit einem Schluck aus den Menschen heraussaugt. Wenn er erfahren ist bei der Nahrungsaufnahme, kann dies binnen einer Sekunde vonstatten gehen. Doch dieser Kerl hat keine Erfahrung. Er fasst an Shellys Hals und schüttelt sie, das Messer fällt klirrend zu Boden. Das Mädchen röchelt. Ich schicke mich an, das Biest mit bloßen Händen von ihr herunter zu reißen, doch in diesem Moment rauscht Hollys Jagdmesser auf ihn herab. Sie erwischt ihn am Arm. Der Kerl lässt Shelly los, schreit markerschütternd und stolpert von dannen, langsamer als zuvor. Die Verletzung hat ihn geschwächt. Er schafft es nicht einmal bis auf die andere Straßenseite, ehe er zusammensackt und keine Anstalten mehr unternimmt, uns anzugreifen.
Holly steht noch immer mit dem Messer in der Hand kreidebleich und steif vor Shelly, die sich inzwischen wieder gefasst hat, jedoch schwer atmet. Der Schock steht beiden ins Gesicht geschrieben.
»Es war keine gute Idee, die Mädchen mitzunehmen«, sagt Zac. Er wischt sich Schweiß von der Stirn. »Viel zu gefährlich.«
»Wenn die Monster nicht so verdammt schnell wären«, flucht Richard. »Wie viele von den Viechern gibt es in der Stadt? Beim nächsten Mal haben wir vielleicht nicht mehr so viel Glück.«
Das Geräusch von schweren Stiefelpaaren, die sich von Norden auf die Kreuzung zu bewegen, lässt uns alle zugleich innehalten und aufmerken. Mehrere Personen nähern sich.
»Verdammt, das sich V23er«, stößt Elijah hervor. »Die haben unsere Schüsse gehört. Nichts wie weg.«
Ich packe mir Shelly und renne voraus. »Mir nach.«
Die anderen widersprechen nicht. Ich passe meine Geschwindigkeit meinen Kameraden an. Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht durch eine zu schnelle Bewegung als Acrai oute - ich schätze, das käme bei meinen Kameraden im Moment weniger gut an, ha ha.
So schnell wir können hasten wir weiter die Straße hinunter, bis wir auf den Broadway stoßen. Hinter uns höre ich von irgendwoher Rufe, Schüsse und auch das Röcheln und Grunzen der widerlichen Monster. Mir scheint, sie lauern hinter jeder Ecke.
»Dort sind Rebellen!«, schreit uns ein Mann hinterher, ein Schuss fällt. Ich höre kein Gurgeln und kein Geschrei, vermutlich wurde niemand meiner Gruppe verletzt. Je weiter wir rennen, desto mehr Aufmerksamkeit ziehen wir auf uns. Scheiße! So kommen wir niemals irgendwo an. Die Rettung ihrer Freunde können sich die Rebellen wohl abschminken, wir sollten froh sein, wenn wir lebend aus dieser Hölle herauskommen. Ich werfe flüchtig einen Blick über die Schulter zurück. Holly läuft direkt hinter mir. Sie hat keine Schwierigkeiten, mitzuhalten. Shelly trage ich auf dem Rücken, sie schlingt ihre blassen dünnen Arme fest um meine Brust. Ich bin mir sicher, wenn sie in besserer körperlicher Verfassung gewesen und von den V23ern nicht mit Medikamenten gequält worden wäre, wäre die dreizehnjährige den Erwachsenen davongelaufen.
Die Straßen von New York sind seit vielen Jahrzehnten schon nicht mehr ansehnlich. Vom Zauber der Stadt, die niemals schläft, ist nichts mehr übrig. Wir hasten durch verfallene Gassen, springen über Schlaglöcher und Risse, vorbei an zersprungenen Schaufenstern, stinkenden Hauseingängen und Bergen von Unrat und Abfall. Seit kurzem scheint es nicht einmal ungewöhnlich zu sein, über Leichen hinweg zu steigen, als seien sie nichts als Dreck am Straßenrand. Es wird immer schlimmer. Menschenunwürdige Zustände jagen einem das nackte Grauen in den Leib. Es gibt sie noch, diese Momente, in denen ich mir wünsche, kein Mitgefühl empfinden zu können.
Als ich merke, dass meine menschlichen Begleiter immer weiter zurückfallen und schwer atmen, biege ich in ein altes dunkles Parkhaus ein. Hinter einer mit Graffitis beschmierten Mauer bleibe ich stehen und setze Shelly ab. Es stinkt nach Urin und Feuchtigkeit. Wir befinden uns inzwischen in der Gegend von Greenwich Village.
Ich lasse meinen Blick über die keuchende und schwitzende Gruppe schweifen. Immerhin haben wir niemanden verloren.
»Ist uns jemand gefolgt?«, frage ich.
Richard schüttelt den Kopf. »Die letzte Gruppe V23er ist schon an der vorletzten Straßenkreuzung in die falsche Richtung gelaufen, weil sie unsere Spur verloren haben. Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie viele von den Acrai sich in den dunklen Ecken noch verkriechen.«
»Ich hätte niemals gedacht, dass es so viele sind«, sagt Zac und tauscht das Magazin seiner Pistole aus. Drei Magazine hat jeder von uns mitgenommen, doch bei der Anzahl Feinde, denen wir bis hierher begegnet sind, wage ich zu bezweifeln, dass wir den Rückweg überleben.
»Und du bist völlig sicher, dass es keine Seuche, sondern eine bewusste Verwandlung durch einen Wandler gewesen ist?«, fragt Sarah an Richard gewandt.
»Völlig sicher. Ich habe in meiner Vergangenheit viel Zeit mit Lucas verbracht.« Er reibt sich über das Gesicht. »Hab mir aus Verzweiflung die falschen Freunde gesucht. Wir haben sogar eine Menge Euphoria gemeinsam konsumiert. Im Rausch hat er mir viel erzählt. Es besteht kein Zweifel daran, was hier passiert ist.«
»Und es ist wirklich nicht ansteckend?« Susan klingt leicht angewidert. Ich muss mich beherrschen, ihr nicht um die Ohren zu hauen, dass es garantiert nicht ansteckend ist. Sie müsste das Blut eines Wandlers oral oder intravenös zu sich nehmen, um zum Acrai-Zombie zu werden.
»Nein, ist es nicht«, sagt Richard, ebenfalls leicht genervt. Er wird mir langsam sympathisch. »Zumindest hat Lucas mir den Sachverhalt so erklärt.«
»Hab euch doch gesagt, dass es schreckliche Zustände sind«, knurrt Jamie. »Wir werden nie alle Leute, die uns wichtig sind, herausholen können. Zumindest nicht, solange wir gemeinsam unterwegs sind. Das halte ich taktisch für äußerst ungünstig.«
»Ausnahmsweise hat er mal recht.« Zac funkelt Jamie missbilligend von der Seite an. »Das hat doch keinen Sinn, wir gäben ein erstklassiges Ziel für die Mutanten ab. Eine Granate - peng. Alle tot. Wir sollten nicht gemeinsam weitergehen.«
Richard tritt neben Holly und legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Vor allem sollten wir die Mädchen in Sicherheit bringen. Ich lasse nicht zu, dass sie noch einmal in einen Kampf geraten. Cade, Shelly, Holly und ich gehen getrennt von Susan, Sarah, Elijah, Jamie und Zac. Wir suchen ein sicheres Versteck für die beiden und treffen uns in ein paar Stunden am Madison Square Garden.«
Ausnahmsweise hätte ich sogar dasselbe vorgeschlagen. Ich fühle mich wohler dabei, Holly in Sicherheit zu wissen. Sie hätte gar nicht hier sein sollen. Wer weiß, ob Lucas sich nicht noch immer in Manhattan herumtreibt, und von V23ern wimmelt es ohnehin. Unter keinen Umständen dürfen sie Holly in die Finger bekommen.
»Mein ehemaliger Wohnbezirk ist nicht weit von hier«, sagt sie. »Wir können bei Carl unterschlüpfen und ihm gleichzeitig Schutz gewähren. Er wohnt ganz allein in dem großen Haus. Ich bin mir sicher, er würde es bereitwillig mit uns teilen.«
»Mir wäre es fast schon lieber, wenn Holly, Shelly und ich das Weite suchen und Manhattan komplett verlassen würden«, werfe ich ein. »Wenn sie hier bleibt, werfen wir sie den Raubtieren zum Fraß vor.«
»Auf keinen Fall«, empört sich Holly. »Ich gehe nicht ohne Carl!«
»Kannst du nicht einmal vernünftig sein?« Sie zerrt an meinen Nerven. Ich hätte große Lust, sie einfach zu packen und gegen ihren Willen mitzunehmen.
»Wie weit ist es bis zu deinem Wohnhaus?« Richard bemüht sich sichtlich um einen ruhigen Ton. Meine Geduld ist definitiv fast am Ende. Offensichtlich spürt er das und möchte die Situation entschärfen.
»Nur zwei Querstraßen weiter. Ich wohnte in dem Haus mit der Aufschrift Hollister auf der Seite.«
Das kenne ich, einer der auffälligsten Gebäude, irgendwo zwischen den Stadtteilen Soho und Greenwich Village.
»Wir sind durch die halbe Stadt gerannt, da kommt es darauf auch nicht mehr an, oder?« Hollys Augen funkeln, sie verschränkt die Arme vor der Brust. Ihr Tonfall klingt empört und eine Oktave höher als normal.
»Schrei nicht so laut«, fahre ich sie harscher als beabsichtigt an.
»Lasst uns nach Carl suchen, ihn um Unterschlupf bitten und die Mädchen dort verstecken. Klingt mir nach einem besseren Plan als zurück zur Brücke zu laufen.« Richard stellt sich schützend zwischen Holly und mich. Was bildet er sich ein? Ich habe weitaus mehr für sie geopfert als er! Glaubt er, ich könnte ihr gefährlich werden?
Ich balle die Hände zu Fäusten und mache einen Schritt nach vorne. Elijah schiebt sich zwischen mich und Richard.
»Komm' mal wieder runter! Was bist du für ein Tyrann, dass du dich so über die Wünsche deiner Freundin hinwegsetzt? Davon abgesehen ist es wirklich ungefährlicher, wenn wir sie erst einmal in Sicherheit bringen.«
Freundin? Glaubt er etwa, Holly und ich ...? Hmm. Der Gedanke gefällt mir. Ich entspanne meine Fäuste und werfe allen noch einmal einen düsteren Blick zu, ehe ich mich geschlagen gebe und ihrem Vorschlag zustimme. Wahrscheinlich ist es tatsächlich erst einmal das Beste, in der Umgebung nach einem Versteck zu suchen.
Zac, Elijah, Sarah und Jamie erklären sich bereit, ihren ursprünglichen Plan, ihre Freunde Patricia und Steve zu finden, weiter zu verfolgen, während Richard und ich die Mädchen zu Hollys ehemaligen Wohnhaus bringen wollen. Ehe wir aufbrechen, entferne ich die verklemmte Patrone meiner CZ 75 und hoffe, dass mir das Teil keinen weiteren Ärger bereiten wird. Noch eine Ladehemmung in einer brenzligen Situation kann ich nicht gebrauchen.
Wir verlassen das Parkhaus, wünschen uns gegenseitig noch einmal viel Glück und laufen weiter im Eiltempo den Broadway herunter. Holly geht voran und zeigt uns den Weg. Sie hält Shellys Hand, die sich große Mühe gibt, mit ihr mitzuhalten. Ich laufe hinter Richard und gebe unserer Gruppe von hinten Deckung.
Ich werfe einen Blick zurück über meine Schulter. Wir sind noch keine fünfzig Yards weit gekommen, als drei V23er aus einer Seitenstraße, nur einen Häuserblock hinter uns, auf die Hauptstraße stoßen und sich in unsere Richtung bewegen.
»Scheiße!«
Richard dreht sich zu mir um und zieht die Augenbrauen hoch. Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen, deshalb beschleunige ich meinen Lauf und ziehe mit Holly gleich, die ich kurzerhand in einen zerstörten Hauseingang schubse. Sie stößt einen Protestlaut aus.
»Los, rein da.« Sie gehorcht und bleibt still. Richard hat die Situation zum Glück sofort begriffen und stürzt seiner Tochter hinterher. Hoffentlich haben die Ordnungshüter sie noch nicht gesehen!
»Hey!«, ruft einer von ihnen von weiter hinten. Ich hatte keine Zeit mehr, mich zu verstecken. Sie haben mich bereits gesehen. Ich umklammere meine Pistole und bereite mich innerlich auf eine weitere Schießerei vor, doch keiner der V23er eröffnet das Feuer. Sie kommen im gemütlichen Trab auf mich zu.
Aus der Nähe bemerke ich, dass es sich um eine Frau und zwei Männer handelt. Sie bleiben unmittelbar vor mir stehen. An ihren Gürteln baumeln Pistolenhalfter, aber sie machen keine Anstalten, ihre Waffen zu ziehen.
»Zu welcher Einheit gehören Sie, 87-3?«
Ich benötige einen Sekundenbruchteil, um die Situation zu begreifen. Natürlich - ich trage noch immer den gestohlenen Anzug mit der aufgestickten Individuennummer.
»Ich bin allein unterwegs.«
Einer der Männer, ein etwa fünfundzwanzigjähriger Typ mit einem spitznasigen Mausgesicht, zieht die Augenbrauen hoch. »Das ist zu gefährlich. Kommen Sie mit uns, wir säubern den Bereich zwischen dem achtzehnten und zwanzigsten Bezirk.«
Er sagt es, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Keine weiteren Nachfragen, kein Misstrauen, keine Einwände seitens der anderen. Na toll. Ich werde unter keinen Umständen mit diesen Idioten gehen. Ein flüchtiger Seitenblick in die Nische, in der Shelly, Richard und Holly sich verstecken, verrät mir, dass sie sich ruhig und still verhalten.
Gerade spiele ich mit dem Gedanken, meine Pistole zu ziehen und die drei unliebsamen Störenfriede einfach zu erschießen, als noch mehr von ihnen aus einer Seitenstraße zu uns stoßen. Es sind fünf. Großartig. Sie halten ihre Waffen schussbereit vor den Körper. Gibt es hier irgendwo ein Nest? Mit dreien wäre ich fertig geworden, aber acht kann ich nicht erschießen, ohne das Magazin zu wechseln, denn ich habe nur noch fünf Schuss übrig. Dieser Umstand würde mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass mein wunderschöner Körper von einem der übrig gebliebenen Schützen durchlöchert werden würde wie ein Käse, sollte ich es trotzdem versuchen, denn auch die Reaktionsfähigkeit eines V23ers sollte man nicht unterschätzen.
Die Gruppe rennt auf uns zu. Drei Frauen, zwei Männer. In ihren schwarzen Anzügen sehen sie aus wie Ameisen, und irgendwie passt der Vergleich. Sie arbeiten unermüdlich für ihr Oberhaupt, das in seinem Nest hockt und sich über seine fleißigen Arbeiter amüsiert, die für das System ihr Leben geben würden. Bedauernswert.
»Zwei Straßen nördlich von hier liegen drei frische Leichen von Einwohnern«, bringt eine streng gescheitelte blonde Frau hervor, deren Individuennummer 14-5 lautet. Sie scheint außer Atem zu sein. »Die Bestien, die sie überfallen haben, sind noch in der Nähe. Wir benötigen Verstärkung. Sie sind schnell und unberechenbar.«
»Offenbar hält man sich im zwanzigsten Bezirk nicht an die Ausgangssperre«, fügt eine andere Dame ebenso tonlos wie die erste hinzu.
Die drei V23er, die mich angesprochen haben, nicken nur stumm, stellen aber keine Fragen. Das Mausgesicht wendet mir noch einmal den Blick zu. »Kommen Sie mit.«
Die Gruppe setzt sich in Bewegung und ich sehe mich vorerst gezwungen, ihnen zu folgen, wenn ich mein Leben nicht schneller verlieren möchte, als mir lieb ist. Ich sehe noch einmal in den Hauseingang, aber dort rührt sich noch immer nichts. Ich bin mir sicher, Holly und die anderen haben mitbekommen, was sich zwischen mir und den Mutanten abgespielt hat. Sie werden verstehen, dass ich noch ein paar Minuten benötigen werde, mich von der Gruppe abzusetzen. Ich hoffe, dass sie hier auf mich warten werden, aber sicher kann ich mir nicht sein. Verdammt! Ich möchte Holly nicht allein weitergehen lassen. Zum Glück ist ihr Vater noch bei ihr, obwohl ich bezweifle, dass er die beiden Mädchen ganz allein verteidigen könnte, sollte es zu einem weiteren Zwischenfall kommen.
Ich laufe der Gruppe hinterher und versuche, mich ein wenig zurückfallen zu lassen. Doch wenn ich geglaubt habe, unbemerkt entkommen zu können, habe ich mich leider getäuscht. Immer wieder dreht sich einer von ihnen zu mir um und ermahnt mich streng, schneller zu laufen.
Wir biegen in die Thompson Street im Stadtteil Soho ein. Schon von weitem sehe ich die drei Leichen der Städter, von denen der Mutant gesprochen hatte. Daneben liegen allerdings noch zwei, bei denen ich mir ziemlich sicher bin, dass es sich um Zombie-Acrai handelt. Die glühenden Augen des einen blicken weit geöffnet nach oben ins Leere. In seiner Brust befindet sich ein Einschuss, am Straßenrand sehe ich Patronenhülsen.
»Jemand ist hier gewesen!«, ruft einer der V23er von weiter vorne. Er hat kaum ausgesprochen, als ein Schuss fällt. Ein gurgelnder Schrei ertönt neben mir, eine der Frauen geht in die Knie. Wieder ein Schuss, diesmal kann ich seinen Ursprung lokalisieren. Ich reiße den Kopf in den Nacken. In einem der ausgehöhlten Fenster ohne Scheibe im zweiten Stock eines verfallenen Bürogebäudes sehe ich den Kopf von Jamie auftauchen. Er richtet die Pistole auf unsere Gruppe und feuert drei weitere Schüsse ab, einer hat ganz klar mir gegolten, doch ich bin im letzten Moment zur Seite gesprungen.
»Hey!«, brülle ich. »Nicht auf mich, du Idiot!« Ich trage zwar einen schwarzen Anzug, halte Jamie aber dennoch für intelligent genug, den Unterschied zu bemerken, zumal er nicht blindlings nach unten feuerte, sondern sich die Zeit genommen hat, auf mich zu zielen.
Das Gegenfeuer wird eröffnet, doch die Patronen der V23er prallen am Fensterbrett ab oder bleiben im Putz der Fassade stecken. Ich nutze das allgemeine Chaos, um das Mausgesicht mit einem kräftigen Schlag meines Pistolengriffs auf den Hinterkopf zur Strecke zu bringen. Natürlich bleibt die Aktion nicht unbemerkt. Einer der Mutanten beobachtet mich dabei. Erst reagiert er nur mit einem entgeisterten Gesichtsaudruck, dann zielt er mit seiner Waffe auf mich. Er schießt, trifft mich jedoch nicht, weil ich als Acrai einfach schneller bin als er. Mein Blick irrt wieder nach oben. Ich sehe direkt in die Augen von Jamie, doch seine Miene bleibt ungerührt. Er muss definitiv gesehen haben, dass meine Drehung nicht menschlicher Natur gewesen sein konnte. Toll. Ich habe mich verraten. Jetzt könnte ich beinahe verstehen, wenn er mit voller Absicht auf mich zielt.
In diesem Moment erscheinen die Geschwister Elijah und Sarah im Hauseingang der Ruine. Mit ein paar gezielten Schüssen schalten sie den Rest der V23er aus. Sie sind sehr gute Schützen, zumindest mit Sarahs Schießkünsten durfte ich vor der Sunset Mall schon Bekanntschaft machen. Binnen weniger Sekunden wird es still in der schmalen Gasse, die Schüsse und Schreie verhallen. Zu den fünf Leichen der Einwohner sind noch acht der V23er hinzugekommen. Das waren definitiv keine ausgebildeten Ordnungshüter gewesen. Kein Verlust auf der Gegenseite, eine magere Bilanz für die Mutanten. Vermutlich haben sie aus der Not heraus unausgebildete Arbeiter mit Waffen ausgestattet und nach Manhattan geschickt, um der Lage Herr zu werden. Na das ging ja wohl gründlich daneben. Ein wenig Schadenfreude halte ich für angemessen.
Elijah sieht mich mit kaltem Blick an. »Was machst du bei denen, Mann? Solltest du nicht auf die Mädchen aufpassen? Oder hast du die Seiten gewechselt?«
»Sie haben mich für einen von ihnen gehalten. Hätte ich den Anzug nicht getragen, hätten sie mich vielleicht überwältigt. Allein gegen acht erschien es mir mit einem Fünfermagazin ein wenig riskant.« Wenn ich geahnt hätte, wie schlecht sie zielen, hätte ich es vielleicht sogar versucht. »Richard und die Mädchen kommen zurecht, ich konnte sie in ein Versteck stoßen, ehe die V23er sie entdeckt haben. Glaube mir, ich wäre lieber bei ihnen geblieben.« Mein Blick zuckt wieder nach oben zum zweiten Stock, aber Jamies Kopf ist aus der Fensteröffnung verschwunden. »Und was macht ihr hier? Wolltet ihr nicht eure Freunde finden?«
»Wir haben Patricia und Steve in ihrem Wohnhaus nicht angetroffen«, sagt Sarah. »Zudem ist Zac verletzt, er wurde angeschossen. Er ist oben bei Jamie. Wenn er transportfähig ist, bringen wir ihn zu Hollys altem Wohnhaus. Es hat überhaupt keinen Sinn, weiter nach unseren Kontaktpersonen zu suchen. Die meisten haben sich irgendwo verschanzt, völlig verängstigt. In einer so riesigen Stadt gleicht es einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen.«
Ich nicke. »Kommt ihr allein zurecht?«
»Ja, keine Sorge.«
»Dann werde ich jetzt zurückgehen und nachsehen, ob Richard und die Mädchen schon bei Carl angekommen sind. Findet ihr den Weg dorthin?«
»Sicher«, sagt Elijah. »Ist nicht weit von hier, das Gebäude kenne ich. Mach dir um uns keine Gedanken.«
»Dann sehen wir uns dort.«
Sarah und Elijah nicken und verschwinden wieder im Hauseingang. Ich mache mich auf den Weg zurück zu der Stelle, an der ich Holly und die anderen zurückgelassen habe, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass sie dort geblieben sind. Ich kenne Holly zu gut. Sie wird Druck gemacht haben, schnell einen sicheren Hafen zu erreichen.