Читать книгу Bräutigam und Braut - Nataly von Eschstruth - Страница 6

Kapitel 3

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Die freudigen Überraschungen, welche jeder einmal im Leben kennen lernt, waren bisher für Gerda verdeckte Schüsseln geblieben, nun schienen sie es mit einem Schlage nachholen zu wollen, mit einem wahren Kanonenschlag, denn wie solch einer war die Wirkung des Briefes, welchen die Gesellschafterin der Frau van de Eskenboom soeben in Händen hielt.

Von Herrn Rösing.

Ein regelrechter Heiratsantrag.

Träumt sie? Äfft sie irgendein Fieberwahn? Ist es Ironie oder eine Art Aprilscherz, welche sich der reiche Mann mit ihr erlaubt?

Undenkbar.

Er ist Ehrenmann, im ganzen Land geachtet und bekannt.

In seiner ruhigen, ehrlichen Weise erklärt er ihr ja selber diesen unbegreiflichen Schritt, dass er sie, das mittel-, sang- und klanglose alternde Mädchen, all den vielen reichen, jungen und schönen vorzog, welche so sehr um seine Gunst buhlten, wie die Frau Konsul ihr erzählt hatte.

Friedrich Karl schrieb:

„Mein hochverehrtes liebes Fräulein! Wenn Sie sich genugsam über meine Kühnheit, Ihnen diesen Brief zu schreiben, gewundert haben, verzeihen Sie mir, bitte, alles, was darin steht. Wir haben uns kennen gelernt. Sie hörten wohl, dass ich reich und völlig unabhängig, aber auch ebenso allein und einsam in dem grossen, langweiligen Haus im Haag wohne. — Ich brauche eine Frau. — Ein Mädchen, welches wie Sie wohl im Anfang der dreissiger Jahre steht, bedarf ebenso notwendig eines Mannes, wenn sie kein Herz von Stein und Sinn für behagliche Häuslichkeit hat. — Das besitzen Sie, wie ich beobachtete. Ich bin kein Freund von langen Reden. Meine Freunde nennen mich einen verdrehten Kerl, wohlwollendere ein Original. Ich möchte schriftlich um ihre Hand anhalten und fragen, ob wohl im Laufe des nächsten Monats schon unsere Hochzeit sein kann, denn ich muss durchaus notwendig eine längere Reise nach den Kolonien antreten, und da könnten Sie derweil haushalten. Es gefällt mir so gut an Ihnen, dass Sie stiller und ernster Natur sind, für einen nervösen Mann ist solch schweigsames Einverständnis ein Labsal. — Halten Sie mich nicht für unhöflich; ich werde Ihnen gegenüber stets der rücksichtsvollste, generöseste Ehemann sein, welchen man sich denken kann. Äussern Sie Ihre Wünsche. Steht die Erfüllung derselben in meiner Macht, so sichere ich sie Ihnen hiermit zu.— Und nun überlegen Sie sich die Sache, — aber nicht zu lang, — Sie können sich denken, dass man gern klare Rechnung haben möchte; es ist Ultimo! — Ich küsse Ihre Hand und freue mich jetzt schön von Herzen, Sie bald als Braut begrüssen zu können!

Stets Ihr sehr getreuer

Friedrich Karl Rösing. (Datum.)

Ja, hier steht es; schwarz auf weiss. Ihre Schweigsamkeit und gefügiges Wesen sind dem überarbeiteten Mann sympathisch. Von Liebe schreibt er nichts, verlangt sie nicht und begehrt sie ebensowenig. Das ist ehrlich. Gerade diese rückhaltlose Offenheit gibt ihr Zutrauen zu dem wunderlichen Mann, welcher gewiss die vielen heiratslustigen Damen, Fangleine und Handschellen zum Ekel bekommen hat. — Muss ja auch einem Mann angst und weh werden, wenn er nur noch auf Vogelleim einherschwankt.

Ihm einen Korb geben? das wäre ja Wahnsinn!

Dem lieben Herrgott auf Knien danken, dass er es so unfasslich gut und gnädig mit ihr im Sinne hat.

Ja, auch daheim die Menschen gedachten es böse mit ihr zu machen, aber der Herr hat alles wohl hinausgeführt.

Sie braucht nicht zu überlegen. Sie antwortet umgehend, ebenso ehrlich und geradeaus, wie er, — setzt ihm ihre Verhältnisse auseinander und gelobt ihm, in steter Dankbarkeit für sein Wohl zu sorgen.

Und dann tritt sie abermals an das Fenster und blickt auf die Obstbäume im Garten, von welchen der Segen trieft, und welche im Frühling auch von so eisigen Stürmen geschüttelt worden sind wie sie, die Einsame, Verlassene.

Über uns allen hat eine Sonne nur auf die gebenedeite Stunde gewartet, wo sie als Glücksspenderin über uns aufgehen konnte!

Nun kam eine bewegte Zeit.

Im Hause Eskenbooms schlug die Nachricht von Fräulein Gerdas Verlobung wie eine Bombe ein, aber doch wie eine solche, welche man einem Brillantfeuerwerk entnimmt, um damit Salut zu schiessen. Herr Willem hatte nur anfänglich dem Duzfreund Rösing gegenüber etwas Lakonisches; er umarmte ihn wie einer, der ein böses Gewissen hat und einen falschen Verdacht gar zu gern wieder gut machen möchte.

Und Hottjepottje bekam extra eine halbe Leberwurst für den ungerechten Fusstritt, den er für den vermeintlichen Kirschendieb in Empfang genommen hatte.

Man feierte sehr schöne Verlobung: das Brautpaar stillvergnügt, mit gutem Appetit, Frau Eliza in strahlender Laune, für alle übermütig, was ihren Mann nun nicht mehr zu extravaganter Tischordnung veranlasste.

Gerda hatte ihre Verlobung dem Vater angezeigt, ohne näheres Kommentar über den Bräutigam, und gefragt, ob sie eine Hochzeitseinladung schicken solle?

Als Antwort kam ein Telegramm. Kühl und zurückhaltend. — „Haben uns gefreut, dass du versorgt bist. Reise unmöglich. Besten Glückwunsch. Freienfeld.“ —

„Um so besser!“ lachte Friedrich Karl ungeniert.

Die Hochzeit ward nicht im Haag gefeiert, sondern auf der Besitzung Rösings, einem idyllisch in der Nähe des Meeres gelegenen Landgut, welches der vielbeschäftigte Mann dadurch auch einmal kennen lernte, und welches auf Gerda einen besonderen Reiz ausübte. — So gern wie hier in der köstlichen Ruhe holländischer Behaglichkeit war sie noch nirgends gewesen; wenn ihr Gatte die Reise über See machte, hoffte sie längere Zeit hier in Nudgerhaf Aufenthalt nehmen zu können.

Im Haag wurden die Festlichkeiten nachgeholt, und Friedrich Karl konnte es voll Genugtuung konstatieren, dass ein verheirateter Mann lange nicht mehr so beansprucht bei Spiel und Tanz ist wie ein Heiratskandidat, und das gab ihm vollends ein Gefühl — so angenehm sicher wie bei einem Mann, welcher fürchtete, es gäbe nach dem Ball nur ein ungemütliches Büfett, und hört plötzlich, dass es zum Souper geht, mit vernünftigem „Beine unter dem Tisch!“

Welch eine glückliche Ehe!

Eins lebte nur für die Interessen des andern, — nie laute Worte, nie Uneinigkeit, nie Vorwürfe oder Klagen. Dabei keine Indolenz.

Theater, Konzerte, Reisen, — alles bot reiche Abwechselung, und das Gefühl, welches beide Gatten bei allem stets neu beseelte, war das einer gegenseitigen grossen Dankbarkeit.

Nur eins fehlte. — Zwar nur etwas ganz Kleines, — aber es gehörte doch zur Hauptsache. — Die Ehe blieb kinderlos.

Friedrich Karl war anfänglich recht unglücklich darüber, denn einen Erben für sein Geschäft und Geld hätte er doch ganz gern gehabt.

Wenn er aber nach Esten kam, wo fast alljährlich ein neuer, kleiner Flachskopf ein helles Juchhe! in die Welt schrie, dann rieselte es ihm doch kalt über den Rücken, und er eilte voll Grausen aus dem Bereich dieses Mordsspektakels, wo die Kinderstube törichterweise in das Wohnhaus eingebaut war!! Warum nicht abseits auf dem Hofe wie die andern Kückenstuben?

Warum so viel unnötige Trommelfelldefekte?!

Warum so viel Holderdipolder auf den Treppen, dass alle Vierteljahr neue Juteläufer gelegt werden mussten, wie der verblendete Vater noch voll höchsten Triumphes versicherte?

Und womöglich noch Zwillinge im Kinderwagen, eins mit dem Kopp nach hüben — und eins mit dem Kopp nach drüben! Solch schiebbare Storchennester deuchten Herrn Rösing denn doch Missbrauch an den guten Gaben Gottes.

Da tröstete er sich denn schnell und versicherte es auch seiner lieben Frau, dass solch ein Glück im Dutzend einen nervösen Mann zur lachenden und weinenden Verzweiflung bringen müsse!

Eines Tages aber stand Gerda so recht allein und wohl auch etwas wehmütig in Nudgerhaf auf der weinumwachsenen Veranda und harrte auf die Rückkehr ihres Gatten, welchen eine Depesche zur Beerdigung seiner Kusine gerufen hatte.

Seufzend hatte er sich in das Unvermeidliche gefügt.

Frau Nina Rösing war Witwe, lebte mit ihrem Kindchen in einem Sanatorium und hatte niemand mehr auf der Welt, dem sie ihr Testament hinterlassen konnte, als ihrem einzigen Anverwandten Friedrich Karl.

Es war im Juni, die Rosen blühten, und die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht.

Auf der Chaussee rollte ein Wagen, dann knirschte der Kies unter eiligen Schritten, und als Gerda von ihrer Handarbeit aufblickte, sah sie ihren „Hausherrn“ unter den hohen Lindenwipfeln daherkommen.

Aber nicht allein.

Hinter ihm kam eine hohe, knochige Holländerin im Nationalkostüm, die trug auf dem Arm ein kleines Mädchen.

„So, Gerda — da bin ich wieder — und wie du siehst, habe ich mich verdreifacht! — Da ist Julie, die Amme von dem kleinen Waisenkind, welches nirgends mehr ein Plätzchen hatte, wo es bleiben konnte. Weil es bei uns nun doch ein bisschen reichlich still in den letzten Jahren geworden ist, dachte ich, es ist ein ganz hübsches Geburtstagsgeschenk für dich, Frauchen! — Auf ein paar Treppenläufer kommt es uns ja nicht an, — na und so zwei winzige Füsschen und solch ein Groschensmäulchen machen nicht viel Raddau! — Komm mal her, kleen Poppje, auf meinen Arm! Siehst du, Gerda, es fürchtet sich nicht vor mir, schreit auch nicht, ist sehr lieb und artig! Und nach seiner alten Familienchronika ist es getauft: Jehovana Lya! — Schöner Namen, was? — Na — nimm’s hin! Ich schenke es dir, liebe Frau, und hoffe, dass es uns, wenn wir alt — oder besser noch älter geworden sind, all den Sonnenschein der Jugend wieder ins Haus trägt!“

Wie ein Zittern der Aufregung und des tiefsten, wehmütigsten Entzückens ging es durch die Seele der einsamen Frau. Sie trat an die Seite des Gatten und blickte auf das Kindchen nieder, welches mit grossen, wundervollen Blauaugen so sanft und geduldig wie ein kleiner Engel zu ihr aufschaute.

Ein blasses, zartes Gesichtchen, umrahmt von lichtblonden Löckchen, dass Gerda das Lied einfiel: „Die Sonne lag auf ihrem Haar — als sei sie dort zu Haus!“

„Willst du zu mir kommen, Jehovana Lya?“ fragte sie freundlich und hob die Arme nach der Kleinen!

Einen Augenblick ein ängstlich scheues Forschen in dem süssen Gesichtchen, — dann reichten die Händchen verlangend nach der fremden Frau, und Friedrich Karl sagte mit einem Seufzer der Erleichterung und höchsten Genugtuung: „Siehste? Sie will! Na, Mäuschen, halt dich mal fest an ihr! Da sitzest du weich und warm im Nestchen!“

Gerda küsste das Kind, und obwohl ihr Wesen ebenso besonnen und ruhig blieb wie zuvor, war es ihr doch plötzlich, als habe sich der Himmel zum zweitenmal über ihr aufgetan, um eine Botschaft der Liebe zu ihr herabzusenden.

Ein neues Leben tat sich ihr auf.

„Ja, sie soll mein eigen sein!“ nickte sie feierlich: „Kleine Jehovana Lya — hast wieder eine Mutter gefunden!“

Das empfand das Kind gar bald in allem Guten, denn Frau Rösing hatte viel freie Zeit, und die widmete sie nun alle ihrer „Einzigsten“! Leib und Seele wurden treulich gepflegt, aber es war unvermeidlich, dass ein so zartes Körperchen in seiner Eigenart beharrte, denn obwohl Jehovana Lya am liebsten in Nudgerhaf in wohliger Freiheit bei viel köstlicher Milch, Butter und Eiern und allem, was sonst einem Kinderschnäbelchen behagt, aufwuchs, blieb sie doch so zierlich und schlank und rank wie eine Elfe, und wenn auch die grossen Vergissmeinnichtaugen sehr heiter in die Welt lachen konnten, blickten sie doch oftmals so tiefinnerlich, als sei ein Stück Himmel in sie hineingesenkt!

Die Zeit eilte dahin und erfüllte sich an Friedrich Karl Rösing.

Abermals trieb ihn das Pflichtgefühl, wie so oft schon, hinaus in die Kolonien, und als Gerda ihn bereits auf der Heimreise wähnte, traf im Haag die erschütternde Nachricht ein, dass der prächtige holländische Passagierdampfer „Oranien“ auf der Rückkehr von Sumatra, nachdem er noch verschiedene Häfen angelaufen, den heimtückischen Stürmen auf der Höhe von Biscaya zum Opfer gefallen. — Das Unglück sei nachts geschehen und derart plötzlich gekommen, dass von den Passagieren, so viel bis jetzt bekannt, nur ein kleiner Bruchteil gerettet werden konnte.

Voll ängstlicher Sorge harrte Frau Gerda auf die Bestätigung solcher Hiobspost, und als dieselbe tatsächlich amtlich bekanntgegeben wurde und auch die Liste der Verunglückten den Namen ihres Gatten aufwies, musste sie sich wehen Herzens und in aufrichtiger Trauer um einen Mann, der ihr nur Gutes und viel Freundliches erwiesen, in das Unabänderliche fügen, dem grossen Geschäftsbetrieb fortan allein vorzustehn.

Wieder einsam und verlassen im Leben, wenn nicht die kleine Jehovana voll kindlichster Zärtlichkeit an der Pflegemutter gehangen hätte, der wunderliebe Sonnenschein in all den trüben Tagen, welche die sowieso schon einsiedlerisch beanlagte Frau noch weltscheuer wie zuvor machte. Nach der vorgeschriebenen Frist ward das Testament Friedrich Karl Rösings, welches er anlässlich seiner Verheiratung gemacht, eröffnet.

Dasselbe nannte seine Gattin Gerda geborene Freienfeld zur Universalerbin mit unbeschränkten Rechten, — ehelich geborenen Kindern ward bis zum Ableben der Mutter eine hohe Rente ausgesetzt, das Gut Nudgerhaf sollte als eine Art Familiensitz Allgemeineigentum sein, um jedem Mitglied der Rösings bis zu den Enkelkindern des Erblassers herab, eine gesicherte Wohnung oder Sommeraufenthalt zu bieten.

Dieser letzte Wille war sehr klar und kurz gefasst, und da der Verblichene keine Leibeserben hinterliess, ging das grosse Vermögen in unbeschränkten Besitz mit freiem Verfügungsrecht an das Weib des Verewigten über.

Überseeische Geschäfte erfordern viel Kraft und Wissen, und die Freunde Friedrich Karls, welche es für ausgeschlossen hielten, dass eine so welt- und handelsfremde Frau derartigen Betrieb leiten könnte, schlugen ihr vor, das Geschäft in Aktiengesellschaft umzuwandeln, um so mehr, da ja doch kein Sohn da sei, später das Erbe des Vaters anzutreten.

Gerda überlegte nicht lange.

Schon das bedeutende Privatvermögen hatte reichlich genügt, ihr und Jehovana Lya eine glänzende Existenz zu sichern. Nudgerhaf kam noch dazu; da war es entschieden — schon im allgemeinen Interesse des Exports und Imports — richtiger, wenn sie das Geschäft in tatkräftigere Hände übergehen liess.

Sie wandelte es daher in eine Aktiengesellschaft um, liess sich ihren Anteil auszahlen und behielt von all der früheren Herrlichkeit im Haag nur das grosse, altehrwürdige Patrizierhaus, in welchem sie gewohnt, in ihrem Besitz.

Jehovana Lya war auf ihrem Schoss eingeschlafen, nachdem sie voll jauchzenden Entzückens der Mutter zum erstenmal ganz selbständig aus der kleinen deutschen Kinderfibel vorgelesen.

Sie hatten dann noch ein wenig geplaudert, von dem lieben, guten Vater, welcher nun droben in dem Himmel wohnt und gewiss allezeit auf sie herabschaut, ob sein Blondköpfchen, sein kleiner Liebling auch fleissig Deutsch lerne, brav und fromm sei und bald die schöne Reise in die Heimat, auf welche sich alle schon so freuten, antreten zu können!

Ja, die Reise in die Heimat!

Gerda sehnte sich danach, sie nach so langer Zeit wiederzusehn.

Sie hatte nun ihre Pflichten hier in dem fremden Land erfüllt, sie war frei und einsam, was Wunder, wenn sie gern einmal nach Deutschland, dem herrlichen, alten zurückkehren möchte!

Draussen fegte der kalte Seewind den Schnee durch die Strassen, es dämmerte in dem niederen dunkelgetäfelten Zimmer, und Jehovana Lya wurde von dem Kuckuck aufgeweckt, welcher aus seinem geschnitzten Holzhäuschen heraus meldete, dass es Zeit zur Nachmittagsvesper sei.

Die sehr junge Erzieherin, Fräulein Betty, stand auch schon auf der Schwelle, die Kleine abzuholen, und als Frau Rösing allein zurück blieb, da flogen ihre Gedanken immer sehnsuchtsvoller nach der Heimat, und kurz entschlossen stand sie auf und setzte sich an den Schreibtisch nieder.

Nur ein paar Worte an den Vater! Ihm nur mitteilen, dass sie den Gatten hergeben musste und gern einmal, wenn auch nur zu kurzem Besuch, in das Vaterhaus zurückkehren möchte.

Der Rechnungsrat hatte sich zwar nie mehr um seine Tochter bekümmert, ebensowenig die Stiefmutter, — nur einmal war eine Postkarte gekommen mit dem stolzen „Aufschrei“ der Mama: „Kannst uns gratulieren, Gerda! Papa ist eben Oberrechnungsrat geworden!“

Das hatte sie auch getan, — auf Wunsch ihres Mannes aber nur telegraphisch, denn Herr Rösing empörte sich nicht zum erstenmal über die Lieblosigkeit, mit welcher sein Weib aus dem Elternhaus gestossen war. Und doch! Jetzt, in aller Trauer, mit dem weichen, versöhnungswehen Herzen! Da vergass sie alles, was zwischen ihnen lag und schrieb die wenigen Worte, dass sie gern im Lauf des kommenden Sommers mit Kind und Kegel die Heimat wiedersehen möchte!

Sie brauchte nicht lange auf Antwort zu warten.

Ihre Stiefmutter schrieb auf schwarzgerändertes Papier:

„Liebe Gerda! Wollte Dir gerade schreiben, als Dein Brief kam. Papa ist nun doch noch in Davos gestorben, nachdem sein langes Siechtum den kleinen Rest unsres Vermögens verschlang und mich sogar mit Schulden zurück liess. Hoffentlich geht es Dir nicht auch so, — muss Dir sonst im voraus sagen, dass ich nicht helfen kann. Will mir nun mein Brot allein verdienen, wie gut, dass ich die Jahre über mich so gründlich für die Laufbahn einer Bühnensängerin ausbilden konnte! Natürlich im Ausland, — hier hängt mir die Geheimratstochter zu sehr an. Was ich mit Amadeus anfangen sollte, machte mir anfänglich Kopfzerbrechen. Einen Jungen, der in die Schule muss, kann ich nicht dauernd in der Fremde mit herumschleppen, — stört ja auch rasend. — Sein Onkel und Pate Amadeus, welcher ihm ja zur Taufe das so ‚generöse‘ Geschenk seiner ständigen Freundschaft machte, kann den Kleinen zu sich nehmen und ihn erziehen, solch unnützer Hagestolz hat ja sonst nichts weiter auf der Welt zu tun. Ein wenig ‚überspahnig‘ soll der nunmehrige Herr Major allerdings sein, — macht nichts, — mein Sohn ist ein lieber, artiger und kluger Junge, er wird sich schon in ihn fügen lernen. Hoffentlich fordert der teure Onkel nicht eine Pension für den Kleinen — ist ja erst acht Jahre alt! — Das wäre ein bittrer Schlag in das Almosen, welches ich als Witwenpension beziehe, — kann so schon nicht damit fertig werden! — Also, liebe Gerda, es tut mir recht leid, dass Du auch den Krepphut aufsetzen musst! Aber denk’ nur immer, dass die goldene Freiheit auch nicht zu verachten ist! Sonst weiss ich Dir keinen Rat, Hilfe erst recht nicht. Ich reise schon im Laufe der nächsten Woche ab, kommst vor verschlossne Türen, wenn Du etwa überraschen willst, denn ich löse hier alles auf. — Adio! Deine verwitwete Frau Oberrechnungsrat

Freienfeld! —

Die Leserin starrte lange regungslos auf den Brief nieder.

Dann strich sie über die Stirn: „Vater — Mutter — Schwestern — Brüder — hab’ ich auf der Welt nicht mehr—“ tönte es wie eine wehmütige Erinnerung in leisem Klang durch ihren Sinn, — und sie faltete die Hände, trat vor das Bild ihres Mannes und flüsterte: „ja, dann wär’s in sel’gen Höhn wohl das schönste Wiedersehn!“

Und wieder zogen die Jahre dahin. Mit Vorliebe weilte Gerda auf Nudgerhaf, für dessen naturschöne Einsamkeit auch Jehovana Lya eine innige Zuneigung fühlte.

Den Winter über lebte die kleine Familie in der Stadt, damit das heranwachsende Kind in allem gebildet werden konnte, was Kunst ins landläufige, auch für Frauen, „mundgerechte“ Wissenschaft war.

Das ernste Wesen der Mutter und ihr Hang zur Einsamkeit teilte sich jedoch dem frühreifen Kinde gar bald mit, und da Gerda, je älter sie wurde, auch desto schärfer urteilte, so sprach sie der Pflegetochter manche Ansicht aus, welche wie Schatten, tiefe, nächtige Schatten auf all den Glanz und Schimmer ihres jungen Lebens fielen.

Wie viel Heuchler, wie viel Egoisten, wie viel kalte, herzlose Zahlenmenschen kreuzen täglich unsern Weg! Wie viele von ihnen drängen sich ungerufen heran, Unruhe und Qual in den Frieden ihrer Mitmenschen zu tragen.

Je mehr Jehovana Lya heranreifte, desto angstvoller beobachtete es Gerda, wie schon jetzt viel feine Netze und Fädchen gesponnen werden sollten, das Goldfischchen beizeiten einzufangen.

Da gab es kein besseres Mittel, als dem Kind die Augen zu öffnen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, und dass ein reiches Mädchen oft die Ärmste von allen wird, wenn sie nur um des Geldes willen den Freier findet.

Jehovana Lya hörte aufmerksam zu, und mit der schwärmerischen Übertreibung des Backfischchens witterte sie bald in jedem Tanzstundenverehrer nur den Harpagon, welcher sich beizeiten nach einem gespickten Portemonnaie umsieht. Immer scheuer zog sie sich von ihren Jugendgespielen zurück, und da bald nur ihre Mutter und die Erzieherin, welche nun schon seit vierzehn Jahren ihre Schritte lenkte, der einzige Umgang für sie bildeten, so sehnte sie sich kaum noch aus Nudgerhaf heraus, um so mehr, als Fräulein Betty Zoorick, die noch recht jugendliche Gouvernante, nach Lektüre des Sherlock Holmes sich selber zum wahren Detektiv ausbildete und die Grossstadt als Lasterhöhle und Sündenpfuhl verabscheute, in welchem niemand — auch dem Besten nicht mehr zu trauen sei.

Jehovana Lya ward auch in der kleinen Dorfkirche zu Nudgerhaf konfirmiert, und als sie vor dem Altar stand, in dem schlichten weissen Kleid, das Köpfchen wie von goldenem Heiligenschein umgeben, sehnsuchtsvoll und treuinnig die blauen Augen zu ihrem Herrn und Gott erhoben, da hatte die Stimme des Pfarrers einen gar seltsamen Klang, als er sie mit den Worten segnete: „Siehe, ich komme bald!“

Wie ein Engel, aus seligen Gefilden zur Erde herab gesandt, stand Jehovana Lya vor ihm, und als sie ihr Glaubensbekenntnis sprach, bebte es gleich wie Heimweh durch die ernsten Worte.

Abermals vergingen ein paar Jahre.

Gerda kränkelte.

„Sie müssen einmal heraus, gnädige Frau!“ versicherte der Arzt. „Andere Luft, andere Eindrücke! Es wird Ihnen allen gut tun! Fräulein Jehovana Lya sieht mir auch zu ätherisch aus! Die Landluft allein tut hier nicht ihre Schuldigkeit! Wir haben den schönen Rhein vor der Tür von Holland! — Fahren Sie einmal bis Wiesbaden, bleiben Sie dann ein paar Wochen in Ems oder Assmannshausen, — ein wenig kreuz und quer in Gottes schöne Welt hinein! Das wird Wunder an Ihnen allen tun!“

„Ach ja, Mama! Damit ich doch einmal meine deutschen Sprachkenntnisse verwerten kann!“ nickte Jehovana Lya voll seltenen Interesses, und auch das lustige Fräulein Betty stimmte eifrig zu: „O gewiss, der Rhein muss schön sein, ‚Am Rhein, am Rhein, da möcht’ ich leben!‘ und wenn man ja auch gerade auf Reisen sehr die Augen offen halten muss — — mit den Taschendieben fängt es an! — nun, so denke ich, sind wir drei Damen doch Manns genug, um uns unserer Haut zu wehren!“

Gesagt, getan. — Die Koffer wurden gepackt, und man reiste ab.

Der denkbar grösste Komfort und alle Bequemlichkeit gingen mit.

Nur ungern wagte man einen Schritt vom Wege, aber einmal eine Burg in der Nähe sehen — das musste doch unter allen Umständen riskiert werden.

Der Drachenfels! — Es klingt zwar grausig — aber in Köln hat man eine wundervolle Aufführung des Siegfried gesehen und gehört, denn selbst die sehr kritische Mama versicherte bei dem Anblick des blonden Drachentöters, „endlich mal ein Säuger, welcher auch in seinem Äussern den jungen Gott markiert! Mein lieber, seliger Friedrich Karl sagte so oft, ‚da lümmelt sich wieder so ein Hinterwäldler auf der Bühne rum und gleicht mehr einem unabgeführten Jagdhund als einem Sohn des Baldur!‘ — Diesmal wäre er sicher mit dem edlen Spiel und Äussern zufrieden gewesen!“

Jehovana Lya sah sehr nachdenklich aus. „Wie schade, dass es junge Götter nur noch auf der Bühne gibt! Den Menschen ist ja allen nicht zu trauen, sagte Mutter, — da müsste also wirklich schon ein Sonnengott kommen, welchem ich aus wahrer Liebe und mit vollster Überzeugung mein Herz schenken könnte!“

Bräutigam und Braut

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