Читать книгу Von Gottes Gnaden - Band I - Nataly von Eschstruth - Страница 6

III.

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Wigand trat an die Seite des alten Herrn und stützte sich mit beiden Händen auf die Sessellehne. Er richtete sich mit kurzem, militärisch strammem Ruck empor, was er immer that, wenn er einen Entschluss gefasst und denselben zur Ausführung bringen wollte.

„Neues, lieber Onkel? du möchtest gern etwas Neues erfahren?“ fragte er in seiner ruhigen Weise, „nun, so wäre ich wohl in diesem Augenblick der geeignetste Mann, um es dir zu erzählen.“

„Du, mein Junge? Schmökerst du etwa heimlich Zeitungen?“

„Ich las sie regelmässig, Onkel, denn ich möchte kein Barbar werden, der hier in der Heide vollkommen verwildert. Ich bin jung und kehre einst in die Welt zurück, da darf ich ihr nicht fremd werden.“

„Natürlich, natürlich, vergesse immer mal den Unterschied zwischen dir und mir. Also du willst mir erzählen? Um so besser, so kann ich meine Augen schonen.“

„Ich spreche nicht von Zeitungsneuigkeiten, lieber Onkel.“

„Potz Wetter! gibt’s noch private Nachrichten?“

„Ja, dieser Brief enthält sie.“

„Ah, richtig, der eingeschriebene Brief.“

„Welcher für euch alle wohl ebenso interessant sein dürfte, wie für mich.“

Die Damen blickten jählings auf. Erika trat neben den Sprecher und neigte das Köpfchen neugierig auf das Couvert nieder, der Oberst aber schnellte in seinem Sessel zurück und seine Stirn umwölkte sich.

„Hollah, was gibt’s? Wie sollten mich noch Dinge interessieren, die von draussen kommen?“

„Der Absender des Briefes ist Geheimrat Eikhoff.“

„Eikhoff?“ — Koltitz rieb sich die Stirn. „Dein Vormund? Was will er?“

Wigand setzte sich nieder. „Du kennst ihn als vortrefflichen Mann und schätztest ihn, so viel ich weiss, immer sehr hoch; auch Onkel Eikhoff hielt stets grosse Stücke auf dich.“

„Braver, anständiger Kerl.“ Der Oberst nickte nachdenklich vor sich hin; „vergesse es ihm nie, dass er dich armes Wurm dermalen so liebevoll bei sich aufgenommen. War vielleicht etwas Egoismus dabei. Du solltest seinem eigenen, nichtsnutzigen Schlingel als nachahmungswertes Exempel vor die Augen gestellt werden.“

„Nein, Onkel. Was Eikhoff an mir gethan, geschah ohne jeden Hintergedanken und was Joël anbelangt, so ist er viel verleumdet worden.“

„Na, das mag sein, wie’s will, auf jeden Fall hattest du einen vortrefflichen Einfluss auf den Bengel und wenn Eikhoffs dich als mittellose Waise aufnahmen und erzogen, so hat ihnen diese Barmherzigkeit reiche Früchte getragen. Nun aber — Luft, Clavigo! Was will der Alte von dir?“

Koltitz rückte erregt auf seinem Stuhl hin und her, es war, als beunruhige ihn etwas, als fürchte er, der Brief könne vielleicht Anrechte an den Pflegesohn geltend machen, welche ihn heimberiefen.

„Das einfachste wäre es, lieber Onkel, ich lese den Brief vor.“

„Gut, gut, aber ’raus mit der wilden Katze, ich hab’s Warten verlernt.“

Wigand schlug den Brief auseinander. Es waren mehrere Bogen, welche die dicken, energischen Federzüge des Geheimrats zeigten. Er las:

„Mein lieber, braver Sohn!

Bist es nicht gewohnt, so lange Episteln von dem schreibfaulen Onkel zu bekommen, darum wirst du schon der Aussenseite dieses Briefes ansehen, dass es sich um etwas Besonderes handelt. Lass mich ganz aufrichtig sein und zum Verständnis der Sache ein wenig zurückgreifen auf Dinge, die dir vielleicht bekannt sind, die du vielleicht in jugendlicher Harmlosigkeit ehemals übersehen hast. Es betrifft Joël. Du kennst den Jungen, stehst ihm nahe wie ein leiblicher Bruder, hast Freud und Leid von Kindheit auf mit ihm geteilt. Er ist ein absonderlicher Mensch, nicht schlecht, nur ein wenig leichthin, spielt sich absolut auf den Genialen, Gottbegnadeten, will nichts Reelles leisten, sondern bummelt als der Sohn wohlhabender Eltern, in ewiger Ekstase, aber niemals wahrer Begeisterung, durch sein Künstlerdasein dahin. Es ist die Schuld meiner guten Frau. Elly war von jeher eine etwas überspannte Natur, voll Phantasie und hochgradige Schwärmerei für alles, was Kunst, namentlich Musik streift. Noch ehe Joël geboren, war es bei ihr beschlossene Sache, das Kind müsse etwas ganz Aussergewöhnliches werden. Als der Junge in ihren Armen lag, seufzte sie mir als erstes zu: Ach, August, mein Sohn muss einmal ein zweiter Wagner werden.“ Das wurde fixe Idee. Der Bengel wurde von Kindesbeinen an von der Mutter auf den Künstler gedrillt, und je mehr ich dagegen wetterte, desto eigensinniger verschanzte er sich hinter Mama, welche ihm so herrliche Dinge von seinem künftigen Ruhm erzählte. Na, das Elend war besiegelt, als der Schlingel in der That ein wenig Talent für Musik zeigte. Unsinn, war gar nicht der Rede wert. Aber Elly verstand es aufzubauschen und elektrisch zu beleuchten. Jede Tonleiter, die er klimperte, war etwas Grossartiges. Der Junge selbst wurde natürlich ganz verdreht bei diesem ewigen Weihrauch, den die verblendete Mutter dem Zukunftsgenie schon in den Windeln streute. Er spielte sich auf den Musikenthusiasten auf, wollte nicht lernen, trieb sich in allen Konzerten herum, kurzum die Saat trug Früchte. Du hast teilweise die Kämpfe mit erlebt, Wigand, du kennst auch die Nervenkrämpfe, welche Elly mit virtuoser Pünktlichkeit bekam, wenn ich energisch wurde; das hat mich endlich mürbe gemacht. Ich willigte ein, dass Joël Musik studierte. Vier Jahre lang hat er nun Konservatorium und Musikschule unsicher gemacht, er und Elly sind auch von seiner Unsterblichkeit vollkommen überzeugt, — ich nicht. Er spielt, wie eben Tausende spielen, recht hübsch, recht genial mit wuscheligen Locken und mächtiger Aktion in Armen und Händen, — aber gottbegnadet ist das nun und nimmermehr. Er komponiert auch. Mutter findet es zauberhaft und himmlisch, die Leute, welche gute Diners bei uns essen, applaudieren sich die Hände wund, weil sie dann bald wieder eingeladen werden, und die Lehrer, welche die Flamme des Genius hinter der Stirn meines Sprossen nähren, werden enorm honoriert und versichern infolgedessen alles, was die verblendete Mutter hören will.

Vier Jahre lang habe ich mir den Schwindel mit angesehen und massenhaftes Geld zum Fenster hinausgeworfen, nun endlich riss mir die Geduld. Ich wollte Erfolge sehen.

Die Erfolge bestehen in ein paar Dudeldidums, welche bildschöne Titel führen und merkwürdig an einen gewissen, ausländischen Finanzminister erinnern; Anleihen, lauter Anleihen. Ein solches Ding hat er auch „Ouverture“ (zu einer noch nicht ersonnenen Oper) getauft, und rührte mich hauptsächlich die Thatsache daran, wie hörbar der junge Künstler alter Meister gedenkt. Na, Schwamm darüber, lieber Wigand. Wie gesagt, es steckt absolut kein Genie von Gottes Gnaden hinter dem Jungen; ist alles nur Mache und mühselig zusammengeklexte Unsterblichkeit.

Um hie und da mal ein paar Phantasien und Tonleitern zu hören, ist mir dieser Kunstsport zu teuer, es muss ein Ende gemacht werden, und wenn Elly Tag und Nacht ihre Krämpfe haben sollte, einmal wird sie die Anstrengung schon satt bekommen. Da der berühmte Sohn bereits gewaltig verbummelt ist, ausserdem nichts gelernt und kein Examen bestanden hat, um einen Beruf zu ergreifen, bleibt nichts anderes übrig, als ihn Schollenhüpfer (pardon, lieber Junge) werden zu lassen. Ich will ihm seinerzeit ein Gut kaufen, damit der Bengel festsitzt, vorher aber soll er tüchtig und praktisch lernen. Damit kommen wir endlich auf des Pudels Kern. Du weisst, dass ich grosse Stücke auf dich halte, Wigand.

Dein Einfluss auf Joël war stets ein vorzüglicher, dein musterhaftes Vorbild muss auch ferner auf den Jungen einwirken, wenn noch etwas aus ihm werden soll.

Auch den biedern alten Koltitz achte ich sehr hoch und sehe auch in ihm gerade den richtigen Mann, welcher den allzu weltlich gearteten „Künstler“ zur Vernunft bringen würde. Also kurz heraus, ich möchte meinen Schlingel gern als Volontär zu euch nach Ellerndörp schicken. Wollt ihr ihn? Frage Koltitz und schicke mir bald Bescheid.

Auf dein Wort musst du mir versprechen, dass du den Jungen stramm herankriegst, tüchtig gedrillt und gezwiebelt muss er werden, damit mal die Flausen unter den Künstlerlocken ’rausgeklopft werden.

Das wird ihm gut thun, „fern von Madrid“, ohne Oper, Austernlokale, Café chantant und elegante Weiber welche dem hübschen Bengel vollends den Kopf verdrehen. Hübsch ist Joël nämlich, sehr hübsch sogar, leider Gottes.

„Na, mein wackerer Wigand, nun ist’s gesagt, und nun bitte ich um offene und ehrliche Antwort, ob ihr den Herrn Volontär zum April haben wollt, denn bis dahin habe ich ihm noch Galgenfrist gegeben. Bekommt er bis Ostern eine anständige Stellung als Kapellmeister, Dirigent oder so etwas, von welcher er später mal leben kann, bon, dann mag er in Gottes Namen unsterblich werden, andernfalls bin ich von Stahl und Eisen und stutze dem Musenjüngling die Götterschwingen.

Und somit Gott befohlen. Grüss mir die ganze liebe Familie Koltitz und lege ein gutes Wort bei ihr für deinen Pflegebruder ein. Du selber aber, mein braver, lieber Sohn, sei in alter Liebe umarmt, von deinem getreuen

Pflegevater Eikhoff.

N. S. Meine verdammte Gicht ist wieder toller wie je, bin ein verschrumpfter, krüppliger Invalide. Tante Elly jung, schön, nervös und viel beschäftigt, wie immer, ihr Sohn ... siehe oben.“ — — —

Wigand schwieg und blickte auf, direkt in Erikas Augen. Sie leuchteten — wohl aus Vergnügen über die Nachschrift. Harmlos wandte er sich zu dem Oberst: „Ich habe geredet, lieber Onkel, und harre deiner Entscheidung!“ lächelte er in seiner gutmütigen Weise. „Was der Vater über seinen Einzigen schreibt, braucht ihr nicht allzu wörtlich zu nehmen. Der Geheimrat ist ein Mann, welchem nichts unverständlicher ist, wie Kunst und Genialität. Ob Joël wirklich so wenig begabt ist und so mässiges leistet, wie er behauptet, kann ich nicht beurteilen, da ich ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen; ehemals war er ein seelensguter Junge, welcher nur an der leidenschaftlichen Sucht krankte, berühmt zu werden.“

„Ich kenne Elly“, nickte Frau Henriette nachdenklich, „und glaube es dem Geheimrat gern, dass ihre Eitelkeit den Keim dazu in die Seele des Sohnes legte.“

„Verrückte Weiber! Weiss der liebe Gott, was sie in ihrem Grössenwahn für Unheil stiften.“ Koltitz blies grollend ein paar blaue Dampfwolken und blickte starr vor sich hin. „Aber dass der Alte gerade Ellerndörp zur Besserungsanstalt für den Schlingel ausgesucht hat! Ich — bah — ich! was soll ich wohl für guten Einfluss auf solch einen Allerweltsnarren ausüben!“

Erika legte schmeichelnd den Arm um den Nacken des Oberst. „Papachen, wer weiss, warum es das Schicksal so fügt“, rief sie eifrig. „Wigand sagt, dass der Geheimrat kein Verständnis für Kunst und Musik habe. Denke, wenn er dem unglücklichen jungen Mann unrecht thut, wenn er in seiner Verblendung ein wirkliches Genie, ein gottbegnadetes Talent unterdrückt. Du verstehst so viel, so sehr viel von Musik, Väterchen; denk doch, welch eine herrliche That, wenn du in Joël dennoch einen wahren Künstler entdeckst und ihn, kraft deiner Fürsprache, wieder seinem echten Berufe zuführst.“

Koltitz blies noch dichtere Rauchwolken. Er sah sehr geschmeichelt aus. „Kleine Hexe du“, schmunzelte er, „ich glaube gar, du willst mich zum Kunstmäcen stempeln. Unsinn, mein alter Schädel fasst nichts mehr auf.“

„Väterchen!“

„Schmeichelkatze!“ Er schmunzelte noch mehr. „Ich werfe den Kerl zur Thür hinaus, dass er Hals und Beine bricht.“

„Maus, sei nicht so niedlich!“

„Wie herrlich wird das sein, wenn Joël uns jeden Abend aus deinen Lieblingsopern vorspielt. Dass er sehr gut spielt, gesteht ja selbst sein Vater zu.“

„Wenn man den Lümmel wenigstens mal ansehen könnte, bevor man sich mit ihm copuliert.“

„Kannst du ja, Väterchen. Lass sein Bild kommen.“

„Damit kann ich sogleich aufwarten. Er schickte mir vor wenigen Wochen die neueste Aufnahme.“

„Mag ein guter Hansaff sein.“

„Sehr hübsch wäre er, schreibt der Geheimrat.“

„Der alte Knasterbart scheint ebenso verblendet und vernarrt in den Luftikus, wie die Frau Mutter.“

„So hole ich das Bild.“

„Schnell, schnell.“

Wigand schritt lächelnd zur Thür. Er war kein Diplomat und hatte sich entsetzt vor der Aufgabe, welche ihm der Pflegevater gestellt; jetzt atmete er hoch auf. Seine Angelegenheit lag in den besten Händen, die Tante und Erika warfen sich zum Anwalt seines armen Joël auf. Und welch trefflichen Gedanken hatte die Kleine wieder entwickelt.

Gott im Himmel, wenn Eikhoff seinen Sohn ungerechtfertigterweise aus den Bahnen riss, welche ihm von Gott bestimmt waren. Kein entsetzlicheres Los, als ein Künstler sein, welcher von den Henkersknechten des Realismus und der nüchternen Prosa zu Tode gehetzt wird. Ein unverstandenes Streben und Schaffen, — grauenvoll!

Wigand hatte stets eine treue, zärtliche Liebe für den älteren Vetter empfunden. Er, der nüchterne, talentlose Mann, welchem es wie ein Wunder erschien, wenn Menschenhände einem so unbegreiflichen Instrument wie Klavier und Geige die süssesten Melodien entlockten, der es ganz unfasslich fand, wie man eine Melodie, geschweige eine ganze Oper ersinnen, einen Roman schreiben oder Verse dichten konnte, er bewunderte ehrlichen Herzens die Begabung des Pflegebruders und war entzückt von seinen Leistungen. Er verstand ja nichts davon, aber es gefiel ihm und er lauschte voll andächtiger Verehrung, wenn Joël in seiner leidenschaftlichen, ungeduldig dahinstürmenden Weise am Flügel phantasierte.

Das ganze selbstbewusste, sichere, weltgewandte Wesen, die Schönheit und Eigenart des jungen Mannes imponierten ihm von der Stunde an, wo er den verwöhnten Knaben zuerst kennen lernte. Er war viel zu bescheiden, viel zu selbstlos, um überhaupt einen Massstab zwischen ihm und sich selber anzulegen.

Er konnte damals noch keinen Unterschied zwischen Arroganz und Selbstbewusstsein machen, und weil er selber so ungelenk, schüchtern und eckig war, so imponierten ihm selbst die Unarten und Unliebenswürdigkeiten Joëls, weil dieselben meist mit verblüffender Originalität in Scene gesetzt wurden.

Alle anderen Knaben, das ganze Haus des Geheimrats huldigten dem hübschen Jungen, er verlangte es in seiner rücksichtslosen, dominierenden Weise und es geschah. Schon in der Tanzstunde war er der Held des Tages, die Mädchenherzen flogen ihm zu, gleichviel ob er sie begehrte, während Wigand, kaum beachtet, der wesenlose Schatten neben dem jungen Sonnengott war. Er war es neidlos, er freute sich von Herzen des Triumphzuges seines Pflegebruders und fand es selbstverständlich, dass er neben diesem jungen Heros eine kümmerliche Rolle spielte.

Joël bemerkte es mit einer gewissen Rührung. So unbegreiflich Wigand eine Kunstleistung erschien, so unfasslich war es für Joël, wie ein Mensch derartige Selbstverleugnung üben konnte. Diese imponierte wiederum ihm. Er lernte schlecht und ungern, Wigand studierte voll eisernen Fleisses Tag und Nacht. Das beschämte den Aelteren.

Oft that es Wigands Vorbild, dass er sich hinsetzte und eine kurze Zeit versuchte, etwas zu lernen. Landen half nach, seinen Bitten und Vorstellungen gelang es, den jungen Eikhoff so weit zu bringen, dass er wenigstens das Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis erwarb.

Dafür waren ihm die Eltern unbeschreiblich dankbar, und sie vermissten Wigands Einfluss sehr schmerzlich, als derselbe die landwirtschaftliche Schule zu Proskau bezog.

Da war es zu Ende mit dem Fleiss des Vetters. Jahrelang blieben die beiden jungen Männer getrennt, kaum sahen sie sich noch bei flüchtigem Weihnachtsbesuch.

Auch die Korrespondenz schlief allmählich ein. Der eine war zu fleissig, der andere zu faul dazu. In Wigands Erinnerung lebte Joël fort, wie er ihn damals als Schüler gekannt. Sein Talent webte eine Art von Glorienschein um ihn her, er stand unverändert vor Landens geistigem Auge, sowie er ihn ehemals voll naiver Kindlichkeit beurteilt und bewundert hatte. Und nun stieg er die steile, schmale Holzstiege zu seiner Giebelwohnung empor, um das Bild des so viel geliebten und so viel verleumdeten Kameraden zu holen.

Er trug die kleine Flurlampe in der Hand und sein Schatten fiel riesenhaft, schier gespenstisch gegen die schneeweiss getünchten Wände.

Da sah es aus, als folge ein böser Geist seinen Schritten.

Der Sturm rüttelte an den Fenstern, dass die weissen Vorhänge im Luftzug zitterten.

Wigand schloss die Kommode auf und entnahm aus ihrem peinlich geordneten obersten Schubfach ein mehr umfangreiches wie wertvolles Album. Es enthielt die Bilder seiner Anverwandten und diejenigen seiner Freunde. Erstere besass er nicht viel, die letzteren desto mehr.

Seltsam, er hatte so wenig in seinem äussern Sein und Wesen, was für gewöhnlich Menschenherzen erobert, und dennoch fand er viele Freunde, dennoch schied er nirgends, ohne die wärmsten Sympathien zu hinterlassen. Und bislang hatte ihm die Freundschaft genügt, hatte ihn reich und glücklich gemacht, weil er nach der Liebe nicht begehrte.

Er öffnete das Buch.

Gewohnheitsgemäss weilte sein Blick zuerst auf den Bildern seiner Eltern, alte, verblasste, kaum kenntliche Photographien. Für ihn waren sie Heiligtümer.

Der schlanke, blondbärtige Offizier hatte ihn zum letztenmal an die Brust gedrückt, ehe Wigand denken konnte. Im Jahre 1864. — Bei den Düppler Schanzen hatte eine Kugel dieses treue, junge Herz zerrissen, und nicht allein sein Herz, auch das seiner armen Mutter verblutete an dieser unbarmherzigen Kugel. Ihrer entsinnt er sich noch dunkel, schattenhaft. Er sieht sie noch im Krankenstuhl sitzen, die Hände gefaltet, den sehnsuchtsvollen Blick der schwarzen Augen zum Himmel gerichtet. Auch sie ging von ihm. Wigand neigt sich und drückt die Lippen auf die vergilbten Bildchen.

Dann kam er zu Onkel und Tante Eikhoff. Das dicke, jovial blickende Gesicht des Geheimrats lacht ihm entgegen, etwas aufgedunsen, gutmütig und dennoch energisch. Neben ihm Tante Elly. Jung, schlank, sentimental und sehr elegant. Sie trägt eine Rose im Haar und lehnt sich schwärmerisch an ein geöffnetes Klavier.

Beide waren gut zu ihm, sehr gut.

Und hier der Sohn Joël. Verschiedene Bilder, er wächst vor den Augen vom Knaben zum Mann. Dieses die neueste Aufnahme.

Wigands Blick weilt lange, voll ehrlicher Bewunderung auf dem genialen Männerkopf. Er ähnelt in allem der schönen, brünetten Mutter. Über der Stirn lockt sich das Haar künstlerisch frei, ohne das Haupt länger wie schicklich zu umwallen. Grosse, wundervoll flammende Augen fordern ein Weltall in die Schranken, und über dem Munde trotzt ein kleiner Schnurrbart. Er trotzt! Ebenso wie die Lippen, welche, etwas arrogant gewölbt, ganze Bände voll erzählen, von Launen, Ungestüm, Leidenschaft und Verlangen! —

In diesem Mund drückt sich der ganze Charakter aus; der glücklichste ist es nicht.

Ein Zug ewiger Unzufriedenheit und Unruhe prägt sich in seiner Linie um die leicht herabgezogenen Mundwinkel aus.

Der ganze Eindruck aber ist frappierend, ist so, wie man sich einen heissblütigen Liebling der Musen, einen himmelanstürmenden, weltenberauschenden Künstler von Gottes Gnaden vorstellt.

Wigand ist stolz auf ihn! Es gereicht ihm zur Genugthuung, dieses Bild heruntertragen, es als Porträt seines, seines Pflegebruders zu zeigen! Ja, er ist stolz und beglückt, sein redliches Herz kennt keinen Neid, und der Gedanke, welch eine Figur er selber neben diesem Helios abgeben wird, dieser Gedanke kommt ihm gar nicht in den Sinn!

Er nimmt das Album unter den Arm, schliesst die Kommode und nimmt das Licht wieder zur Hand. Schwarz, unheimlich schreitet sein Schatten ihm zur Seite. Er möchte gern mit viel herzbewegenden Worten zu Joëls Gunsten reden, denn der Gedanke, den geliebten Jugendfreund als Genossen nach Ellerndörp zu bekommen, hat etwas unendlich Erfreuendes für ihn. Er kann aber nicht reden, hat niemals im Leben kraft seiner Zunge Siege erfochten, darum soll Joël durch sein Bild selber sprechen. Er muss dem Oberst wohlgefallen, er muss diesen schönen, genialen Menschen bei sich aufnehmen und helfen, ihn, durch seine Fürsprache beim Vater, der Kunst zurückzuführen.

Als er wieder an den Kaffeetisch tritt und die Photographie darbietet, leuchten seine Augen in stolzer Freude. Erwartungsvoll haftet sein Blick an dem Gesicht seines Onkels.

Der Oberst hält das Bildchen weit ab und prüft es scharf. Seine Frau neigt sich vor und sieht es voll unverhohlenen Interesses an.

„Hm ..“ nickt der Oberst, „hübscher Bengel! Aber so recht ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts. Unbefriedigt, arrogant, eitel und genusssüchtig.“

„Aber, Onkel! wo liest du diese abscheuliche Conduite ab?“ entsetzt sich Wigand und Frau Henriette schüttelt vorwurfsvoll den Kopf. „Aber Maus! sei doch nicht so niedlich, ich finde den jungen Mann bildhübsch und distinguiert aussehend!“

„Wo ich’s ablese? Da hier!“ Koltitz tippt heftig mit dem Finger auf das Bild und pafft dicke Wolken. „Im Munde liegt’s .. im Blick ... und in der Falte zwischen den Brauen! Solche weltschmerzliche Runzeln waren zu meiner Zeit noch nicht Mode!“

„Wer weiss, was der arme Junge leidet!“

„Hier in Ellerndörp wird sich diese Falte schon glätten!“

Erika hob erst jetzt das Köpfchen von ihrer Arbeit und lächelte wunderlich vor sich hin, hastig schob Wigand ihr das Bildchen zu, als wolle er sie durch diese stumme Geste bitten, weitere Fürsprache einzulegen.

Sie ignorierte die Bewegung, fuhr aber unbeirrt fort: „Einen Charakter allein nach dem Anblick einer Photographie zu beurteilen, ist doch recht riskiert, Väterchen, und darum schlage ich vor, du lässest den vielbesprochenen Liebling der Musen in persona hier antreten, damit wir uns überzeugen können, dass er à la Maria Stuart — besser ist, als sein Ruf!“

Koltitz griff nach den Zeitungen. „Mir ist es in hohem Grade gleichgültig, ob der Hansnarr hierher kommt oder nicht. Wigand hat die Schererei und ihr Frauensleute die Last mit ihm; ich werde wenig von ihm sehen, denn mich zu seinem Gouverneur machen — da soll sich der Herr Geheimrat gefälligst das Maul wischen —“

„Maus — —!!“

Wigand schaute noch immer ganz verblüfft auf Erika. „Willst du denn das Bild gar nicht ansehen, Cousinchen?“ fragte er vorwurfsvoll und schob es abermals näher.

Nun streckte sie ihre kleine, weisse Hand danach aus. „Ich kenne das Bild ja!“ sagte sie.

„Du kennst es?“

Sie neigte das Köpfchen noch tiefer, aber in ihre Wangen stieg heisse Glut. „Gewiss, ich durchblätterte ja dein ganzes Album, als du uns die Bilder deiner Eltern zeigtest.“

„Ach so, und du entsinnst dich noch auf Joël?“

Sie lachte, es klang ein wenig verlegen. „Das versteht sich! Es fiel mir auf, weil er so hübsch ist.“

Und dabei sah sie abermals auf das Bild nieder.

Seltsam, es lag plötzlich ein Ausdruck in ihren Augen, welchen er zuvor nicht darin gekannt. Wie verklärt schauten sie darein, regungslos, gleichsam gebannt von dem schönen Antlitz, welches siegesgewiss zu ihr emporlächelt!

Und langsam steigt die rote Glut von den Wangen in die Schläfen empor — und je länger das junge Mädchen die Photographie betrachtet, desto mehr erbebt die Hand, welche sie hält.

Wigand steht und beobachtet das alles — und ihm ist es plötzlich zu Mut, als lege sich etwas schwer auf sein Herz.

Er wendet sich und tritt an das Fenster.

Der Mond leuchtet wie eine mattrote Scheibe durch das dunstige Schneegewölk und der Wind schüttelt die Tannen vor dem Haus, dass es aussieht, als wollten sie sich, gleich wegemüden Wanderern, auf die weissflockige Erde niederwerfen.—

Landen starrt geradeaus. Seine Gedanken wirbeln wie die Schneesternchen draussen, er wird sich seiner Empfindung nicht klar bewusst, aber er hat das Gefühl, als thue ihm plötzlich das Herz weh.

Sein ruhiges, wunschloses Herz.

Wie kommt das? — Erikas Augen haben voll Entzücken gestrahlt, als sie Joëls Bild geschaut. — Warum das?

Warum stieg ihr das Blut dabei so heiss in die Wangen? und warum hat sie sein Bild das sie nur ein einziges Mal geschaut, nicht vergessen?

Weil er so hübsch ist, so hübsch und so interessant.

Wie glücklich, wie beneidenswert müssen die Menschen sein, welche nur ihr schönes Angesicht der Welt zu zeigen brauchen, um im Sturm die Herzen zu gewinnen!

Wigand ist niemals im Leben neidisch gewesen, er hat den andern alles von Herzen gegönnt, ihr Geld, ihren Ruhm, ihre Schönheit, — aber heute? — Seltsam. Er ist auch heute nicht neidisch auf den Jugendfreund, aber er drückt die Stirn gegen die kalten Scheiben und denkt: Warum bist du nicht auch so schön?

Zum erstenmal im Leben denkt er’s. — Warum? Er sieht Erikas heissgerötetes, bewunderndes Gesichtchen noch immer vor sich. Er blickt zwar in den nächtlichen Schneesturm hinaus, aber er sieht doch nur Erikas Augen.

Und jetzt entdeckt er, dass sich die Lampe in der Fensterscheibe spiegelt, dass ein Bild wie Zauberspuk in der kalten Winterluft vor ihm schwebt, — das Bild am Kaffeetisch.

Er kann es deutlich sehen, wie Erika dicht neben die Mutter gerückt ist, wie beide das Bild besehen. Die Kleine plaudert lebhaft, ihre Wangen glühen wie zuvor — und jetzt ... jetzt hebt Frau Koltitz den Finger und droht neckend dem Töchterchen.

Was mag der rosige Mnnd gesagt haben?

Wie ein Frösteln geht es plötzlich durch Wigands Glieder. Ihm ist es, als zerreisse jählings ein Schleier vor seinen Augen, als schaue er ein Menschenherz, aus welchem urplötzlich grelle Flammen schlagen. Sein eigenes.

Was ficht ihn, den stillen, besonnenen, kaltblütigen Mann, plötzlich an? — Er ist doch den Jahren entwachsen, wo eine Primanerleidenschaft über den Jüngling kommt, wie der Dieb in der Nacht, — er ist ein Mann von sechsundzwanzig Jahren, ein Mann, dessen Vernunft stets grösser war, wie all seine Passionen, — und nun lodert es plötzlich auf in seiner Brust und droht Leib und Seele in Feuerglut zu tauchen.

Soll ein momentaner Rausch grösser sein, wie sein Verstand? Soll er sich zum Sklaven unsinniger Empfindungen machen?

Hat er nicht gestern, vorgestern, alle Tage zuvor, so ruhig und sonder Begehren in Erikas rosiges Gesichtchen geschaut?

Warum packt es ihn plötzlich mit unheimlicher Gewalt, dass er wild aufschreien möchte, weil sie dem Bild eines andern mit strahlenden Augen zulächelt? — Ein armer, armer Thor ist er.

Was hat er mit Erika zu schaffen? Er, der nichts auf der Welt sein eigen nennt, als das, was er im Schweisse seines Angesichts verdient!

Er ist nicht dazu angethan, eines reichen, schönen Mädchens Freier zu sein, und sollte er sie lieben bis zum Wahnwitz. — Er ist hässlich, hat nichts, wie sein treues, ehrliches Herz.

Ist es auch in diesem Augenblick redlich? — Es pocht und hämmert zum Zerspringen, es mahnt in zitternder Angst: „Halte den Adler fern von deinem Taubenschlag, lass den Marder nicht herzu, dass er dein Nest beschleiche!

Warum willst du dir selber deinen Frieden stören? Kannst du sie nicht selber besitzen, — gut, so soll sie auch keines andern sein.

Schreib! schreib! wehre ihn ab, auf dass er nicht komme! Noch ist’s Zeit!“ —

Und wieder blickt er hinaus, auf das Spiegelbild der Fensterscheibe.

Erika hat sich zurückgelehnt in den Sessel vor dem Kamin. Ihre Händchen liegen verschlungen im Schoss und die Augen blicken, glückselig träumend, einem blütenduftreichen Frühling entgegen. Sie lächelt. — So hat sie noch nie dreingeschaut; Wigand ist kein Poet, aber ihm ist’s als sei das junge Mädchen in diesem Augenblick ein Stück heiliger, verkörperter Poesie.

Glühend heiss schiesst es in die Augen des ernsten Mannes. Ihm ist’s als wolle sein Herzblut in bittern Thränentropfen durch die Wimpern dringen und in seiner Brust krampft es sich zusammen, als litte er Todesweh. — Kurze, qualvolle Minuten.

Soll er wirklich an seinem Pflegebruder zum Schalk werden, an ihm und an ihr? Soll er wirklich dazwischen treten, mit roher Hand die Blüten ihres Traumes zu zerknicken?

Nein, tausendmal nein. — Die Entsagung ist von Kindesbeinen an sein Los gewesen, sie hat ihn begleitet bis zu diesem Augenblick, und sie wird ihm zur Seite schreiten bis an seines Lebens Ende.

Warum soll er seinem lieben Joël ein Glück missgönnen, welches er selber ja doch nie und nimmermehr erringen kann? Er ist hässlich, talentlos, arm, sein Pflegebruder aber hat alles, was Mädchenherzen höher schlagen lässt; er, der Gottbegnadete, pflückt die Rosen und Wigand pflegt als treuer Gärtner die Dornen, daran sie blühen. —

Er schrickt empor.

Der Oberst hat seinen Namen gerufen.

„Du befiehlst, lieber Onkel?“

„Potz Wetter, da bist du ja noch, mein Junge! ich dachte, du sässest bereits und liessest den Antwortsbrief vom Stapel?“

„Was soll ich antworten?“ Die Stimme des jungen Mannes klingt unverändert und doch ist’s ihm, als müsste jeder sein Herz durch diese Worte schlagen hören.

„Na, zum Donnerwetter, der Schlingel soll kommen!“ Ein Jubellaut von Erikas Lippen. Wigand zuckt zusammen; einen Augenblick krampft sich die Hand auf seiner Brust, dann atmet er tief auf und wendet sich zur Thür. „Ich danke dir, lieber Onkel; ich werde es sofort dem Geheimrat mitteilen.“

Von Gottes Gnaden - Band I

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