Читать книгу Im Spukschloss Monbijou - Nataly von Eschstruth - Страница 5

Zweites Kapitel

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Frau von Savaburg stand vor dem Teetisch und steckte die bläuliche Flamme unter dem silbernen Samowar in Brand.

Der kleine Salon atmete in feinem Hauch exklusiven Parfüms ein vollendetes Wohlbehagen.

Die Möbel in eigenartigen Farben und Zusammenstellungen, duftende Blumen in hohen und wertvollen Vasen, viel Goldbarock an den Wänden und Etageren, legten Zeugnis für die behagliche Wohlhabenheit des Hauses ab, und inmitten dieses eleganten Rahmens vervollständigte die Hausfrau das vornehme Bild.

Gross und schlank, von jener lässigen Grazie, die aus jedem Lächeln und jeder Bewegung eine Gnade macht, galt sie noch immer für eine reizvolle Frau.

Als ihr Gatte gestorben war, konnte er in Frieden schlafen, denn der Sohn stand an der Seite seiner so verwöhnten und in vielen Dingen recht unerfahrenen Mama, der das Rechnen und alles Geschäftliche seit jeher ein Greul gewesen.

Sie erkannte klugen, fremden Willen gern an, ward jeder Individualität gerecht und arbeitete voll unbemerkten Eifers an der Erziehung ihres „Herzensjungen“, seinem Charakter all die edlen Gesinnungen einzuprägen, deren Keime ihm schon als schönstes Erbteil von seinem Vater überkommen waren.

Eine Tochter hatte sie nie besessen.

Früher, als sie noch jung und lebenslustig war, entbehrte sie eine solch kleine Nebensonne nicht, jetzt, als es immer einsamer und winterlicher um sie ward, die alten Freunde mehr und mehr heimgingen und die neue Welt oft so bizarre Formen schuf, dass sie mit ihren Ansichten und Extravaganzen kaum noch Schritt halten konnte, da kam ihr doch öfters die Sehnsucht nach einem jungen Wesen an ihrer Seite, das verständnisvoller als ein Mann die Brücke zwischen dem Einst und Jetzt schlagen konnte.

Sie hatte nur zwei Patenkinderchen gehabt, die kleine Feodora und das älteste Mädelchen ihrer lieben, so früh geschiedenen Freundin Waldeck-Wartenfels.

Zufällig hatte sie die Todesnachricht der Mutter in der Zeitung gelesen.

Wo war Amarant geblieben?

Bei den Grosseltern, wie die Freundin im letzten Brief geschrieben?

Hätte sie nur die Adresse gewusst!

Nun plötzlich, nach so langer Zeit, taucht die kleine dea ex machina aus der Versenkung auf. — —

Die Lampen waren bereits angesteckt, als der Diener Fräulein von Waldeck-Wartenfels meldete.

Agathe erhob sich aus dem Sessel, in dem sie wartend, ohne weitere Beschäftigung, gesessen und mit den Gedanken noch einmal weit zurück in der Vergangenheit geweilt hatte.

Den Namen Amarant hatte sie sogar ausgesucht, denn auf ihre leicht erregbare und schwärmerisch veranlagte Seele hatten die Redwitzschen Dichtungen grossen Zauber ausgeübt!

Drüben in dem eleganten, geschnitzten Bücherschrank stand noch der kleine Band in Goldschnitt und Franzleinen, der „Amarant“ als Überschrift trug.

Wie war es möglich, dass sie sich so gar nicht mehr um das Kind bekümmert hat? — Amarant hilft ihr gewiss das Rätsel lösen, warum die Grossmama nie ein Sterbenswörtchen über die Kleine berichtete!

Hammerschmidt meldet an.

Nach wenig Augenblicken steht Fräulein von Waldeck vor ihr.

Sie hat auf dem Flur abgelegt.

Ein dunkelblauseidenes Fünf-Uhr-Tee-Kleid sitzt flott und elegant; der sehr zarte Teint und die lichten Haare erhalten eine sehr vorteilhafte Folie.

Ein Strauss langgestielter Narzissen duftet in ihrer Hand und wird mit tiefem und respektvollem Knix der verwitweten Majorin überreicht. Die Verbeugung, der Handkuss — alles tadellos, die graziösen und doch sehr ruhigen Bewegungen erinnern auf den ersten Blick an Theklas eigne gute Kinderstube.

Frau Agathe zieht ihr Patenkind voll herzlicher Freude an die Brust, dankt für die so aufmerksam überreichten Blumen und küsst die weiche Mädchenstirn.

„Blüht auch das Veilchen gar versteckt,

die Sonne hat es doch entdeckt!“

scherzt sie mit langem Blick in die dunkelumwimperten Blauaugen Amarants, legte beide Hände auf ihre Schultern und hält die zierliche Gestalt einen Augenblick von sich ab, um forschend den Gesamteindruck der jungen Dame zu erfassen.

„Ja, Sie gleichen Ihrer Mutter, Amarant! Nicht ganz so gross, nicht ganz so voll in den Formen, auch ernster im Ausdruck, als ehemals unsere lachende kleine Heidelerche! — Aber dennoch Thekla rediviva!“

Noch einmal küsst sie in sichtlicher Erregung beide Wangen ihres kleinen „Findlings“ und sagt herzlich: „Wieviel Altes wird durch Ihren Anblick wieder jung in meinem Herzen! Mir ist’s, als hätte ich ein Stücklein goldene Vergangenheit, die ich längst verloren geglaubt, wiedergefunden! Nun setzen Sie sich erst ein Augenblickchen zu mir und lassen Sie uns viel zusammen plaudern. Mit dem Tee warten wir, wenn es Ihnen recht ist, bis zur Ankunft meines Sohnes, der gewohnt ist, um diese Zeit bei mir auszuruhen!“

Sie legte den Arm um Fräulein von Waldeck und zieht sie auf das kleine Rokokosofa unter dem mächtigen Goldspiegel und den duftenden Azaleen nieder.

„Wo haben Sie eigentlich die langen Jahre gesteckt, Amarant? Immer auf dem Land bei den Grosseltern, oder hat man Sie in ein Töchterpensionat der Residenz geschickt?“

Und das junge Mädchen erzählt.

Ohne jede Befangenheit, frisch und liebenswürdig, ihr unerklärliches Schweigen mit dem weltfernen Leben der alten Leute entschuldigend, welchen der Tod Theklas so überraschend gekommen, dass ihre letzte Lebenszeit eigentlich ohne jeden näheren Kommentar für sie geblieben!

Die Pensionsjahre in Gnadenfrei und ein späterer, kürzerer Aufenthalt bei Verwandten in der Residenz, wo sie noch ein paar Musikstunden nehmen sollte, seien auch nicht sehr abwechslungsreich gewesen, jedenfalls sei sie nie ehemaligen Freunden oder Bekannten ihrer verstorbenen Eltern begegnet, obwohl sie oft recht sehnsüchtig gehofft habe, einmal des Namens wegen auf Vater oder Mutter angesprochen zu werden! Und nun sei plötzlich ein so liebes Wunder geschehen, und in der grossen fremden Welt habe eine Patin zu ihr durch einen Brief geredet, so viel gute, treue Segensworte, dass ihr ganz weich und warm um das Herz geworden sei!

„Ja, der Brief, den ich damals zu dem Armband schrieb, liebste Amarant! Ich war seiner Zeit auch krank, hatte schwermütige Gedanken und wusste nicht, ob ich Ihre Konfirmation noch erleben würde, da legte ich Ihnen ein Andenken in die Wiege!“

„Wie innig, ja am meisten dankte ich es der lieben Mama, dass sie mir gerade diese Zeilen erhalten und bei dem Armband belassen hatte! — Und diese Freude, als Onkel Strombeck schrieb, dass die Mutter seines Adjutanten mit der Schreiberin identisch sei!“

„Sie liebes Kind! Sie ersahen daraus, mit wieviel richtigen Segenswünschen ich Sie an der Schwelle des Lebens begrüsste!“

Wieder legte Frau Agathe den Arm um das junge Mädchen, und in ihren Augen schimmerte es feucht.

„Und nun haben Sie endlich mal einen längeren Urlaub bekommen?“

Amarant sah mehr wehmütig als erfreut aus. „Ja, ich bin beinah überflüssig daheim geworden! Grosspapa leidet an Gicht und ist dadurch viel an das Zimmer gefesselt. Sein ältester Sohn Klaus musste daher den Abschied nachsuchen und die Bewirtschaftung von Riebenow übernehmen. Vor einem Jahr hat er geheiratet, und zwar eine sehr tüchtige kleine Frau, die auch auf dem Lande gross geworden und gewöhnt ist, die Zügel der Regierung tatkräftig mit eignen Händen zu führen! — Tante Lucies älteste Tochter, die ein wenig verwachsen ist und keine Freude an dem Stadtleben findet, siedelte nach dem Tod der Mutter auch zu uns über und hilft als liebenswürdige Enkelin die Grossmama sehr treu zu pflegen! So sind wir viele Leute in Riebenow geworden, und ich bekam ohne Schwierigkeiten den Reiseurlaub bewilligt.“

Hammerschmidt trat ein und überreichte ein kleines Paketchen mit einer Karte.

„Verzeihen Sie, Amarant, sicherlich eine freundliche Liebesgabe für unser Krüppelheim!“ Sie las schnell die wenigen Zeilen. „Wie nett von Frau Sanitätsrat! Sie schickt ein paar Bilderbücher für die Kleinen!“ Die Sprecherin erhob sich und legte Paket und Briefkarte auf den kleinen Spieltisch zur Seite.

„Unsere humanen Veranstaltungen, die Christbescherungen für soviel arme, freudebedürftige Kinder kennen Sie gewiss nicht, liebe Amarant, oder haben Sie auf dem Land in begrenzterer Weise auch die Wohltätigkeit zum Gottesdienst gemacht?“

Fräulein von Waldeck lächelte schelmisch.

„Wir haben für ein ganzes Dorf zu sorgen, allein achtzig Erwachsene und dreiundvierzig Kinder, denen wir bescheren!“

„Du meine Güte! Welch eine rasende Arbeit und Ausgabe muss das sein!“

„Wir haben es schon seit Jahr und Tag ganz praktisch eingerichtet, und da es meist nützliche Geschenke sind, kann man sie selber herstellen. Schafe, die die Wolle liefern, haben wir, und Flachs, der zu Hemden nötig ist, bauen wir an. Nur beizeiten anfangen müssen wir Damen und Mädchen im Hause, um alles rechtzeitig fertigzustellen, denn selber stricken und häkeln müssen wir es! Da wurde einmal sehr gelacht, als am sechsundzwanzigsten Dezember die gute, alte Mamsell Dörte die Damasttücher von den letzten Tafeln der Leutebescherung abnahm.

Sie stand einen Augenblick und starrte bedenklich zu mir herüber.

‚Gnädiges Fräulein!‘

‚Was soll’s, Dörte?‘

‚Die Bescherung ist vorüber.‘

‚Teils leider, teils Gott sei Dank!‘

‚Gnädiges Fräulein!‘

‚Was denn, Dörte?‘

„Es ist die höchste Zeit, dass wir unsre Weihnachtsarbeiten für nächstes Jahr beginnen! Wolle und Stricknadeln habe ich schon bereitgelegt!“

Frau Agathe lachte hell auf.

Welch eine allerliebste, amüsante Art hatte Amarant, zu erzählen.

„Ich bin Ihre Patentante und teile mich von nun an mit Frau von Strombeck in die Rechte und Anteile an der neuen Nichte. — Also künftighin: ‚Tante Agathe‘, nicht wahr, Kleinchen?“

Da jauchzte es ihr leise und zärtlich entgegen.

Voll warmer Inbrunst drückte Amarant die Lippen auf die schlanke, weisse Frauenhand, die sich ihr so treu entgegen bot.

Und Agathe zog ihre „Dieudonnée“ abermals in die Arme und küsste sie, wie eine, die eigentlich nichts mehr im Leben gesucht und plötzlich etwas sehr Liebes gefunden hat.

„So werden Sie meine kleine Stabsordonnanz sein bei den Bescherungen?“ lachte sie lebhaft.

„Oder die Hofdame —“

„Oder meine rechte Hand —“

„Jedenfalls Hans in allen Ecken, wo ich gebraucht werde!“

„Sigurd macht schon seine Witze und bat darum, in dem Missionsgeschäft ‚junger Mann‘ sein zu dürfen.“

„Wenn er flink, fleissig und ehrlich ist, warum nicht?“

„Er ist sehr brauchbar“, nickte die Mutter stolz; „einen sehr schönen und grossen Erfolg des Abends werden wir ihm verdanken!“

„Neugierde ist mein Fehler nicht, doch möcht’ ich gerne wissen!“ zitierte Amarant voll Humor.

„Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten. Sigurd hat uns zwei entzückende Transparente zwischen einer Pyramide von kleineren Christbäumen hinter die Krippe gemalt, wenn es Sie interessiert, zeige ich sie Ihnen!“

„Und ob es mich interessiert! Ihr Herr Sohn erzählte mir bereits von seinen so passioniert betriebenen Malstudien.“

„Er erzählte Ihnen?!“ Frau Agathe schlug staunend die Hände zusammen. „Wie ist das möglich? Für gewöhnlich ist es ihm gar nicht angenehm, wenn irgendwelches Aufheben von seinem wirklich grossen Talent gemacht wird. Und nun erzählt er es Ihnen selber?“

„Durch einen Zufall!“ Die Damen schritten nach dem Nebenzimmer, wo in einem Eck, vor dem Schreibtisch ein grosses Transparent, die „Madona mit dem Kind“ darstellend, postiert war.

Agathe knipste die elektrische Flamme ihrer Schreibtischlampe dahinter an, und in zarter, entzückender Schönheit trat das Gemälde plastisch, wie heiligstes Leben, aus dem improvisierten Rahmen hervor.

Ein leiser Aufschrei des Entzückens.

„O liebe, gnädigste Tante, wie ist das so wunderbar schön!“

Amarant verschlang in regungslosem Schauen die Hände und fügte leise und schlicht nach kleiner Weile hinzu: „Hier hat man das Empfinden, als sei der Himmel selbst auf diese arme Welt zurückgezaubert.“

„Nicht wahr? Er hat die liebe Mutter Gottes wunderbar schön und ideal aufgefasst. Mit blondem Haar, wie man sie selten sieht!“

„Nun verstehe ich auch, warum Ihr Herr Sohn mir von seinem Interesse für Gemälde sprach ...“

„Erzählen Sie, Amarant!“

„Das ist mit wenig Worten gesagt! Ich stand unter dem Kronleuchter, und das grelle Licht fiel direkt auf mein Haar, wohl scharfe Reflexe darin weckend. Da erkundigte sich Herr von Savaburg, ob ich schon einmal gemalt sei, und ein Wort gab das andere, allerdings ohne mir den Beweggrund zu verraten, den mir dieses Transparent nun enthüllt!“

„Ob er Sie nicht bitten wird, zur Vollendung dieser Weihnachtsgabe einmal Modell für die eigenartig schöne Beleuchtung zu sitzen?“

Amarant errötete: „Wenn es nicht anmassend erscheint, dass ich mein armselig bescheiden Köpflein für den Himmelsglanz einer Madonna darbiete, so wird es im Interesse des Kunstwerks geschehen.“

Im Nebenzimmer klirrten Sporen.

Herr von Savaburg trat ein.

„Spät kommst du, doch du kommst!“

„Der Tragöde würde allsogleich den geliebten Shakespeare zitieren: last not least.“

Amarant wies lächelnd auf das Bild: „Von einem Deutschen ganz nachempfunden und von mir in vollster Anerkennung weitergegeben.“

Da zog er die kleine Hand, welche sich ihm bei diesen Worten darbot, voll ritterlichen Danks an die Lippen.

Das alte Jahr war mit Glocken- und Gläserklang zu Grabe geläutet.

Es dämmerte wohl ein neues Jahr im Osten, aber die Sonne, welche mit dem alten versunken war, stieg nicht herauf.

Grau in Grau.

Sigurd von Savaburg schritt nachdenklich durch den feinen Sprühregen.

Es tat ihm so leid, dass die Sonne nicht schien.

Wenn man selber so fröhlich und guter Dinge ist, möchte man, dass alles mitlacht, vor allem die Sonne am Himmel droben.

Wie schön war das Leben! Schöner als je zuvor.

Wie reich, behaglich und bequem das moderne Leben, wie prunken Wissenschaft und Industrie mit vollendetem Können, wie hat die alte Mutter Erde sich geschmückt mit Blüten und Früchten einer jeglichen Art!

Glühend heiss pulsiert das Leben in dem Weltenkörper, und in rastlosem Schaffen strebt die Menschheit höchsten Zielen und Idealen entgegen.

Sigurds Augen leuchten noch in dem Gedanken an den ungeteilten Beifall, den seine Bilder gefunden.

Die liebenswürdige, so sehr sympathische kleine Amarant hat ihr Köpfchen dargeboten, dass er wie durch ein Wunder etwas unbeschreiblich Schönes und Eigenartiges schaffen konnte.

Leuchtendes Blondhaar auf dem Haupt der Madonna.

Wahrlich, es ist keine Farbe mehr, es glänzt und leuchtet wie göttliche Klarheit.

Bescheiden wehrte er allen Dank ab. „Ein Transparent ist ja an und für sich ein Lichtbild, das bedeutet für mich weder Können noch Ruhm.“

Nun hatte er aber etwas versucht, was noch niemand wusste, auch nicht zu erfahren brauchte, bis es so meisterlich geglückt war, wie er es sich in seiner gottbegnadeten Phantasie verstellte.

Er malt das Bild zum zweitenmal, und zwar diesmal als Ölgemälde auf Leinwand.

Amarant stellt ihm abermals ihr goldiges Köpfchen in der lang gesuchten und endlich gefundenen richtigen Beleuchtung zur Verfügung, und es scheint, als solle er wahrlich das Ideal, das ihm vorschwebt, verkörpern.

Das erfüllt ihn mit einem Gefühl erhebender Schaffensfreude und künstlerischer Genugtuung.

Er hat seinen Säbel, die Uniform zu liebgewonnen, um sich jetzt schon davon zu trennen.

Warum auch?

Noch lassen sich Kunst und Prosa ganz gut vereinen!

Er will den Pegasus gewiss nicht zum trivalen Krempergaul erniedrigen, die feurige „Schecke“, wie Amarant gescherzt, trägt ihn in glücklichem Wechselflug hoch über das Alltagsleben hinaus, von der Erde zum Parnass! Amarant!

Es war wirklich auch noch ein Gnadengeschenk des alten Jahres, dass es ihnen dieses allerliebste Mädel unter den Christbaum legte!

Nun hat ja sein Mütterchen, was sie schon so lange argwöhnisch und vorsichtig gesucht, die allerliebste Gesellschafterin, eine junge Freundin, mit der sie täglich mehr oder völliger zu harmonieren scheint!

Die Kleine hat ein so allerliebstes, frisches, heiteres und doch so vernünftiges Wesen, ganz so, wie es zum Umgang für Frau Agathe passt.

Hoffentlich bekommt sie den Urlaub noch verlängert, dass sie nach ihrem Aufenthalt bei Strombecks noch eine Zeitlang zu gründlichem Kennenlernen bei der Patentante bleiben kann.

Dass es auch ein gründliches „sich gegenseitiges Gefallen“ werden wird, daran zweifelt der Husar keinen Augenblick.

Soeben ist er auf dem Weg zum Photographen.

Er will sich seine neuesten Kabinetts selber abholen, falls sie zu stieselig ausgefallen sind! Er hatte sich letzthin in rechter Katerstimmung verewigen lassen, weil der verflossene Regimentskommandeur gern das Offizierkorps in effigie mitnehmen wollte und männiglich nach dem Liebesmahl noch in das Atelier von Günther & Pfaff zog.

Die erste Aufnahme war direkter Reinfall; die Bilder sollten durch bessere ersetzt werden.

Wollen sehen, ob es diesmal etwas geworden ist. Gerade in umgekehrter Weise besuchte er Günther & Pfaff, als er von der Beerdigung des guten treuen Fräulein Emma kam, ihrer Hausdame, mit der fast seine ganze Kindheit und Jugend verknüpft war. Ein Stück alten, lieben Hausinventars, das die arme Mama und ihn doch recht vereinsamt im Haus zurückliess.

Wie gut, dass Amarant gerade jetzt kam, gerade, als wolle der liebe Gott die Lücke wieder ausfüllen, und für das Verlorene Ersatz schaffen.

Langsam stieg er die Treppen nach dem Atelier des Photographen empor.

Ein sehr junger Mensch empfing ihn.

„Morgen, Verehrtester, kann ich die neueste Aufnahme meiner Bilder mal sehen? Wenn sie fertiggestellt sind, nehme ich sie gleich mit, — d. h. wenn Ihr Meister diesmal selber mit meiner Physiognomie einverstanden ist!“

Der Jüngling lachte und dienerte.

„Einen Augenblick, wenn ich bitten darf, Herr Leutnant! Herr Günther ist drunten in seiner Wohnung und muss erst gerufen werden. Heute nacht ist ein kleines Töchterchen geboren, und da kann sich der Chef nicht für lange Zeit trennen!“

„Oh, ein Töchterchen! — Na, da kann man ja gratulieren! Herr Günther soll sich nur nicht zu sehr beeilen, komme ja gern noch ein andermal vor.“

„Durchaus nicht, Herr Baron! Bitte nur um einen Augenblick!“

Der Sprecher schoss dienstfertig davon, und Sigurd trat an einen Schrank, dessen Schubfächer weit geöffnet und mit Photographien angefüllt waren, und begann aus Langerweile, um sich die Zeit zu vertreiben, in den aufgehäuften Abzügen zu kramen.

Allerlei bekannte und unbekannte Gesichter.

Ganz amüsant.

Sigurd verfügt über viel guten Humor, manchmal lacht er leise auf, wenn die Pose der Gelichtbilderten allzu theatralisch wirkt.

Donnerwetter!

Sigurd hebt ein Bild empor und starrt einen Augenblick darauf nieder.

Was ist denn das?

Ulk?

Nein, — dazu wirkt die ganze Sache zu düster.

Eine Dame.

Die Mode, sich in Schleiern drapiert verewigen zu lassen, hat er soeben schon ein paarmal in der Hand gehabt.

Günther scheint die reizvolle Umrahmung gern vorzuschlagen.

Alle Wetter, — ein anscheinend sehr schönes, geradliniges, fast klassisches Gesicht, das sich, blass wie Marmor, schier leblos aus den dunklen, schlaff niederhängenden Falten eines schwarzen Vestalinschleiers hebt.

Die Hände sind in den Tüll eingehüllt.

Soweit ist ja alles sehr schön und interessant, aber das Eigenartige ist der eiskalte Schauer, der einem bei dem Anblick dieses rätselhaften Gesichtes über den Rücken läuft.

Ist die Aufnahme verunglückt, oder soll absichtlich eine Art Spuk, zur Abwechslung vielleicht die Illustration zu „Erschein, o schwarze Dame!“ vorgetäuscht werden?

Wie grässlich dieser Anblick trotz aller angedeuteten Schönheit!

Der Apparat scheint gewackelt zu haben, denn sowohl das Antlitz wie Schleier und die ganze Figur haben etwas eigenartig Verwischtes, Unklares.

Grad’ so, wie man sich die Ahnfrau vorstellt, wenn sie nachts durch die mondscheinerhellten Säle des alten Schlosses schreitet.

Dass man sie sieht und doch nicht genau erkennen kann, dass man deutlich empfindet, einer grossen, grabeskühlen Schönheit gegenüberzustehen und es doch nicht zu beschreiben vermag, wie die einzelnen Linien des Gesichtes oder die Augen geformt sind!

Diese scheinen auffallend gross und dunkel zu sein.

Wie tiefe, schwarze Schatten wirken sie in dem Antlitz, und die düsteren Brauen, welche sie noch überwölben, erscheinen zuerst wie die Höhlen in einem Totenkopf.

Erst bei schärferem Hinschauen unterscheidet man die Einzelheiten, dann sieht man, wie auffallend, wie fremdartig schön dieses Weib ist.

Sigurd starrt wie gebannt auf den steifen Karton in seiner Hand hernieder.

Wer ist’s?

Ein menschliches Wesen oder ein Geist?

Eine köstliche Frauengestalt oder ein Dämon?

So etwas ist ja zum Grausen schön und wunderlich!

Viele würden dieses Bild wohl voll Entsetzen in den Kasten hier zurückwerfen und nachts misstrauisch in das Dunkle sehen, ob etwa dieser unheimliche Spuk ihm gefolgt ist?

Mit lebenaufsaugenden Vampyraugen und einem Kuss, der den Tod bedeutet!

Sigurd von Savaburg lächelt.

Wer mag sie sein?

Wenn Günther sie photographierte, muss er sie doch kennen!

Oder sollte es die Reproduktion eines alten Gemäldes sein?

Das wäre schade!

Langsam dreht er den Karton um.

Ah! Doch etwas Schriftliches.

„Samiela“ — und dann ein nicht mehr zu entziffernder Name mit Bleistift gekritzelt. „Hotel Bristol. 12 Kabinett, bis Freitag bestimmt“ — und dann ist alles wieder ausgestrichen.

Ach so! Nach Besichtigung sind selbstredend keine Bestellungen erfolgt, sondern es ist wohl eine andere Aufnahme angefertigt.

Samiela heisst sie.

Der Name ist so eigenartig wie das ganze Bild.

Wer ist es?

Na, Günther muss ja Bescheid wissen und auch ihren Zunamen kennen.

Die Tür wird hastig hinter ihm aufgestossen, und Herr Günther steht auf der Schwelle.

Sein ganzes Angesicht strahlt Vaterstolz und Vaterfreude.

Der Husarenoffizier reicht ihm herzlich die Hand, gratuliert mit liebenswürdigen Worten und hat viel Interesse dafür, dass die Kleine zehn Pfund wiegt.

„Alle Donner! Stramme Leistung!“

Na und dann kommt man auch auf die neueste Aufnahme von Herrn von Savaburg zu sprechen.

Günther ist begeistert.

„Diesmal hat die Sache grossartig geklappt, Herr Baron! Ein Bild so schick, so tadellos, wie ich lange keins herausgebracht habe, wenn Sie gestatten, möchte ich es brennend gern in die Auslage drunten aufnehmen.“

Und der Sprecher reisst erst drei verschiedene Schubfächer auf, durchwühlt sie mit nervösen Händen und hat endlich das kleine Päckchen gefunden, aus dem Sigurds dunkle Augen sieghaft hervorblitzen.

Sigurd lacht.

„Na, wenn Sie glauben, bester Herr Günther, wir können damit in Ehren bestehen, wollen wir die Chose einpacken. Zuvor aber eine Frage: Wer ist die Dame hier auf diesem Bild?“

Der Photograph blickt höflich auf die dargezeigte Aufnahme nieder.

Dann weicht er zurück, als habe er ahnungslos auf einen Frosch gefasst.

„Zum Kuckuck! Da ist ja das ekelhafte Bild immer noch!“ stösst er kurz hervor.

„Nanu? So ekelhaft finde ich es nicht! Die Dame scheint sogar sehr schön zu sein!“

„Eine der grausigsten Aufnahmen, die je gemacht sind.“

„Das kann sein.“

„Wie ein Spuk! — Meine Frau hat ja geschrien vor Schreck, wie sie das Gespenst entwickelte!“

Der Husar lachte leise auf. „Wohl möglich! Es wirkt verblüffend. Aber ich nehme an, dass die Dame mächtig gewackelt hat oder sonst sehr unruhig gewesen ist, just in dem Moment, wo Sie knipsten!?“

„Keins von allem! Wie ein Rätsel ist uns allen diese verquatschte Platte gewesen.“

„Und die Dame selbst? Wie heisst sie denn im Zivilleben?“

Günther sann zerstreut nach.

„Ja, du liebe Zeit, all die Namen! Wer kann sie merken!“

„Niemand aus hiesiger Stadt?“

„O bewahre! Sie wohnte damals in dem Hotel Bristol. Darf ich einmal bitten, der Namen ist wohl auf dem Bild notiert!“

Sichtbar widerwillig griff der Photograph nach dem Kartonpapier.

„Samiela“, buchstabierte er. „Das andere ist beim besten Willen nicht zu enträtseln!“

„Sie graulen sich ordentlich, das Bild anzufassen!“ lachte Sigurd abermals, „und haben es doch selber angefertigt!“

„Das ist das wenigste, Herr Baron, es ist noch etwas anderes mit dem mysteriösen Ding.“

„Sie tun mir einen Gefallen, Verehrtester, wenn Sie alles Nähere darüber erzählen.“

„Viel weiss ich selber nicht. Als die Fremde zuerst kam, war ihr Haar durch das Regenwetter stark gelöst. Ich schlug vor, doch die moderne Schleieraufnahme zu machen, die dem Fehler sogleich abhelfen werde. Einen weissen Schleier wies sie brüsk zurück.

‚Ich würde ja aussehen wie eine Braut, das will ich nicht.‘

Sie war schön und interessant. Ich wagte höflich einzuwerfen: ‚Was noch nicht ist, kann ja noch werden, meine Gnädigste.‘ Ich wusste allerdings nicht, ob sie Frau, Mädchen oder Witwe war, — na, man schwatzt eben aus Höflichkeit so mancherlei.

Sie bekam etwas Starres, Kaltes.

‚Ich wüsste nicht wie. Ich habe im Leben nie Liebe gesucht, weil ich nie welche empfangen habe, seit Kindesbeinen nicht, und was man nicht kennt, entbehrt man nicht!‘

Ich beschwichtigte sie lächelnd: ‚Und wenn der Rechte doch noch kommt?‘

Sie sah ironisch aus; aus ihren Augen ging es wie ein grelles Feuer.

‚Ich mache enorme Ansprüche! Sie hörten, nach Liebe frage ich nicht, nach Ehre desto mehr. Wenn ein Mann mir garantiert, mich zu einer weltberühmten Frau zu machen, so könnte ich mich vielleicht in ihn verlieben — vielleicht!‘

Das klang alles so wunderlich.

‚Sie sind auf der Reise, gnädiges Fräulein?‘

‚Ja, ich wohne in Bristol, bin auf der Fahrt nach England und will von dort zu Verwandten nach Amerika.‘

Sie sah so spöttisch dabei aus, als mokiere sie sich über mein neugieriges Interesse.

‚Die Bilder müssen bis Freitag fertig sein, ich muss sie noch etlichen Bekannten hier in Deutschland zurücklassen.‘

‚Fürchten Sie sich nicht vor der weiten Reise über das Meer?‘ fragte ich noch, warum wusste ich eigentlich selber nicht.

Da richtete sie sich in dem schwarzen Schleier hoch auf und ihr Blick sah an mir vorüber ins Leere.

„Nein! Sie meinen, das Schiff könne untergehen? Das ist ja vollkommen gleichgültig. Das Leben hat keinen Wert für mich, denn ich weiss, dass es nach dem Tode erst für mich beginnen wird.“

„Wie verrückt!“ fuhr Sigurd ganz empört auf.

„Nicht wahr? Das fand ich damals auch, Her Leutnant. Na, es muss auch solche Käuze geben.“

„Und was sagte sie zu der Aufnahme, die ihre Worte beinahe illustrierten?“

Günther zuckte die Achseln.

„Nichts. Ich teilte ihr telephonisch in das Hotel mit, dass die Aufnahme verunglückt sei, ein Probebild stehe zu Diensten. Ob nicht sogleich eine andere Aufnahme gemacht werden solle.“

„Sie dankte. Es sei keine Zeit mehr.“

„Und damit entschwand sie und ward nicht mehr gesehen?“

Herr Günther sah aus, als ob ihn etwas sehr Widerwärtiges würge.

„Denken Sie doch, wie seltsam, Herr Leutant, die Dame ist mit der Titanic — Sie entsinnen sich des grossen Schiffsunglücks — untergegangen!“

Sigurd zuckte unmerklich zusammen.

„Donnerwetter!“ Dann sah er abermals nach dem Bild herüber, welches Günther noch in seiner Hand hielt. „Also das Bild hat im wahren Sinne des Wortes ... vorgespukt!“

Die Schelle an der Entreetür rasselte, mit lautem Lachen und Scherzen flutete eine Schar Damen und Herren in das Atelier.

Savaburg kannte sie.

Tänzer einer Rokokoquadrille von dem Polterabend der Gräfin Bork.

Fröhliche Begrüssung, die Stimmen schwirren durcheinander, von allen Ecken und Enden stürmt man auf den sowieso schon sehr zerstreuten Photographen ein.

Sigurd bittet um seine Bilder, und Günther tastet verwirrt hin und her, packt sie eilig zusammen und händigt sie dem Offizier ein.

Savaburg versenkt sie in die Tasche seines Paletots, wechselt noch ein paar heitere Worte mit den kostümierten Herrschaften und empfiehlt sich, um durch den Park seinen Heimweg anzutreten.

„Für mich beginnt erst das Leben nach dem Tode!“ Welch ein unfassliches Wort in dem Mund eines schönen, jungen Weibes, vor dem die weite Welt offen lag.

Er muss wieder daran denken, an dieses gespenstisch schöne Angesicht mit der brennenden Sehnsucht nach dem Glück im Auge.

Ja, nach dem Glück.

Es hat nur für jeden Menschen andere Formen und Gestalt.

Für Samiela verkörperte es die Ehre! Aber der Mann, der ihr huldigend eine Welt zu Füssen legt, den liebt sie auch.

Auf ihre Art.

Ob es auch das Glück dieses Mannes ist?

Als Sigurd in seiner behaglichen, kleinen Junggesellenwohnung ankam, gab es erst noch ein paar dienstliche Schriftlichkeiten zu erledigen, dann wollte er dem „seligen Oberst“ sein neuestes Bild als Ersatz schicken und dann noch ein paar Stunden schlafen bis zu dem grossen Neujahrsdiner, das auch seine Ansprüche an Nerven und Trunkfeuchtfröhlichkeit stellt.

Er zog das Paketchen mit den soeben abgeholten Bildern hervor, legte Bogen und Briefumschlag zurecht und überlegte, was er nun eigentlich seinem verflossenen Tyrannen noch an Gutem und Schönem zum Jahreswechsel wünschen solle.

Die Photographien fallen auseinander, und da ... alle Wetter ... was ist das?

Hier starren ihn die unheimlich schönen Spukaugen der ertrunkenen Samiela an!

Was willst du hier, bleiches Weib? —

Aus dem schwarzen Schleier rieselt es feucht herab, und Perlentropfen glänzen am Saum ihres Gewandes, wenn sie dem Wellengrab entsteigt und nach dem Manne sucht, welchen sie um der Ehre willen einzig lieben kann!

Wie sie ihn ansieht!

So blickt kein Menschenauge, — schon jetzt auf dem Papier, bei ihrem Leibesleben nicht!

Herr Günther hat in seiner konfusen Freude, verwirrt durch die vielen neuen Kunden, die „Ahnfrau“ mit unter die Bilder eines der lebenslustigsten und flottsten Husarenleutnants gepackt.

„Erschein’, o weiss-schwarze Dame!

Sag’ an, wie ist dein Name?“ —

Er singt es leise vor sich hin und lächelt dabei, aber ohne den fein spottenden, geistreichen Humor, welcher ihm sonst eigen!

Jetzt kann er erst in Ruhe ihre einzelnen Züge aus den „Schatten des Todes“ enträtseln!

Schön, fraglos sehr schön.

Es liegt etwas Faszinierendes in den leicht geöffneten Lippen, in dem sengenden Blick, als wolle sie auch lachen, — laut, hart, erbarmungslos? —

Nein! — So nicht.

Mit gläserner Stimme, wie aus einer andern Welt herüber?

Nein, auch nicht.

Leise, flüsternd, sinnverwirrend und berückend, wie die weisse Dame einen George Brown anlächelt.

Und doch schauert es ihn dabei durch Mark und Bein.

So küsst, so lächelt, so wirbt kein irdisch Weib, sondern eine Dämonin.

Könnte er diese hier als Madonna malen, wie das süsse, lichtblonde Köpfchen der kleinen Amarant mit dem heilig keuschen Ernst zärtlichster Innigkeit?

Niemals.

Eine Maria Magdalena, — aber auch nur als Teufelin, nicht als Büsserin.

Was soll er mit dem Bild anfangen?

Es taugt nicht, so lange in gebrochene Augen zu schauen.

Günther legt keinen sonderlichen Wert auf den Abzug.

Sicherlich würde er das Bild in das Feuer werfen, wenn er es ihm jetzt zurückschickte!

Ihres Namens entsinnt er sich nicht einmal mehr, ausser dem ungewöhnlichen Vornamen, welchen sie selber notiert.

Keiner kennt sie mehr.

Sie wollte in die neue Welt, nach Amerika, auswandern, — wohin daselbst?

Wer weiss es?

Sigurd blickt noch einmal auf das Bild nieder, das Auge des Malers entscheidet. Er legt das unheimliche Porträt zu seinen Malskizzen in die Mappe und wiederholt noch einmal in Gedanken: Wer ist es?

An der Stubentür klopft es.

Ein Säbel rasselt und Bill von Unterlüss steht auf der Schwelle.

„Störe ich, Savaburg?“

Der Adjutant sieht flüchtig auf die Uhr. „Wenn du mir ein paar Augenblicke Zeit lässt, Bill, diese Photo an den Oberst einzupacken, so kannst du während der nächsten Stunden über mich verfügen!“

Er ist bei diesen Worten aufgestanden und streckt dem Freund herzlich die Hand entgegen.

„Übrigens bei hellem Tageslicht und ohne Schwips noch einmal: Prost Neujahr, Kamerad! Möchten dir alle holden Musen gnädig sein und Onkel Fritzchen für die ganzen kommenden zwölf Monate mit dem rechten Fuss aus dem Bett aufgestanden sein!“

Bill lacht, aber die Stimme klingt wehmütig.

„Ich habe schon den Neujahrsbrief vom Onkel intus!“ seufzt er. „Heute morgen auf nüchternen Magen! Na, weisst du, Savaburg, darum gerade kam ich her!“

„O du Schreck!“ stiess der Oberleutnant kurz hervor und sah doch ein wenig ernster als sonst dabei aus. „Setz’ dich, alter Junge, und dann frisch von der Leber! Du weisst, dass jedes deiner Worte gut bei mir aufgehoben ist!“

„Ich hätte gar nicht gedacht, dass es hier in der Stadt respektive Gesellschaft solche Klatschmäuler gibt!“

„Nanu? Klatschmäuler? Deutlicher!“

„Wie ist es möglich, dass in der Stadt bekannt geworden ist, dass ich ein Schauspiel geschrieben habe?“

„Das ist bekannt geworden? Wie sollte das möglich sein! Hast du jemals zu irgendeiner Persönlichkeit davon gesprochen?“

„Zu Kameraden? Oder einem Mitglied der Gesellschaft? Nie, Savaburg, dazu ist das Geheimnis viel zu kostbar und wichtig.“

Einen Augenblick zögerte der Regimentsadjutant noch, dann legte er die Hand auf die Schulter des Freundes und sagte langsam: „Entsinnst du dich noch des ersten grossen Liebesmahls, das du anlässlich der Anwesenheit unseres allerhöchsten Chefs, Karl Ferdinand, hier bei uns im Kasino feiertest?“

Bill sah den Sprecher starr an. „Na, höre mal — das kannst du nicht verlangen! Die Feier an und für sich, ja, aber die Details, oder gar Unterhaltungen — nein, da habe ich keine Ahnung mehr von!“

Sigurd lachte: „Na, dann auch Schwamm über diesen vin triste — den rtaurigen Wein, der dich indiskret machte!“

„Ich habe selber geschwatzt?“ entsetzte sich Unterlüss und reckte sich empor, als wolle er Front gegen seine eigne Persönlichkeit machen. „Wie ist denn das möglich?“

„Wir wollen den Mantel der Liebe darum hängen, alter Junge! Aber es ist eine Tatsache, dass du selber an denkbar ungünstigster Stelle Konfidenzen über dein Talent und dein erstes Geisteskind gemacht hast!“

„Kannst du mir sagen, gegen wen?“

„Wenn du es absolut wissen willst, um die Kameraden von dem Verdacht der Indiskretion zu entlasten — magst du es hören — dem Siebelmeyer, der zweiten Ordonnanz, hast du es als Ausgeburt eines ungeheuren Schwipses anvertraut, Bill! Als ich merkte, dass du dein Talent als Geheimnis hütetest, drehte ich die ganze Chose so, als ob du im Rausch nur Shakespeare phantasiert hättest!“

Unterlüss schlug sich mit der flachen Hand aufs Knie.

„Bin ich denn total durchgedreht gewesen?“ stöhnte er, fasste sich aber sogleich und nickte. „Mir ahnte doch so was, als ob da irgendein Ulk mit dem Liebesmahl verknüft gewesen sei! — Hab’ jedenfalls herzlichen Dank, treue alte Seele, dass du mir die rettende Planke hingeworfen hast!“

„In allem Ernst gesprochen, Bill, ist es tatsächlich in den Augen deines Onkels ein Verbrechen, Dramen zu schreiben?“

Der Gefragte zuckte resigniert die Achseln. „Es ist tatsächlich so. — Sieh mal, wenn so ein alter Hagestolz plötzlich zum Vormund eines heranwachsenden Jungen gemacht wird, so hat er von ‚rationeller‘ Erziehung meist keinen Dunst und denkt, es kommt nur auf das Nörgeln und Verbieten an!“

„So eine Gemeinheit! Das nenne ich nicht erziehen, sondern schikanieren!“

Bill sah so geduldig aus. „Ich glaube nicht, dass er es bös meinte. Aber siehst du, er war so ein Landedelmann vom alten Regime! Er hielt es unter seiner Würde, einen Unterlüss mit Larifari und Faxen beschäftigt, anstatt ihn als ehrbares Mitglied der menschlichen Gesellschaft im Staatsdienst zu sehen!“

„Na ja! Alter Zopf! Gottlob, dass er abgeschnitten ist! — Und was will denn der alte Herr heute zum Neujahrstag von dir?“

„Er scheint es sich noch immer nicht abgewöhnt zu haben, mich durch irgendwelche denkeifrige Elemente beobachten zu lassen.“

„Oha!“

„Lass ihn, er hat nun mal seine Schrullen.“

„Und einen grossen Geldsack! Um dieses willen wollen wir ihn schweigend gewähren lassen! — Und was erfuhr er für ein Sündenregister?“

„Dass ich ein Tragöde sei und heimlich Stücke schrieb!“

Savaburg prustete laut auf vor Lachen.

„Mensch — so hat man dich verketzert? Das ist ja allerdings ein Kapitalverbrechen, das nur mit Seife und Blut abgewaschen werden kann!“

„Man sollte es annehmen, so ungemütlich wird der alte Herr in seinem heutigen Brief!“

„Was verlangt er?“

„Nichts Geringeres als den strikten Gehorsam, meine ‚Gesammelten Werke‘ unverzüglich zu verbrennen und ihm das Ehrenwort zu geben, dass es geschehen ist.“

„Donnerwetter — das ist hart. Und was erhältst du als Äquivalent?“

„Die Hoffnung, ihn mal zu beerben!“

„Ihn zu beerben? Weiter nichts? Das ist doch selbstverständlich!“

Bill entwickelte ein rot gebundenes Heft aus den Tiefen seines Paletots.

„Ich habe nur ein einziges Stück geschrieben, aber ich liebe es, wie ein Vater sein Kind. Und darum komme ich zu dir, Sigurd. Du bist die einzige Seele, der ich voll und ganz vertraue! Noch nie schloss ich mich einem anderen Menschen in solcher Freundschaft an, wie dir! — Ehe ich nun das Grausige tue, und meinen Liebling vernichte, gönne mir noch einmal die Freude, die Verse, welche mit soviel Begeisterung von mir niedergeschrieben sind, einmal laut vor einem anderen mit fühlendem Herzen erklingen zu hören. Hast du in den nächsten Tagen Zeit, so bitte ich dich um das Opfer etlicher Stunden, in denen ich dir das Stück vorlese! — Es dauert nicht lange — ist ja nur ein Abschied!“

Sigurd stand jäh auf und legte den Arm um den Freund.

„Kopf hoch!“ sagte er so frisch, wie es ihm bei seiner eignen Erregung möglich war. „Wir wollen genussreiche Stunden feiern. Ich habe ein gutes Gedächtnis und kann dich öfters durch ein Zitat aus deinem Werk an dasselbe erinnern. — Wann wollen wir lesen?“ Er sann einen Augenblick nach, ein jähes Aufblitzen ging durch seine schönen, geistvollen Augen. „Passt es dir übermorgen? Ich kann mich für den Abend frei machen!“

Unterlüss stand schon wieder ganz im Bann von Sigurds so liebenswürdigem Humor, er steckte sich die Zigarette an, die der Freund in eleganten Silberetui darbot.

Als er kurz danach Mütze und Säbel ergriff, um sich zu verabschieden, sah er gar nicht so verzweifelt aus wie ein Vater, der sein „Einzigstes“ bei fremden Leuten zurücklassen muss. Ernst allerdings, — sehr ernst.

Es war nämlich vereinbart worden, dass das Schauspiel „Frithjof“ sogleich bei Herrn von Savaburg in Kost und Logis bleiben solle, bis der klassische Vortragsabend nahte.

Da umarmte Sigurd den Freund abermals und sagte mit einem Hauch der Rührung in der Stimme: „Es geschehen noch Liebeswunder und Zeichen auf der Welt, Bill! Wenn der Unmensch von einem Onkel Fritz den ‚Frithof‘ verbrennen will, — wer weiss, ob er nicht in besseren Zeiten und Welten wie ein Phönix aus den Flammen steigt. Wir vergessen ihn ja nicht!“

Als Unterlüss gegangen, schellte Sigurd dem Burschen.

„Sag’ mal, Anton, weisst du hier in der Nachbarschaft Bescheid, wer an Leuten in der Nähe um uns herum wohnt?“

„Befehl, Herr Leutnant!“

„Wer wohnt dort drüben in der Mansarde?“

„Der Stadtschreiber Heinzius, Herr Leutnant.“

Wieder richtete sich Anton dabei auf und klappte, wie bei einem Rapport, die Hacken zusammen.

„Der Herr ist schon ein alter Mann, hat eine anscheinend kränkliche Frau?“

„Na, dann spring mal rüber, Anton, bestelle Herrn Heinzius einen schönen Gruss von mir, und wenn er heute nachmittag freie Zeit hätte, einen kleinen Auftrag möglichst schnell zu erledigen, so liesse ich ihn für einen Augenblick herüberbitten!“

„Befehl, Herr Leutnant!“

Anton saust die Treppe hinunter, und Herr von Savaburg nahm das rote Heft, das Bill hinterlassen, zur Hand und schlug es auf.

Mit einem Gefühl tiefer, aufrichtiger Rührung las er den stolzen Titel „Frithjof“, blätterte in den Seiten und las hier und da ein paar Jamben, die rein und gut, tatsächlich voll schöner Gedanken schienen. Eine klare, kleine, runde, sehr deutlich leserliche Schrift.

An der Tür klopft es.

Der Stadtschreiber steht auf der Schwelle und schaut dem jungen Offizier mit nicht zu verhehlendem Staunen interessiert entgegen.

„Ah, da sind Sie, mein bester Herr Heinzius! Vielen Dank, dass Sie sich herbemühen! Nehmen Sie, bitte, Platz — und lassen Sie mein Attentat in Geduld über sich ergehen!“

Der alte Mann verbeugt sich.

„Ich glaubte den Burschen zu verstehen, dass Sie meiner Dienste bedürfen, Herr Leutnant!“

„Ihrer freundlichen Hilfe, Herr Heinzius!“ Er nahm ihm gegenüber Platz. „Ein Mann der Feder, wie Sie, meistert selbst in diesen trübebösen Tagen die Zeit! Ich habe hier ein kleines Heft, das ein Schauspiel enthält. — Da dieses möglicherweise bald aufgeführt werden soll, so gebrauche ich so schnell wie irgend möglich eine Abschrift, am liebsten bis übermorgen nachmittag. — Das ist ein tolles Ansinnen, wie?“

Der alte Mann lächelte freundlich.

„Darf ich einen Blick in das Manuskript werfen, Herr Leutnant?“

„Wenn es ein wohlwollender ist, können es auch mehrere sein!“ scherzte Sigurd, reichte das rote Heft dar, und Heinzius blätterte mit prüfendem Blick, anscheinend einen schnellen „Überschlag“, eine kurze Berechnung aufstellend, darin herum. Dann blickte er nachdenklich auf.

„Bis übermorgen nachmittag — oder schon vormittag? O ja, Herr Leutnant, ich denke, das kann ich leisten — wenn ich das Heft gleich mitnehme, um den heutigen Urlaubstag noch auszunutzen!“

„Aber selbstverständlich! Damit hatte ich ja auch gerechnet und hoffte, dass Sie meinen Wunsch erfüllen können!“

Der Stadtschreiber erhob sich eilig.

„Ich will mich unverzüglich an die Arbeit begeben, Herr Leutnant.“

„Verbindlichsten Dank, Verehrtester! Noch eins. Darf ich Sie um vollkommenste Diskretion bitten und Sie ersuchen, zu niemand von dem Stück zu sprechen, keinesfalls gegen irgend jemand den Titel zu verraten, auch den Inhalt völlig zu verschweigen?“

„Unter allen Umständen — ich garantiere dafür, Herr von Savaburg!“

Der Schritt des Stadtschreibers verklang auf der Treppe, und Sigurd trat noch einen Augenblick an das Fenster, um auf die Strasse zu sehen.

Nun will er noch den Brief mit seinem Bild an den verflossenen Oberst in den Kasten stecken lassen, und dann noch einen langen Schlaf tun.

Donnerwetter! Er hat sich doch nicht auch vergriffen und statt seiner die gespenstische Samiela an den Gestrengen eingepackt? Er öffnet fürsorglich noch einmal die Mappe!

Nein, sie ist da!

Ihre Nachtmaraugen starren ihm entgegen.

Vielleicht lacht sie gleich ihm.

Wäre ja auch ein kapitaler Scherz gewesen, wenn der alte Wendhusen diese unheimliche Gastin an Stelle seines ehemaligen Adjutanten aus dem Briefumschlag entwickelt hätte!

Sigurd verwahrt das Bild noch vorsichtiger und besser, dass es nie ein unberufener Blick treffen kann.

Und dann legt er sich hin und schläft.

Im Spukschloss Monbijou

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