Читать книгу Ende gut, alles gut - Nataly von Eschstruth - Страница 4

Erstes Kapitel.

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„Ich will nach dem Ecktor!“ —

„Haben Sie dort eine Wohnung?“

„Ja, — aber nur ein Loch, — gerade zum Einkriechen! Schmal und eng, dass man sich stösst, will man das Haupt heben! — Und doch habe ich Gott gedankt, dass ich’s hatte. — Bis heute, nun soll’s anders werden. Wirklich schön, wirklich was Reelles und Sicheres, nicht nur zur Miete, wo man jeden Augenblick herausgeschmissen werden kann und nicht weiss, ob man am kommenden Tag noch ein Anrecht an das Winkelchen hat!“ —

„Verstehe! verstehe Sie, mein Herr! — Heutzutage! Da stehen sie wie die Wölfe und lauern auf jede Dachstube und jedes Kellergelass, nur um unterschlüpfen zu können. Wo ein Plätzchen frei wird, da stürzen sie sich drauf los und fragen den Teufel danach, ob sie über Leichen gehn!“

„Es sind greuliche Zeiten!“

„Für uns nicht mehr! — Ich habe ein paar Wochen lang gekämpft wie ein Rasender, und heute habe ich gesiegt!“

„Ich hörte, dass Sie in der Elektrischen sagten, sie wollten nun raus aus der Stadt?!“

„Will ich auch! — So schnell, wie ich Unglückskerl mit meinem blindgeschossenen Auge kann!“

Der Sprecher wandte seinem Begleiter das blasse, durchfurchte Gesicht zu und hob mühsam das Lid über dem erloschenen Augapfel.

„Haben das Andenken aus dem Feld mit heimgebracht?“

„Hätt’s lieber den Halunken drüben in ihrer Champagne gelassen! — Da kommt übrigens die O-Bahn! Sehen Sie den Pfahl an der Haltestelle? Von dort können Sie direkt bis zum Stadthaus fahren!“

„Danke vielmals, mein Herr, dass Sie mir so freundlich den Weg gewiesen!“

„Gern geschehn!“

„Und zu Ihrem Auszug aus der Steinwüste alles Gute! Möchten Sie dem Glück entgegengehn!“

„Na, mir deucht’s wie das Paradies selber! Verwöhnt ist man hier nicht worden, und sonst hab ich immer gedacht, als es ehemals noch Friedenszeiten waren, nur im Grab könne einen die Erde drücken! Seit dem letzten Vierteljahr aber habe ich es gespürt, wie schwer sie mit all ihren Sorgen und Qualen auch im Leben schon lasten kann! — Na, draussen soll’s besser werden! — Wenn’s keine Hoffnung gäbe, dann könnten wir Schluss machen!“

„Da haben Sie recht! Also Kopf hoch und mit frischem Mut hinein in ein besseres Leben!“ —

Der Fremde, welcher sich seinem Nachbar aus der elektrischen Bahn angeschlossen hatte, um von ihm sicher den Weg zu der Innenstadt gewiesen zu bekommen, hob noch einmal mit höflichem Dank den Hut und schritt hastig, sein kleines Mustertäschchen in der Hand, quer über den Strassendamm.

Der Einäugige blickte ihm kurz nach, und ein Lächeln ging über die abgezehrten Wangen. Dann wandte er sich zur Seite, einem vielstöckigen, alten Hause zu, und beschleunigte die Schritte.

Das Ecktor galt für keine gute Gegend. Es lag im Arbeiterviertel und schien eingewickelt in dunkeln Qualm aus Fabrikschloten und rangierenden Eisenbahnzügen von dem Güterbahnhof.

Wie ein Schauer des Grausens ging es durch die hohe, knochige Gestalt, — wie ein Aufstöhnen der Erleichterung hob es die Brust. Über der Souterraintür war ein grell buntes Schild angebracht:

„Destillation zur ‚Schönen Melusine‘“.

Ein pinkertsblaues Meer, in welchem eine fischgeschwänzte Seejungfrau, deren Hand ein bekanntes kleines Spitzglas einladend emporhielt, herumplätscherte.

Aus dem Türspalt heraus strömte dem Nahenden ein starker Duft entgegen, angetan, um einen Hungernden zur Raserei zu bringen.

Bratkartoffeln, — gedämpftes Fleisch —

Und als die Tür vollends aufgetan ward, da schaute man in Utopien aller Wollust hinein.

Gedeckte kleine Tische, mit Bierseideln und Schnapsgläsern, — für die, welche ein warmes Essen bestellten, sogar noch mit Tischtüchern belegt.

Ein Weib erschien, stemmte die vollen Arme in die Seiten und nickte dem Herrn aus der „Vierten“ droben behäbig zu.

„Wollen Sie denn wieder vorübergehn, Herr Ebstorf? Ehe Sie man so hoch an Ihre Himmelsleiter ruffklettern, genehmigen Sie doch ein Schlückchen zur Stärkung!“

Der Angeredete blieb stehn, und sein gesundes Auge funkelte seltsam zu der Blondhaarigen herüber.

„Ihre Gaststube sieht allerdings sehr verlockend aus, und wenn Sie so freundlich einladen, gehe ich gern mal hinein!“ — Er trat hastig über die Schwelle. „Einmal ist keinmal, und ich denke, als Ausnahme kann man schon einmal leichtsinnig sein!“

„So ist’s recht! Wird Ihnen schon so gut gefallen bei mir, dass Sie Stammgast werden! — Was soll’s denn sein! — Uff Buttermilch legen Sie wohl keinen Wert?“

Ebstorf nahm den gutmütigen Spott nicht übel.

„Bei einer Melusine kann man eigentlich nur Wasser verlangen! Das ist doch ihr Lebenselement?“

„Und ob! Aber es muss Feuerwasser, lebendiges und kraftvolles sein, — was Leib und Seele aufrüttelt!“ nickte die Wirtin, trat an den einfachen Schanktisch und goss ein kleines Gläschen ein.

„Etwas ganz Feines! Pfefferminz! Den trinkt keen Millionär besser ...“

„Und was kostet er, Frau Frese?“

Die Gefragte zuckte einen Moment mit den vollen Schultern unter den breiten, weissen Schürzenträgern.

„Na, weil Sie es sind, Herr Ebstorf! Als Hausbewohner! Für die Mieter hier habe ich Extrapreise! Sagen wir also sechzig Pfennige, das ist bei der heutigen Knappheit halb geschenkt!“

Ebstorf hielt den Likör mit Kennermiene gegen das Licht.

„Ich danke Ihnen, Frau Frese. Tatsächlich nicht teuer.“ Er kostete. „So etwas kommt nur selten noch an unsereinen.“ Mit hastigem, fast gierigem Zug trank er aus. „Das wärmt! Der April macht sich noch gewaltig fühlbar, und zum Heizen langt es schon längst nicht mehr.“

„Sie sollten öfters herunterkommen und hier im Saal den Ofen mitgeniessen! Ich erlaub’s ja gern, — es ist ja den ganzen Tag über nicht alles besetzt, und verzehren brauchen Sie ja auch nichts!“

„Danke, Frau Frese! Solche Worte hört man nicht oft. Aber ich habe Frau und Kinder droben, und je mehr und enger wir uns in dem kleinen Käfig zusammendrücken, desto weniger frieren wir! — Hier das Geld!“ — Er zählte die Papierläppchen hin. — „Und wenn Sie mal wieder Wege zu besorgen haben oder Kohlen schippen lassen ... meine Jungens helfen die nächsten Tage noch gern!“

„Gut, Herr Ebstorf — ich denke an Ihnen!“ Die Blonde nickte hastig einen freundlichen Gruss und wandte sich geschäftig zwei Arbeitern zu, welche aus der nahen Gasanstalt als die ersten von den Mittagsgästen eintraten. Der Kriegsinvalide stülpte den Hut wieder auf und verliess hastig die Destille. Er sah zufrieden aus; die vergnügte Miene, welche sein hageres Gesicht aufwies, kannte man seit langem nicht mehr an ihm.

Mit grossen Schritten stieg er die abgetretenen Stufen der Hintertreppe empor.

Sonst hatte er meist bei der zweiten Etage eine kurze Ruhepause gemacht. Heute ging sein Atem schnell und leicht. Er rastete nicht, sondern strebte ungeduldig seinem „Nest im Wipfel“ zu.

Mit knöcherner Hand schlug er gegen die Türe.

Man schien ihn schon erwartet zu haben. Schnell ward geöffnet, und ein Jungmädchen blickte ihm mit angstvoll forschendem Blick entgegen.

Wie alt mochte sie sein?

Das war schwer zu sagen.

Das blasse, sehr schmale Gesichtchen sah ernst und gereift aus und passte eigentlich nicht zu dem sehr zarten, beinah krüppelhaften Kinderfigürchen, welches einer Achtjährigen anzugehören schien.

Kraftlose, kleine Hände, eine eingesunkene Brust und breite Schatten um die Augen erzählten, so stumm sie auch waren, eine herzergreifende Leidensgeschichte.

Die grossen dunklen Augen blickten aber so verständig und freundlich in die Welt, dass jeder überzeugt war, Michaela musste wohl schon ihre zwölf bis vierzehn Jahre zählen, gewiss schon konfirmiert sein.

„Ach, Vater! — Wie schön, dass du glücklich wieder daheim bist!“ atmete sie tief auf, und der erst sorgenvolle Blick strahlte auf, als sie das heitere Gesicht des Zurückkehrenden schaute: „Man sieht es dir schon an, dass du gute Nachricht bringst!“

Ebstorf schob die Sprecherin nicht liebevoll, aber auch nicht unfreundlich zur Seite und schritt an ihr vorüber in die Küche hinein.

„Hattest du Angst, ich könnte unterwegs gefressen werden, Michaela?“

„Die Eisenbahn ist jetzt so unsicher, Papa! Man hört so viel von allerhand Unglücken!“

Er schüttelte amüsiert den Kopf. „Bin mit heiler Haut davongekommen! Wo ist die Mutter?“

„Sie hängt die Wäsche in der Bodenkammer auf, und Grete und Suse helfen dabei!“

Ein schneller, etwas düsterer Blick aus des Invaliden Auge streifte die Sprecherin.

„Du konntest nicht mit? — Kannst du denn immer noch so schlecht die Stiege herauf? — Der Doktor meinte doch, die Schwäche in deinen Beinen werde sich bald geben! Die sei nur nach dem Scharlachfieber zurückgeblieben, ebenso dein verkümmertes Wachstum, — das könne alles bald überwunden sein?!“

Die Kleine nickte tröstend und griff wie bittend nach der Hand des Sprechers.

„Die Kost ist noch zu gering!“ sagte die Köchin von Direktors unten, — „und weil ich ihr nun die Kartoffeln schäle und ihre Sachen flicke, da hat sie mir das ganze Essen zugesteckt, welches überblieb, weil das Fräulein in der Garküche austeilt und dort mit verköstigt wird! — Nun merke ich schon, dass es viel besser wird, — ich werde gar nicht mehr so schwach, wenn ich ein Weilchen stehe!“

„Und ausserdem bekommst du doch noch deine Suppe vom Verein?!“

„Die hat der Franzel während der Zeit bekommen, weil er so wächst und immer weint, dass er nicht satt würde!“

Ebstorf fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar und stöhnte auf.

„Grauenhaft! Wo soll man denn bei den heutigen Preisen das Geld hernehmen, um nur noch das Nötigste zu kaufen!“ und dann warf er plötzlich den Kopf zurück und lachte hart und kurz auf. „Das soll nun anders werden, Kind! Jetzt werden wir Bauern und bauen uns den Roggen selbst!“

„Vater!“ das klang wie ein Jubelschrei — „bekommst du das Eigenheim?!“

Er nickte. „Alles abgemacht! Wenn die Mutter herunterkommt, erzähle ich. — Wo sind die Jungens?“

„Franzel ist mit seinen Schularbeiten fertig und ist nun mit seinem Wichskasten wieder an die Haltestelle von der Elektrischen, um zu warten, ob sich jemand die Stiefeln abbürsten lässt!“

Ebstorf zuckte die Achseln. „Armer Bengel! Er wartet oft Stunden lang vergeblich! — Und Frieder? Wo steckt der?“

Michaelas blasses Gesichtchen färbte sich mit jähem Rot. Wie beschwörend verschlang sie die mageren Finger.

„Väterchen ... er musste wieder nachsitzen und kam so spät und sitzt nun in der Kammer hinten und lernt noch für morgen!“

„Wieder nachsitzen?!“

„Ach lieber, guter Vater ... es wird ihm ja so blutsauer zu lernen!“ flehte Michaela mit Tränen in den Augen; es ist ja kein böser Wille: er begreift es nicht ... und weil der Lehrer so schlägt, kann er oft aus lauter Angst das Auswendiggelernte nicht mehr aufsagen!“

Ebstorf hatte den Hut an den Wandnagel gehängt und trat in das kleine Nebenstübchen, wo neben zwei Betten noch der Überrest des ehemaligen Mobiliars stand. — Ein schönes Sofa, ein runder Tisch, ein Sessel und der feine Schrank. —

Davon hatten sich die unglücklichen, verarmten Menschen noch nicht trennen können.

„Das ist’s ja! Er hat keinen Lernverstand!“ sagte er erstaunlich milde; „sonst so ein stämmiger, geschickter Bengel, dem alles Handwerk glatt von den Fingern geht! Na ja, passt ja ganz gut. — Wird grade auf dem Papenburger Moor in seinem Element sein, — da passt er hin und kann uns mehr nützen, wie hier mit all der elenden Magisterweisheit!“

Michaela atmete auf wie erlöst — der arme Frieder braucht sich nicht mehr, zitternd vor Angst, vor einer zweiten Tracht Prügel zu verstecken.

„Soll ich dir eine Tasse Kaffee einschenken, Papachen?“

Er schüttelt den Kopf und wirft sich in die Sofaecke nieder.

„Wenn die Mutter kommt, essen wir wohl gleich?“

„Kartoffelsalat! Alles schon fertig! — Und eben höre ich auch den Franzel die Treppe herauf pfeifen!“

Mit unsicheren Schritten wankte das Jungmädchen abermals zur Küchentür.

Lang aufgeschossen und dennoch kräftig trappst der Junge herein.

„Heute hat’s geschafft!“ kreischt er voll freudiger Aufregung, — „Michele! Liebes Michele! Drei Mark!“

Michaela schlägt die Hände zusammen. „Du liebe Zeit, ist das eine Freude! So viel hast du seit langem nicht gehabt!“

„Wo sie absprangen an der Elektrischen, stand grade eine recht schmutzige Wasserpfütze ... die hat’s mir eingebracht! Guten Tag, Vater! — Bist wieder zurück!? — Na ... und! ... Ich sah dir’s schon an ... lachst ja ... dann hast du das Häuschen bekommen!“

Ebstorf fasst den Jungen bei beiden Schultern und schüttelt ihn vergnüglich.

„Du Schlingel ... Drei Mark verdient? Na, zwar nur ein Tropfen auf einen heissen Stein, aber doch immer besser wie nichts! Scheint ja ein leidlicher Tag heut zu sein! Da kommt ja auch die Gesellschaft vom Boden herunter ... so, und der Frieder äugt auch um die Tür herum ... heda Minchen! — Jetzt gibt’s Neuigkeiten!“

Frau Ebstorf trat hastig ein.

Sie stand in mittleren Jahren, von kleiner, gedrungener Figur und einem Gesicht unter leicht ergrautem Haar, in welches alle Entbehrungen, Sorgen und bittere Not ihre Runen gezeichnet.

„Vater!“ rief sie, streckte ihm beide Hände entgegen und blickte, ebenso wie die Kinder, ängstlich forschend nach seinem Gesicht: „Wie steht’s“

„Gut, Minchen, gut! — Der Würfel ist gefallen, nun wollen wir nur hoffen und wünschen, dass alles für die Zukunft so klappt, wie ich das jetzt berechnet habe; dann sind wir aus allem Druck heraus!“

„Hurra! Hurra! Wir gehen aufs Land!“

„Wir bekommen ein Eigenheim!“

„Wir siedeln uns an!“

Die Kinder überschrien sich in jauchzender Freude, Franzel warf stürmisch die Mütze in die Luft und tobte: „So wie Robinson Crusoe! oder Marks Riff! Dann geht es in Welt und Feld hinein!“

Suse und Gretel hingen sich aufgeregt an den Arm des Heimkehrenden und taten mindestens zwölf Fragen zu gleicher Zeit.

„Ob sie einen Garten hätten? Und eine Ziege? Und gar ein Lamm? Kaninchen doch bestimmt? Und Hühner? Und wenn es gar eine Kuh sein könnte? Und ob in dem Wald auch Blaubeeren und Erdbeeren wachsen? — Wölfe gäbe es doch wohl nicht? — Und ob man da Holz sammeln könne, um im Winter den Ofen zu heizen, dass man nicht mehr so schrecklich frieren müsse? — Und ob es auch ein Dorf da gäbe, — mit Dorfkindern? Und einen Hund müssten sie doch auch haben? Was wohl für einen?“

„Einen Spitz?“

„Ach nein, ein Dackel ist drolliger!“

„Oder einen so grossen Schäferhund, die so klug sein sollen!“

„Wenn wir ein Schwein haben, schlachten wir doch auch?“

„Und können Wurst und Schinken essen?“

„Und die Kartoffeln wachsen auf dem Feld? — Nicht, wie Gretel glaubt, auf den Bäumen?“

„Auf Bäumen?“

„Ob es wohl einen Kirschbaum gibt?“

„Ein Apfelbaum wäre noch schöner!“

„Oder Pflaumen!“

„Am besten von allem und jedem was!“

„Nüsse wachsen doch im Wald?“

„Ich habe mal eine Geschichte gelesen vom Hühnchen und Hähnchen auf dem Nussberg! Wenn wir auch solch einen Berg in der Nähe haben, dann gehen wir mit einem grossen Sack hin und sammeln tüchtig ein!“

„Vivat! Dann haben wir aber für Weihnachten genug!“

„Ein Junge in der Schule war als Ferienkind auf dem Land, der erzählte, sie hätten dort Euleneier und Kräheneier aus den Nestern geholt, die schmeckten so fein!“

„Dann klettern wir auch auf die Bäume!“

„Frieder kann ja so grossartig klettern!“

„Und die Pilze, die im Wald wachsen, wie sie in dem Kolonialladen am Ecktor in Körbchen voriges Jahr ausstanden, und so teuer waren!“

„Oh, die schmecken köstlich! Direktors haben ein paarmal welche gekauft! Nicht wahr, Michaela, du hast sie mal aus dem Einweckglas gekostet?“

„Ja, ja, ach, wenn man die für uns alle kochen könnte!“

„Warum nicht?“ Ebstorf richtete sich schmunzelnd in der Sofaecke empor und blickte nach der Schüssel voll Salat, welchen Frau Minchen, bebend vor Aufregung, aus der Küche herzutrug, derweil Michaela Teller und Gabel vor dem Hausherrn noch gefälliger zurecht rückte. „Im Kiefernwald wachsen viele Pilze, und ich kenne mich ganz gut auf sie aus. Während des Manövers in Schlesien hat man die Dinger würdigen gelernt, sie ersetzen ja vollkommen das Fleisch!“

„Ach ja, auf dem Land wächst einem doch gar manches zu, was uns armen Leuten viel Geld erspart!“ seufzte die Hausfrau tief auf, und in ihren müden Augen glänzte es, wie ein Schimmer alter, vergangener Freude.

„Nun wird erst gegessen, und dann erzähle ich alles Nähere!“

„Dürfen wir dabei sein, Vater?“

„Gewiss. Wenn die Eltern über die wichtigsten Lebensbedingungen verhandeln, so können die Kinder zuhören und daraus lernen und Nutzen ziehen.“

„Ganz recht, lieber Mann! — Wenn sie erkennen und sich zu Herzen nehmen, wie viel ernste Sorgen es uns macht, so viel Mäuler zu stopfen und alle in Ehren durchzubringen, so nehmen sie wohl das Leben mit aller Arbeit, welche es in jetzigen Zeiten selbst für Kinder mit sich bringt, recht ernst.“

Mit leuchtenden Augen sass man im Kreise und sprach dem einfachen Mahle zu.

Die Mutter wusste alles so schmackhaft zu bereiten, dass auch das einfachste noch gut schmeckte.

In einem Blumenkasten Schnittlauch und Petersilie lieferte schon manch gutes Gewürz und sparte die teuren Zwiebeln, und als gar Michaela auf den guten Gedanken kam, Kresse auszusäen, da gab es manch leckeres Kränzchen um den Kartoffelsalat und mundete allen noch einmal so gut.

Der Efeu in den grünen Kästen auf Direktors Balkon war vertrocknet, und neuer sollte nicht angepflanzt werden; da überliess man die Holzkisten freundlich dem siechen Kind, welches stets so gefällig in der Küche half.

Es gab so viel langweilige Arbeit, welche sich alle gut im Sitzen verrichten liess, und zu welcher die Grossen nicht sonderlich Lust verspürten. Mit Geld zahlte man nicht gern; da gab es als Lohn Essen und hier und da ein Geschenk, wie die Holzkästen oder ein altes Hemd oder einen Unterrock, aus welchen immerhin noch Flicken für andere Kleidungsstücke geschnitten werden konnten.

Wer hätte das alles früher gedacht, wo sie selber so manch altes Röckchen und Kittelchen verschenkt hatten und gar nicht ahnten, wie weh der Hunger und die Kälte tun! —

Früher hatten die Eltern ein so hübsches Geschäft.

Alles, was sie auf Malakademie und in den oberen Schulklassen brauchen: Pinsel, Farben aller Art, Malleinwand, Gliederpuppen zum Aktzeichnen, Vorlagen in Gips und Karton, Kohle, Kreide und Sikkativ, Leinöl und Staffeleien.

Da kamen die jungen Damen und Herrn täglich und kauften, und die Familie Ebstorf hatte ein reichliches Auskommen und lebte glücklich und sorgenfrei.

Der böse, schreckliche Krieg schuf bald einen traurigen Wandel.

Anfänglich schmolz die Zahl der Käufer sehr zusammen, weil viele, fast die meisten Malakademiker unter die Fahnen eilten und auch viele Künstlerinnen die Paletten und Pinsel aus der Hand legten, um als Krankenpflegerinnen oder in sonstigen Wohlfahrtsveranstaltungen tätig zu sein.

Da merkte man den Ausfall früherer Einnahmen schon gewaltig; und als ja die bittertrübe Stunde kam, wo der liebe Vater einberufen und in das Feld hinausgeschickt ward, da hub die Not vollends an.

Die Mutter verstand nichts von dem Geschäft. Die Hilfe, welche der Vater noch in Gestalt eines jungen Seminaristen genommen, erwies sich als sehr trügerisch, denn der junge Mann war nicht ehrlich, und die Fehlbeträge in der Kasse mehrten sich in so erschreckender Weise, dass Frau Ebstorf den Seminaristen schleunigst entlassen musste.

Dazu kam, dass die Zahl der Käufer täglich mehr zusammenschrumpfte, je unerträglicher sich die Not der Kriegsjahre gestaltete.

Die teure Ladenmiete konnte nicht mehr aufgebracht werden, die kleine Wohnung, welche sich daran schloss, musste ebenfalls aufgegeben werden, aber so bescheiden, wie die Familie auch ein Unterkommen, vier Treppen hoch, in dem Fabrikviertel gefunden, so reichten die wenigen Zinsen ihres kleinen Vermögens doch nicht mehr aus, die rasend anwachsenden Unkosten zu decken.

Und anstatt besser, wurden die Zeiten immer schlimmer, so greulich, dass sie kaum noch zu ertragen waren.

Die Revolution schaffte auch keinen Wandel zum Bessern, und als der Vater gar als Invalide aus dem Feld heimkam und nirgends Arbeit, nirgends eine bezahlte Beschäftigung fand, da schien die Not am grössten zu sein.

Mit ihr aber auch Gottes Hilfe am nächsten. Wo sollte noch Kleidung, wo noch Essen und Trinken für die Eltern und die fünf heranwachsenden Kinder herkommen? Werke der Barmherzigkeit und Wohltätigkeit reichten nicht mehr aus, um so viel über Wasser zu halten.

Bis zum Erfrieren, bis zum Verhungern schränkte man sich ein! —

Wenn auch der letzte Rest des kleinen Vermögens, der Spargroschen, noch aufgezehrt war, dann blieb kein Trost und keine Hilfe mehr.

Da kam’s dem Vater plötzlich in der Nacht wie ein Traum.

Er war wieder Soldat zu Friedenszeiten und lag in einem hübschen, grossen Bauernhof im Quartier.

Der Besitzer war ein freundlicher Mann, mit welchem er sich gut stand. Es war zur Erntezeit; ein aufziehendes Gewitter bedrohte die Nachmahd.

Obwohl es Sonntag war und die Felddienstübungen der letzten Tage grosse Ansprüche an die Kräfte der Soldaten gestellt hatten, stellte sich Ebstorf dennoch allsogleich zur Verfügung, auf der Wiese mit zu arbeiten und zu helfen, das Grummet noch rechtzeitig zu bergen.

Es war ein Jahr, in welchem das Futter der grossen Dürre wegen sehr knapp war, und darum war der Bauer doppelt erkenntlich und versicherte, zu jedem Gegendienst bereit zu sein, falls auch er einmal durch dies oder jenes helfen könne.

Nah bei dem Hof waren kleine und einfache, aber schmucke Häuschen mit Stallung erbaut, welche Arbeiterfamilien zur Unterkunft dienen sollten.

Eines derselben hatte ihm der idyllischen Lage wegen besonders gefallen, und da er sich damals seine Zukunft so total anders ausmalte, als wie sie sich nun gestaltet hatte, so sprach er dem Bauer im Scherz den Gedanken aus, dass er hier wohl mal als Sommergast wohnen möchte, wenn er seine Braut Minna heimgeführt und sich in der Grossstadt eine Familie gegründet habe.

Hans Uthlede graute sich den Kopf.

Auf Sommerfrischler verstand er sich nicht aus und meinte, mit dem Vermieten, da hätte das keine Art nicht.

Gedacht habe er schon daran, das Häuschen mit ein paar Morgen Acker zu verkaufen, denn für Tagelöhner sei es ihm zu weit entlegen, und so ganz ohne Not möchte er es auch nicht leerstehen lassen.

Wer hatte aber in einer so üppigen, genussfreudigen Zeit des damaligen Deutschlands noch Sinn und Interesse, sich fernab von allen Grossstadtgenüssen in dem Papenburger Moor anzukaufen? Er, Ebstorf, am wenigsten.

Und nun? In dem so grausigen Wechsel und Wandel der Zeiten?

So lebhaft hatte er davon geträumt, sah das allerliebste Häuschen inmitten wogender Kornfelder und grüner, am Moor gelegenen Wiesen, mit dem nahen Saum duftigen Kiefernwaldes, welcher sich weit in das Land hinauszieht, bis zu den grossen, ehemals königlichen Forsten.

Wie Sonntagsruhe und Feiertagsfrieden liegt es über dieser stillen Welt, und er steht in Gedanken wieder in der grossen Flurdiele bei Hans Uthlede, und riecht die dicken Eierkuchen in der Pfanne.

Als er am Morgen aufwacht, sitzt seine Frau neben ihm und weint bitterlich. Sie weiss nicht mehr, was sie kochen soll — die letzten paar Heller hat sie soeben für die Gasrechnung hingegeben.

Sie hat weder Holz noch Kohle, — wo soll sie in dieser kalten Frühlingszeit noch eine warme Suppe kochen, wenn nicht auf Gas?

Und die Kinder jammern, dass die Stückchen Brot so klein sind, dass sie so Hunger haben, so schrecklichen Hunger!

Da presst Ebstorf die kalten, bebenden Hände vor das fahle Antlitz und denkt an seinen Traum.

„Minna!“ flüsterte er, „wir haben noch einen Rest Vermögen, das Erbe von Tante Lottchen. Bist du einverstanden, so wage ich ein Hasard und erwerbe uns einen kleinen Besitz auf dem Land, wo wir durch unserer Hände Arbeit unsere Kinder noch ernähren können!“

„Auf das Land?“ Die blasse Frau starrt ihn einen Augenblick hoffnungslos an. „Dazu gehören doch viele Kenntnisse!“

„Für einen so kleinen Betrieb nicht. Ich bin als Junge öfters auf dem Gütchen von Onkel Fritz gewesen. Man lernt leicht.“

„Aber gesundheitlich?“

„Ausser meinem Auge fehlt mir nichts. Ich werde es leisten können. — Während des Manövers, im Sommer 1911, war ich in einem sehr netten Bauernquartier im Papenburger Moor; dort habe ich ein kleines Anwesen gesehen, welches mir besonders gut gefiel. — Die ganze Gegend dort war billig und angenehm zum Wohnen, vielleicht im Herbst bei dem Nebel etwas feucht, aber wir alle leiden ja nicht an Rheumatismus. Nun ist es das beste, ich schreibe sogleich an Uthlede und lege ihm unsere trostlosen Verhältnisse klar. — Ist das Häuschen noch zu kaufen, so legen wir unser letztes kleines Kapital in dem bisschen Grund und Boden an.“

„Und wenn es seit der langen Zeit in andere Hände übergegangen ist?“ klang es zaghaft von Frau Minnas Lippen.

„Nun, dann sehe ich mich in jener Gegend nach etwas anderem um, oder ich wende mich an eine Siedlungsgesellschaft. Aber ehrlich gesagt, wäre mir ein bereits fertig kultiviertes Stück Land lieber, wie eine Scholle, welche erst urbar gemacht und bebaut werden muss!“

„Schreib gleich, lieber Arnold! Ach, mir ist’s, als ob plötzlich ein Sonnenstrahl durch dieses Dunkel trostloser Verlassenheit bricht!“

Herr Ebstorf schrieb auch zur selben Stunde einen langen Brief an seinen ehemaligen Gastfreund, und in hochgradiger Aufregung erwartete das Ehepaar dessen Rückäusserung.

Der Bauer war eine ehrliche Haut und quälte unglückliche Menschen nicht durch eine unnötige Wartezeit.

Seine Antwort traf beinah umgehend ein. Leute, welche in der Einsamkeit leben, haben ein gutes Gedächtnis und entsinnen sich oft unbedeutendster Kleinigkeiten voll zäher Treue.

So war auch jener Sonntag voll Sorge um die verregnete Nachmahd dem alten Mann lebhaft in Gedanken geblieben, und er freute sich aufrichtig, von dem ehemaligen wackeren Grenadier noch einmal Nachricht erhalten zu haben.

Sie hätte nur im grossen Ganzen besser sein sollen, denn der Verlust des Auges und die jammervolle Notlage der Familie in dieser schweren Zeit hätten gern im Pfefferland bleiben können.

Und das kleine Häuschen?

Da wohnt schon seit Jahren der Altenteiler Sperber drin, mit der Frau und zwei alten Schwestern, die spinnen und weben für den Hof Flachs und Wolle auf und reiben den Mais ab. — Aber sie sind alle zusammen hochbetagt, und es taugt nicht, dass sie so allein für sich hausen, namentlich nicht zur Winterszeit, wo alten Leuten leicht mal was zustossen kann. — Die kommen also gern zu ihm auf den Hof, wo er sie noch unterbringen kann. — Es galt ja hauptsächlich darum, dass das Häuschen bewohnt war. — Wenn er, Ebstorf, so viel junges Leben mitbringt, so wird es vortrefflich gehen. An Acker kann er ihm auch an die acht Morgen abgeben, auch ein Stück Wiese dabei. Und teuer soll’s nicht sein. Das beste wäre schon, er käme persönlich, dann könnte man alles gleich besprechen.

Welch eine Aufregung kann so ein kleines Blättchen Papier schaffen! Die Kinder waren ganz ausser sich vor Entzücken in dem Gedanken an die goldene Freiheit in Wald und Feld, und so war Tag und Nacht von nichts anderem die Rede, als von dem eigenen Haus und Acker in dem Papenburger Moor, bis beim nächsten Morgengrauen Vater Arnold sein Reisegeld sorglich nachzählte und zum Bahnhof eilte.

Er hatte seine schöne, recht kostbare Geige in der nahen Musikalienhandlung verkauft und einen schönen Erlös gehabt.

„Mit schwieligen Händen spielt ein Ackerbauer keine Largos und Träumereien mehr!“ lächelte er resigniert, „und ob sie beim Umzug noch zu Schaden kommt, oder ob ich sie gleich dran gebe, dass ich die Reise und den Möbeltransport noch dabei herausbekomme, das stellt sich auf eins.“

So war er abgereist, und Michaela wartete hochklopfenden Herzens in der Küche auf seine Heimkehr, um die erste zu sein, welche aus seinem Gesicht gute oder trübe Botschaft abliest, denn noch konnte ja ein zu hoher Kaufpreis alle schönen Träume in letzter Stunde null und nichtig machen!

Aber nein!

Alles war anscheinend zu grösster Zufriedenheit erledigt, denn so vergnügt wie heute hatte Vater schon lange nicht mehr ausgeschaut!

So zerstreut war auch noch nie zuvor ein Mittagessen in dem kleinen Kreise eingenommen.

Als die kleinen Mädchen den Tisch abgeräumt hatten, holte Vater zu aller Erstaunen eine Zigarre aus der Brusttasche, welche ihm der alte Uthlede als Friedenspfeife noch mit ein paar anderen in die Hand gedrückt, und steckte sie sich voll innigen Wohlbehagens an.

Frieder dachte mit keinem Gedanken mehr an die Strafarbeit und das Nachsitzen in der Schule, was sonst nicht ohne bittere Tränen, Weh und Ach abging, sondern sass gleich allen anderen mit weit offenen Augen und glutroten Wangen und lauschte den Worten des Vaters, welcher langsam begann.

„Nun will ich dir mal erzählen, liebe Minna, wie das alles sich zugetragen hat und wie ich mit dem alten Hans einig geworden bin, das Häuschen zu erwerben! — Steck mir mal einen Fidibus am Herdfeuer an, Jung! Die Mutter sagt, der Gashahn sei abgeschraubt, weil wir nicht mehr zahlen können, und die Kartoffeln seien auf dem Brikettgrus gekocht, welchen ihr Buben nach dem Schippen vom Bäckermeister drüben geschenkt bekommen habt? Gut. Ich hoffe, in acht Tagen kochen wir die ersten auf dem eigenen Herd im Papenburger Moor!“

Wieder ein jauchzendes Entzücken der Kinder.

Frau Minna aber bebte vor Erregung an allen Gliedern und wischte mit den blauroten, aufgesprungenen Händen die Tränen aus den Augen.

Sie hatte sich so lange tapfer gehalten. In aller Angst und Not war sie fest und zuversichtlich geblieben; jetzt, wo zum erstenmal wieder nach langer Zeit ein Sonnenstrahl der Hoffnung durch die dunklen Wolken brach, sank sie für einen Augenblick schwach in sich zusammen, als sei die Freude eine noch ungewohnte grössere Last, wie alle andern Bürden zuvor.

Ende gut, alles gut

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