Читать книгу Halali! - Nataly von Eschstruth - Страница 5
Zweites Kapitel
ОглавлениеFrau zur Medden liess tief aufatmend das wunderliche Skriptum sinken.
Einen Augenblick sass sie wie versteinert vor Überraschung, dann erhob sie sich, dehnte langsam und ruckweise die vollen Arme und sagte mit dem Brustton der Überzeugung: „Uff! — Das war eine Leistung!“
Von seiten der kleinen hysterischen Schwiegermama einfach tadellos, geradezu entzückend! — So wird man über Nacht Kleingrundbesitzerin!
Übermächtig gross ist das famose Erbe ja nicht, aber es ist keine Misswachsscholle und Hungerbonjour, sondern hat ganz guten Grund und Boden und vor allen Dingen einen herrlichen Wald, nach dem es ja eigentlich Waldesfelde hiess.
Und die Jagd!
Christels Augen leuchten.
Sie ist sehr sportlich beanlagt, eine passionierte kühne Reiterin, eine „Froschjagd- und Jägermeisterin par excellence“, wie Papa sie scherzend tituliert.
Sie hatten früher selber ein Gut.
Noch immer stiegen die Tränen in die Augen der jungen Witwe, wenn sie noch kurz zuvor daran dachte.
Ihre Wonne, ihr Entzücken war diese Heimat, die ihr die seligsten Jahre beschert, deren sie sich zu erinnern wusste.
Aber was half all ihr Klagen?
Mutter starb, Papa wurde alt, es war eine so günstige Gelegenheit, gut zu verkaufen. So geschah es.
Aber ihre Seele litt Heimweh.
Sie heiratete.
Einen siechen, müden Veteran, einen Greis von sechsundzwanzig Jahren!
Seine Stiefmutter war sehr reich, er kaufte ihr nach langen Überredungskünsten ein Landgut, mehr für sich als für sie, denn er brauchte gute Waldluft und Pflege, und Christel tat er den grössten Gefallen, wenn er ihr ein verlorenes Paradies zurückgab.
So wurde er über den Ruhesitz Unterkieferndorf bald handelseinig.
Kaum, dass er es richtig angesehen hatte.
Der schwierigen Zeiten wegen sollte ein grösseres Rittergut aufgeteilt und als zwei selbständige Besitztümer verkauft werden.
Es waren aber keine selbständigen.
Was anfänglich allen wie ein besonders angenehmer Vorteil deuchte, die unmittelbar aneinanderstossenden Wohn- und Wirtschaftsgebäude, mittels der man sich so nützlich in die Hand arbeiten konnte, erwies sich bald als ein Loch, in das alle Illusionen hineinrutschten und das sich nicht mehr zustopfen liess, je weniger, je schroffer und grösser es von Eigensinn, Unverstand und Dickköpfigkeit aufgerissen ward.
Ihr Mann musste alsogleich nach dem Ankauf ein Sanatorium aufsuchen, das er nicht mehr verlassen sollte.
Ein unvorhergesehener Schlaganfall machte seinem zwecklosen Leben ein Ende.
Frau Dorothea zur Medden musste allein in Unterkieferndorf einziehen, dieweil die Möbelwagen des Obersten von Verne, der die andre, nicht bessere sondern streng reell gleichwertige Hälfte, nämlich Oberkieferndorf, angekauft hatte, auf der andern Seite des sehr grossen Hofes einrollten.
Der Inspektor Schneider der Frau zur Medden aber behauptete, dass bei der Einteilung und Abschätzung des Waldes eine himmelschreiende Ungerechtigkeit geobwaltet hätte, denn die Oberkieferndorfer hätten ein Revier Hochwald mehr bekommen, dieweil sie dafür mit elendem Knüppelholz abgespeist seien.
Er bestimmte die völlig in solchen Dingen unbewanderte Frau Dorothea, an den Verkäufer eine geharnischte Epistel zu richten und um gerechte Regulierung zu ersuchen.
Frau zur Medden war leicht erregbar und empört über die Vergewaltigung ihres guten Rechtes, sie schrieb wie Schneider diktierte, obwohl Inspektor Christiansen von der Verneschen Partei die gnädige Frau sehr höflich im Garten ansprach und ihr den vermeintlichen Lapsus aufklärte. Es war durch schwierige Bodenverhältnisse im Gelände notwendig gewesen, auf eine Hälfte des Gutes bessern Wald, auf die andre, der Bonitätsklasse nach, höher bewerteten Weizenboden zu verteilen. Dem Käufer, Herrn zur Medden, habe dieser Situationsplan vorgelegen und sei von ihm anstandslos gebilligt worden.
Frau Dorothea litt seit Kindesbeinen an chronischem Eigensinn.
Erstens wusste sie alles selber besser als andre, und zweitens glaubte sie doch ihrem Inspektor mehr, als dem der Gegenpartei.
Da war zum erstenmal das ominöse Wort ausgesprochen.
Es frisst bekanntlich nichts mit so scharfen Zähnen um sich wie Verleumdung.
Tu liebe Zeit! Frau Dorothea hatte sich, im Grunde genommen, gar nichts dabei gedacht, als sie vor ihren Untergebenen den Oberst ihren Gegner genannt. Sie wunderte sich auch, wie dieser so etwas alsogleich wieder erfahren konnte.
Aber der Krach in den untern Regionen hallte bis unter das Dach hinauf.
Herr von Verne zögerte damit, seinen Besuch zu machen.
Er musste, wie er sagte, doch erst abwarten, was für eine Antwort auf die Forderung seiner Nachbarin erfolge.
Erachte sie ihn als Gegner, nun, so würde wohl ein langwieriger „Erbfolgekrieg“ unvermeidlich sein, denn er habe das Gut gerade um des schönen Hochwalds willen gekauft und denke nicht daran, auch nur um Haaresbreite von dem Standpunkt des Rechts abzuweichen.
Und um ein Haar wäre dieser sehr unerquickliche Prozess auch ausgebrochen, wenn nicht der Verkäufer anstatt jeder Weiterung die unterzeichneten Kontrakte präsentiert hätte.
„Wenn es Frau zur Medden nicht passe, was Herr zur Medden rechtsgültig abgeschlossen habe, so könne sie ja verkaufen. Der ehemalige Eigentümer des Gesamtbesitzes habe diesen aufteilen können, wie es ihm beliebte, und das sei nach bestem Wissen und liebenswürdigstem Willen geschehen.“
Zufällig schritten der Oberst und Christiansen einerseits, Frau zur Medden und Schneider andrerseits nach Einkehr des Postboten im Hof aneinander vorüber.
Verne wollte grüssen, Frau Dorothea aber sah gerade nach den Fischen, die ein Knecht in dem kleinen Flüsschen, der Buller, gefangen hatte und machte ein wütendes Gesicht.
Letzteres, weil ihrer Ansicht nach die Karpfen zu klein wären, — und dass sie sich von dem Gutsnachbar weggewandt, sei nur Zufall gewesen!
Sie entsinne sich beim besten Willen nicht, absichtlich gehandelt zu haben. Wenn aber der Hund an den Knüppel soll, so hat er bekanntlich Leder gefressen!
Und als Schneider den Christiansen mit funkelnden Augen anstierte, da fing letzterer an zu lachen, so recht nichtswürdig und schadenfroh, was nicht allein ihm, Schneider, sondern ganz Unterkieferndorf galt, das von solcher Beleidigung natürlich genügend Notiz nahm.
Herr von Verne hatte den Rücken der Frau zur Medden begreiflicherweise nicht gegrüsst und machte auch keinen Besuch.
Die Kirche soll etwas Versöhnliches haben. Der Pastor predigte auch eindringlich Frieden und schaute dabei unauffällig nach dem Kirchenstuhl, der Ober- und Unterkieferndorf gemeinschaftlich angewiesen war, da es ja früher nur eine Partei gewesen war, die ihn besucht hatte.
Jetzt sassen der Oberst und Frau Dorothea auch nebeneinander darin.
Die Sonne schien scharf herein, und Herr von Verne liebte die allzu grosse Hitze auf Gesicht und Schädel nicht, darum drehte er seinen hochlehnigen Stuhl selbstredend ohne alle Hintergedanken seitwärts, damit die Bestrahlung seinen Rücken traf und wohlige Wärme auf demselben erzeugte.
Frau zur Medden verstand es aber falsch, erachtete es als unerhörte Nichtachtung ihrer sonst so ehrengeachteten und reputierlichen Persönlichkeit und schnellte ihren Stuhl nun gleichfalls mit solchem Knalleffekt zur Seite, dass es dumpfen Widerhall in allen Herzen — hie Welf, hie Weibling! — hervorrief.
Da sassen sich die beiden Kampfhähne nun dos à dos — beide mit zorngeröteten Gesichtern, und die Stühle blieben auch in derselben Grundstellung, gleichviel, ob des Kirchendieners milde Hand sie vor jedem Sonntagmorgen in Reih’ und Glied rückte.
Herr von Vernes Mannesehre verlangte es, dem albernen Frauenzimmer zu zeigen, dass ihm solch ein Benehmen total piepe sei und er sich nicht im mindesten um ihre Ungnade geniere.
Er fühlte sich in sicherem Recht, und darum hielt er das Gesangbuch wie einen feurigen Harnisch, der ihn wappnete, und sang mit seiner furchtbar dröhnenden Kommandostimme, gegen die die Posaunen von Jericho nur lispelten, alle Verse mit.
Der Knabenchor neben der Orgel schien bescheiden vor ihm zu verstummen, und Frau Dorothea fuhr herum wie von der Tarantel gestochen und legte alle Entrüstung über solchen ruhestörenden Lärm in ihre bewegliche, spitze, kleine Visage.
Den Oberst störte es nicht.
„Wem mein Gesang nicht gefällt, der kann ja zu Hause bleiben!“ sagte er lakonisch zu Christiansen, als sie neben Schneider durch die Kirchtür schritten.
Oha! Das hätten sich die Unterkieferndorfer gerade gefallen lassen, dass man sie womöglich noch aus dem Himmel herausbekomplimentieren wollte!
Am nächsten Sonntag hob Frau Dorothea sehr auffällig ihr Handtäschchen und entnahm ihm, nach gutem Taxatum der Gegenübersitzenden, mindestens ein Viertelpfund Watte, um sie als kolossale Pfropfen in die Ohren zu stopfen.
Der weibliche Teil der Bewohner von Unterkieferndorf tat mit scharfem Ruck das gleiche, und der Kanzelredner hatte an jenem Tag mit viel zerstreuten Zuhörern zu rechnen.
Als die Schwiegermama mit wahrem Zetergeschrei der Entrüstung an Frau Christel darüber schrieb, schlug diese nur wie in stummer Anklage wider solche Unbegreiflichkeiten die Hände zusammen und lachte: „Wenn Dorchen mich nur mal einladen wollte! Solch ‚Vielen Lärm um nichts‘ würde ich mir ja liebendgern mal ansehen! Heiliger Lord Begon, alias Shakespeare — in Unterkieferndorf hättest du noch einen Nachtrag zu obigem Lustspiel schreiben können!“
Und dann teilte ihr die verzweifelnde Schwiegermama in jedem Briefe mit, dass sie derart leibliche und seelische Folterqualen in ihrer Erdenhölle erdulden müsse, dass sie ernstlich daran denke, ihr Testament zu machen.
Von Tag zu Tag erhielt dieses wohl neue Kodizills und Verschärfungen, denn es war ja hahnebüchen, wie grausig der Kampf um einen Eierkuchen tobte! Zuerst taten sich die Inspektoren alles an, was das Leben, Aussaat und Ernte vergällen konnte.
Sie hetzten sich gegenseitig die Arbeiter weg, straften es nicht, wenn sich die Feindseligkeiten auch auf Knechte und Mägde erstreckten und anfänglicher Schabernack und Nichtsnutzigkeiten bald zu folgeschweren Bosheiten auswuchsen. Persönliche Missstimmungen kamen noch dazu, Neid und Eifersucht, und so wurde das Dasein für die Ober- und Unterkieferndorfer tatsächlich bald zur Qual!
Das Ende von dieser langen Kette hielt Frau Christel soeben kopfschüttelnd in Händen.
Die Schwiegermama hatte ihr das schöne und einträgliche Gut geschenkt.
Das war ja zum Jauchzen!
Weit entfernt, solchen Klatsch und Tratsch ernst zu nehmen, war sie viel zu klug, zu energisch und zu liebenswürdig, um als gute Reiterin vor der Mauer, der Hecke und dem Graben haltzumachen.
Ein Salto mortale — und hopp! sind wir drüber! — dachte sie.
Und als passionierte Jägerin die Flinte ins Korn werfen, anstatt noch auf den vielumstrittenen Prachthirsch den Meisterschuss zu tun?
Nein! — ad infinitum nicht!
Sie musste wieder an den flotten, eleganten, famos schneidigen Jägersmann mit dem Kornblumenstrauss auf dem Hut und den blühenden Solitair an der Brust denken, der ihr so keck und siegesbewusst sein „Halali“! entgegentriumphierte!
Heute hatte ein Weidmann sie besiegt, obwohl naturgemäss das Wasser das Feuer löschen musste!
Wenn sie aber ihr treues, altes Gewehrchen in Händen hält, gut und wohl vorbereitet zielt und dann Feuer gibt, dann ist es im Unterkieferndorfer Buchholz wohl an ihr, das „Halali“! dem Rivalen zu verkünden!
Seltsam!
Zu jeder andern Stunde hätte es sie wohl namenlos erregt, Besitzerin von einem so lang und heiss ersehnten Grund und Boden zu werden, — dann hätte sie sich wohl, alles andere beiseitelassend, „in das Tintenfass gestürzt“, um Frau Dorothea eiligst ihr schriftliches grosses und kleines Ehrenwort an Eidesstatt zu geben, dass sie ihr generöses Geschenk unter allen Umständen und unwiderruflich annehme!
Und jetzt?
Sie schliesst die schwerwiegende Urkunde der Schwiegermutter in ihre Schreibmappe und wirft sich in einen Sessel zurück.
Die Arme verschränkt sie hinter dem Kopf und blickt mit grossen, verträumten Augen in die tiefer und tiefer sinkenden Schatten des Waldes hinaus.
Nach Unterkieferndorf?
Nein, — seltsamerweise nein.
Warum denkt sie eigentlich noch an den kühnen Bettler, der für seinen Hut um ein duftiges Almosen bat?
„Waghälslein, Frechliebster, ich kenn’ dich!“ — lässt Scheffel die Frau Aventiure sagen.
Nein, sie kennt ihn nicht.
Das ist’s ja!
Sie möchte so gern wissen, wie er heisst ... „Wie seine Art und woher der Fahrt.“
Eigentlich war die Zumutung an Elsa von Brabant doch ein wenig stark, einen ritterlichen Verehrer, der sogar als Freier erschien, nicht nach seinen Legitimationspapieren fragen zu dürfen! Sonst hat sie, roh und lieblos, die arme, zu solch unerträglichem Schweigen verurteilte Königstochter kaum bedauert, heute fühlt sie plötzlich die wärmsten Sympathien für sie.
Leidensgenossinnen!
Blödsinn!
Ist sie denn verrückt geworden?
„Seine hohe Gestalt, sein edler Gang — seines Mundes Lächeln — seiner Augen Gewalt ...“ — tatsächlich, als wäre es auf ihren Jägersmann gedichtet!
Ihren? — — Nun schlägt’s zwölfe! Bist du von Sinnen Frau Christel, an deinen Jägersmann zu denken?
Vielleicht ist er längst verheiratet.
So eine Gemeinheit.
Wenn endlich mal einer kommt, der so hübsch ist, so ganz ihrem Geschmack entspricht, und dann verheiratet?
Wenn man es näher betrachtet, hat er sie eigentlich nur verhohnepiepelt!
So wie sie ihn zuerst!
Wurst wieder Wurst!
Anscheinend hatte er sie beobachtet, und in seinen Augen, da blitzte so etwas ... so ... wie soll sie es nur ausdrücken?
Einen Telephonfunken kann man auch nicht sehen, und plötzlich klingelt er an.
Na ja, — Telephondrähte hatte der Kerl in den Augen, — seltsam ... mit vorzüglichem Anschluss an die ihren!
Stracks in die seinen hineinsehen musste sie.
Blau, — blaue Augen.
Aber nicht etwa so verwässert und nichtssagend wie Vergissmeinnicht in Milch gekocht, — nein, Augen, in denen ein Himmel liegt — und die trotz ihrer so viel tieferen Färbung ein sehr deutliches „vergiss ... mein ... nicht!“ sagen.
Um alles nicht!
Wie sollte sie ihn denn vergessen? Dazu war die Begegnung viel zu originell und ... eindrucksvoll!
Auf sie! — Auch auf ihn?
O Torheit, dein Name ist Weib! würde Shakespeare staunend den klugen Kopf schütteln.
Wie kann sie sich so etwas einbilden!
Was einem Weib das ganze Leben füllt, ist für den Mann oft nur eine Episode!
Er wanderte als Tourist.
Wo er wohl die Nacht bleiben wird?
Vielleicht kommt er hierher zurück.
Wenn er noch an sie denkt ... wenn er sich dafür interessiert, wer sie ist?
Warum nicht.
Und die kleine Witwe schliesst die Augen und sieht ein Bild im Traum — immer dasselbe, — einen flotten Jagdhut ... mit einem Strauss Kornblumen, ein blondes Schnurrbärtchen über heissen Lippen und ein paar Augen ...
Sie wartet auf ihn. — Sie wartet ja schon so lange auf einen Siegfried, der im tiefen Waldesweben ein Weib sucht, als Retter durch wabernde Lohe zu ihr zu dringen, allen Drachen und Steinen im Weg zum Trotz.
Eine Uhr schlägt.
Sie richtet sich jäh auf, tritt vor den Spiegel, und schmückt sich, — für wen? Für ihn? „Wie sich ein bräutlich Weib für seinen Mann schmückt!“ zieht es heimlich durch ihren Sinn.
Da errötet sie und erschrickt über sich selbst. Wie gut, dass Gedanken zollfrei sind.
Wer würde in dieser Stunde die ruhige, gelassene Frau wiedererkennen, die allen andern Männern auf Erden so kühl blieb, — kühl bis ans Herz hinan.
Ob er kommt?
Sie fürchtet sich vor der Enttäuschung.
Das Hotel an den Falkenklippen hat auf Vorherbestellung ein Zimmer für den Forstmeister Zarrentin bereitgehalten. Er hat auch seine Post nach dort bestellt. Ausser Zeitungen ist nur ein eingeschriebener Brief für ihn eingetroffen, der im Schreibtisch des Wirtes für ihn bereitliegt.
Der erwartete Gast ist auch präzise eingetroffen.
Er hat erst einen Imbiss genommen und hat alsdann nach dem Telephon gefragt. Der gefürchtete Regen ist ausgeblieben, eine himmlisch warme Sommernacht hält sowohl die Logiergäste wie Touristen und Bedienung im Freien, wo die Lichter unter den dunklen Tannen angesteckt werden und die Leute nach den nahen Waldwiesen pilgern, wo Millionen von Glühwürmchen schwirren.
Jürgen Zarrentin meldet das Kurhaus in W. an.
Es meldet sich bald.
„Sie, Herr Oberkellner?“
„Nicht hier, alle Bedienung ist auf der Veranda; ich bin das Zimmermädchen Hulda!“
„Um so besser. Sagen Sie mal, mein Fräulein, wer wohnt in dem grossen Balkonzimmer, erste Etage, nach der Strasse hinaus?“
„Verzeihen, einen Augenblick, ich will mal nachsehen! Ich bin nämlich erst seit gestern hier und weiss die Zahlen noch nicht im Kopf!“
„Bitte!“
Nach wenigen Augenblicken flötet Fräulein Hulda: „Sind Sie noch da, mein Herr?“
„Jawohl! Zur Stelle. — Na, wer ist’s?“
Die „Neue“ hat im Eifer vergessen, dass zwei Strassen neben dem Kurhaus zusammentreffen, und da sie für gewöhnlich den Seitenflügel mit Ausblick auf die Talstrasse hat, so richtete sie ihr Augenmerk einzig auf diese.
„Es ist Nummer 36! Da wohnt ein Herr Fabrikdirektor Langermann nebst Gattin!“
„Sooo!“ Das klingt sehr gedehnt. „Ist die Dame heute nachmittag ausgefahren?“
Das weiss Hulda zwar nicht genau, aber sie ist wenig skrupellös und antwortet so auf gut Glück: „Ja, die ist mit ein paar andern ins Gebirge hinein! Der Herr musste für zwei Tage nach R., da soll er sich mit dem Sozius treffen!“
„Danke schön, Fräulein!“
„Soll ich vielleicht was bestellen?“
„Nicht nötig. Ich habe mich geirrt.“
Und recht nachdenklich, den Kopf so tief geneigt, wie dies sonst gar nicht bei dem lebhaften, urwüchsigen Mann der Fall ist, schreitet er nach seinem Zimmer.
Ein Brief vom Onkel.
Sicherlich wieder derselbe Spektakel wie immer.
Er ist so gar nicht in der Stimmung, auch noch andern Ärger zu schlucken.
Ärgert er sich denn auch?
Komisch! Warum denn?
Vorhin war er doch noch so fidel und guter Dinge, als hinge ihm der ganze Himmel voller Bassgeigen! „Und der Flieder blüht in den Zweigen und der Himmel hängt voll Geigen!“
Blödsinn. — Albernes Lied.
Der Flieder hat längst abgeblüht und der Himmel sieht so dunkel und bedeckt aus, als gebe es doch noch Regen.
Die Mücken stechen auch so unverschämt. Das ist ein sicheres Zeichen.
Er setzt sich an das offene Fenster, ohne das Elektrische anzuknipsen, — das lockt nur das Geschmeiss herein.
Ausserdem möchte er noch mit seinen Gedanken allein sein.
Er ist so missgestimmt. — Ganz plötzlich.
Soll auch einer sein!
Den ganzen Tag während seiner Wanderung hat er an das reizende kleine Weib mit den schelmischen Glutaugen und den entzückenden weissen Händen gedacht.
Endlich mal eine, die ihm gefiel.
Ging so lustig auf seinen kecken Scherz ein, als Zeichen dafür, dass sie gescheit ist, und Spass versteht, was man nicht allzuoft findet! Und dann so hübsch, so rund und mollig, was er, der Formen-Enthusiast, besonders schätzt, und schick und elegant, mit einer so sympathischen Stimme. — Wie ein Student hat er Feuer gefangen. Den ganzen Weg über nachgedacht, wie das wohl klingen muss, wenn man so ein reizendes Frauenzimmerchen im Arme hält und sie lacht einem mit ihren schwellenden Lippen ins Herz hinein: „Ich habe dich lieb!“
Nur vier Worte! und schliessen doch alle Himmelsseligkeiten in sich ein!
Und wie er sie dann so plötzlich wiedersah ... und wie das ulkige Spiel von neuem anhub ... und wie ihr Gesichtchen so nah dem seinen war, als er sich über sie neigte und sie zu ihm aufschaute — und das elegante Frou-Frou rauschenden Seidenfutters, als sie so erschreckt das Kleid zusammenraffte, es vor der brennenden Schwedenschachtel zu retten ... und der ganz feine, süsse, zarte Duft, den selbst ihre Handschuhe aushauchten, als sie ihm die Zigarette zurückreichte!
Am liebsten hätte er sie sich von ihr in den Mund stecken lassen.
Ja, da hatte er momentan wirklich an Zeichen und Wunder geglaubt, an das schöne Wahrwort, dass die Ehen im Himmel geschlossen werden!
Und nun?
Kann es ihn wundern?
Nicht er allein hat Augen im Kopfe, ein heisses Herz und guten Geschmack, und wer zuerst kommt, mahlt zuerst, und wer die Braut hat, der ist der Bräutigam! Langsam streicht er mit der schlanken Rechten über die Stirn.
„Wenn du also ein anständiger Kerl bist, Jürgen, dann gönnst du Herrn Langermann neidlos sein Glück. ... totschlagen könnte ich den Halunken! — Es ist doch ein verteufelt schweres Ding mit dem neidlosen Gönnen! — Aber was hilft es! — Wenn das entzückende Weib noch zu haben gewesen wäre, dann hätte ich ihr heute nacht ein Ständchen auf dem Waldhorn gebracht — natürlich die „Liebeserklärung“ oder „Du mein und ich allein?“
Aber der Frau Fabrikant Langermann?
Na, in Gedanken stehe ich wieder unter der Loggia und sende noch einen Gruss hinauf: „Behüt’ dich Gott, es wär so schön gewesen, behüt’ dich Gott, es hat nicht sollen sein!“
Und dann ein leises, wehmütiges Halali ...
Er springt auf und schlägt nach den eigenen Gedanken wie nach lästigem Mückenschwarm, tritt seitwärts und entflammt das Licht.
Dann bricht er an Onkels Brief das grosse Siegel. Eigentlich gehörte noch der Fingerabdruck darauf, so altmodisch berührt das Wappen! Ein eiserner Ring im goldenen Feld! Der mutet so uralt an, wie ein Ritterschlag aus der Ewigkeit! Dann klappt er das steife Briefpapier auseinander.
„Mein lieber, braver Patenjunge!
Habe Deinen Tintenguss erhalten. Na ja, freut mich, dass Du Dich über Deine Erbschaft gefreut hast. Bekommst also dieses Saunest von Oberkieferndorf. Habe keine Lust, mir Gallensteine anzuärgern. Die Sache mit dem alten Kamel wird ja immer toller. Also, warum noch das lange Federlesen! Als Deine Mutter heiratete, sagte ich ihr: ‚Mein liebes Klärchen‘, sagte ich, ‚wenn Du mal mehrere Jungen kriegst, dann adoptiere ich einen davon, denn Du kennst meinen bibelfesten Grundsatz: freien ist gut, nicht freien ist besser.‘ Ergo! Du warst und bliebst der einzige, Dein Vater ist tot, Klärchen weinte sich zu ihm ins Grab, na, da blieben wir beiden zusammen. Nun macht mir das Landwirtspielen keinen Spass mehr. Aber dem infamen Racker von nebenan, dem frechen Weibsstück, weiche ich denn doch nicht ... Offiziell mache ich eine Reise um die Welt und Du hältst solange hier Haus. In der Residenz treffen wir uns, da bringen wir alles Schriftliche und Geschäftliche in Ordnung. Halte nun dem Klärchen Wort und mache Dich zu meinem Sohn. Weisst Du, Jürgen, solange wie die kleine Kröte von nebenan nur zischte und Gift spritzte, da amüsierte mich die Chose! Da wurde ich auch fuchsteufelswild und setzte meinen Dickkopf auf! Wenn der Ober- und der Unterkiefer zusammenklappen, dann ist der Biss fertig, na und so haben wir denn bis jetzt gründlich hin und hergebissen. Aber weisst Du, wenn sie jetzt anfängt, ... na, hör’ mal zu. Wir beiden Alten hassen uns bis in den Tod, also spielt die Fehde selbst bis in die Kirche hinüber. Frau Dorothees Unverschämtheit, auf meinen schönen Gesang mit ein paar zentnerschweren Ohrenpfroppen zu antworten, kennst Du. Gestern sitzen wir nun wieder wie der österreichische Doppeladler, Rückfront contra Rückfront in dem Kirchenstuhl. Den Kandidate muss ja der Deuwel reiten, denn er erzählt mit Nachdruck von dem braven Martin Luther, der immer versöhnlich wirken wollte — — versöhnlich! Wie findest Du das? War natürlich nur ein Seitenhieb auf den Ober- und Unterkiefer, sozusagen, Maulschelle!‘ und zitiert seinen Katechismus: ‚Gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen!‘
Dabei fixiert er erst mich, dann die brave Dorothee! Weisst Du, da ging mir die Galle über. Habe ich etwa den ganzen Spektakel, diesen elenden Zores angefangen? Also Ehre dem Ehre, und der Rüffel dem, der den Rüffel verdient. Ich drehe mich forsch um und mache ganz laut: ‚Hm!‘ Na, und die Ollsche neben mir schnellt daraufhin ebenfalls herum und starrt mich an. Da mache ich noch einmal ebenso laut: ‚Hm!‘ und was meinst Du, was passiert? Die alberne Gans bezieht das auf sich, was doch in erster Linie der Kandidate auf sich beziehen sollte, reisst ihren Kodder von Schnupftuch heraus und beginnt zu weinen, als habe sie der Bock gestossen. Weisst Du, Jürgen, das ist mir denn doch zu viel geworden. Das Gezanke und Gebelfere, selbst der ständige Kriegsfuss, auf dem unsere Leute widereinander tobten, sogar das Knechte- und Mägdeverhetzen habe ich mir gefallen lassen und gesagt: ‚Christiansen,‘ sagte ich, ‚das hilft alles nichts. Wir schütteln uns wie die Pudel. Wenn Sie uns auch wie dem Meister Knieriem das Dreibein unter dem Leibe wegschiessen, so bleiben uns noch unsere eigenen Füsse, um desto fester auf den Unterkiefer loszutrampeln!‘ Aber weinen? Nein, das kann ich in den Tod nicht leiden, wenn ein Frauenzimmer weint. Das geht mir auf die Nerven. Da nehme ich Reissaus. Weiss der Kuckuck! Der liebe Herrgott muss uns Kerls noch einen sechsten Sinn gegeben haben, zum Tort! Die Stelle, wo wir Starken den Schwachen gegenüber zu Waschlappen werden! Das findest Du vielleicht verächtlich? Na, ich bin immer eine ehrliche Haut gewesen und gebe jede Schuld zu, soweit sie an mir liegt. Dass ich ‚Hm!‘ sagte, war zum erstenmal ganz gerechtfertigt, denn der Kandidate hatte mich provoziert! Aber ich hätte es nicht zweimal sagen dürfen! Das war zuviel. Solch eine Wiederholung war ein testimonium paupertatis, das ich mir selber ausstellte. Als geistreicher, alter Mensch hätte ich ja auch noch etwas anderes sagen können, was nicht so ehrenrührig auf sie wirken musste. Aber dies nur unter uns. Die alte Hexe selber darf nie etwas von solcher Busse ahnen. Und das Feld räume ich auch nicht! Nun drehe ich den Spiess um und spiele krank und reise nach Monte Carlo, oder nach Ungarn auf die Bärenjagd, wo ich mich von den hiesigen Strapazen erholen will. Du bist ja Unparteiischer. Kletterst dann harmlos wie ein weisses Kaninchen in diese Arche Noah von Beestern hinein und siehst, ob Du sie gleich Daniel in der Löwenhöhle zähmen kannst! Sollst ja so schön Waldhorn tuten! Das stimmt musikalische Menschen wehmütig und unmusikalische bringt es unter die Erde. Also blas man. Zur Beisetzung der Alten komme ich zurück, sonst nicht. Den Schlüssel zu meinem Gewehrschrank lege ich unter das Postament von der Venus, weisst Du jene, die neben den fehlenden Armen auch noch einen Querriss durch den Buckel hat, die kann ihn meinetwegen ausbrüten. Christiansen hat sich beim letzten „Auf Anständ“sitzen bei kleinem Wolkenbruch einen Hexenschuss geholt, und andere lasse ich nicht schiessen. Es ist ein kapitaler Vierzehnender, der an dem Kalkbruch steht, meiner Feindin gönne ich ihn nicht, also sattle Dir eine Lokomotive und triff Freitag abend in B. ein. Dein Abschiedsgesuch ist ja bewilligt! Brauchst die grüne Farbe darum nicht an den Nagel zu hängen, denn hier kannst Du gleich Oberlandforstmeister im eigenen Walde spielen! Ist ja ganz nett, dass Du Dich noch ein Weilchen im Gebirge herumtreibst, man muss seine Freiheit feiern! Also auf Wiedersehen, mein guter, alter Junge! Ich umarme Dich als Dein Dichliebender Reserve-Vater
Josef von Verne.
Oberst a. D.“
Jürgen liess das Blatt sinken.
Er lächelte.
Sonst hätte er bei Schilderung der schweren Leiden und alles Greuels und Scheuls von Oberkieferndorf schallend aufgelacht.
So schüttelt er nur wehmütig den Kopf und sein Blick trifft die welken Kornblumen am Hut. Er bläst keine Liebeslieder mehr. — Halali!