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Drittes Kapitel

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Es war eine schlimme Zeit im Heidehaus gewesen.

Als Klaus Raßmussen die Flucht seiner Tochter entdeckte, tobte er wie ein wildes Tier und schlug die sehnigen Fäuste gegen die Stirn, als wollte er sich selbst zermalmen. Dann wurde er still, finster und verschlossen. Von einer Verfolgung der Liebenden nahm er Abstand.

Wozu? Wenn sein einziges Kind mit einem Schnurranten davonlief, heimlich bei Nacht und Nebel das Vaterhaus verließ, so war es nicht wert, daß es Elternliebe gewaltsam vom Abgrund zurückriß. Ebba hatte gewählt, und die Eltern fügten sich in den undankbaren Willen ihres Kindes. Frau Friederike versuchte zu trösten und zu besänftigen, aber umsonst.

Zum erstenmal im Leben stieß Klaus Raßmussen die bittend erhobenen Hände seines Weibes mit gerunzelter Stirn zurück.

»Nenn den Namen der Pflichtvergessenen nicht zum zweitenmal, sonst gibt es ein Unglück!« donnerte er.

Da waltete tiefes, bleiernes Schweigen.

Einmal schritt Klaus Raßmussen die Chaussee entlang, als ihm der Postbote begegnete und mit wunderlichem Blick einen Brief aus England darbot.

Er sah nicht, daß die Hand, die danach griff, zusammenzuckte, er sah nur das steinerne Gesicht des Gutsbesitzers, um dessen eckige Stirn der Wind die ersten grauen Haarsträhnen wehte.

Er nickte stumm und schritt weiter dahin, wo das Röhricht über sumpfiger Wiese knistert.

Ein Brief von seinem Kind. Aus England. Dort ist sie vielleicht das Weib des ungarischen Kunstreiters geworden, vielleicht auch nur seine Dirne, deren er jetzt schon überdrüssig geworden ist und im Elend hat sitzen lassen.

Vielleicht rechnet er auch noch mit dem deutschen Narren, dem erbärmlichen Michel, den ein paar rührende Worte wie Butter schmelzen lassen. Er soll verzeihend die Arme öffnen, und der ehrlose Mädchenräuber und die pflichtvergessene Tochter kehren freundlich zurück, die Hände nach dem väterlichen Erbe auszustrecken.

Was wollen sie weiter? Sein Geld!

Klaus Raßmussen beißt wie in wildem Schmerz die Zähne zusammen, und ohne den Brief zu öffnen, zerreißt er ihn in zahllose Stücke, sticht mit dem Krückstock ein tiefes Loch in den Sumpf und vergräbt die Kunde vom Kunstreiterliebchen.

Frau Friederike erfuhr es nie, daß ihr Kind geschrieben hatte.

Die Zeit schleppte sich träge dahin; das Heidehaus gähnte mit seinen dunklen Fenstern dem Wanderer entgegen wie ein offenes Grab.

Klaus Raßmussen arbeitete rastlos von früh bis spät, und Friederike saß blaß und krank am Fenster, schaute mit weher Sehnsucht dem Postboten entgegen und trocknete die heimlichen Tränen.

Aber dennoch glänzte etwas in ihrem Auge, eine stille Genugtuung, daß ihr Kind von einem Grafen entführt war und besser an ihrer schwärmerischen Liebe zugrunde ging, als daß sie ein solches Glück nie kennengelernt hätte.

Und wieder brausten die Frühlingsstürme über das flache Land.

Da hielt eines Abends die Post vor dem einsamen Gutshaus, eine weibliche Gestalt in Diakonissentracht stieg aus. Sie trug ein wohlverhülltes Bündel im Arm und klopfte an der Tür des Klaus Raßmussen. Der war nicht daheim, und sein Weib war krank und sah niemand.

Da legte die barmherzige Schwester das Bündel in Antjes Arm und gab ihr einen Brief.

»Ich habe keine Zeit, ich muß zu einer Sterbenden weiter. Hier, gib Kind und Brief an die Großeltern ab, es ist der letzte Gruß der armen Ebba, die vor drei Wochen bei uns im Spital gestorben ist. Der Knabe ist ihr Kind.«

Antje wollte vor Schreck und Staunen aufschreien, aber sie starrte nur, an allen Gliedern zitternd, auf die Fremde, die nach der Post zurückschritt, einstieg und weiterfuhr.

Da regte es sich in dem Bündel, eine kräftige kleine Stimme hub an zu schreien.

Das brachte die Magd zu sich.

Ganz verstört stürzte sie zu Frau Friederike, hielt ihr Kind und Brief entgegen und keuchte: »’s ist der Ebba ihres ... und die Ebba ist tot!«

Wie war die schwache, kranke Frau so stark!

Sie nahm den Brief und öffnete ihn.

Ein Geburtsschein fiel ihr entgegen, der des Kindes.

»Hubert Graf von Giöreczy.«

Und dann ein paar mit Bleistift gekritzelte Zeilen ihrer Einzigen:

»Mutter! Vater! Ihr habt nie geantwortet auf meinen Brief, ob ihr vergeben habt. Gott gebe es. Ich rufe zum letztenmal Eure Liebe und Barmherzigkeit an und schicke Euch unser Kind. Ich war über alle Begriffe glücklich als Lajos’ eheliches Weib. Es ging uns gut, solange er verdiente. Da verunglückte er bei einem Hürdensprung und brach den Rücken. Ich bekam von der Direktion das Reisegeld in die Heimat. Hier in H. konnte ich nicht weiter, ich schenkte einem Knaben das Leben und weiß, daß ich selber sterben werde. Die Diakonissin will das Kind zu Euch bringen, wenn ich wieder mit dem Lieb vereinigt bin. Nehmt es auf und habt es lieb, um Gottes Barmherzigkeit willen. Ich bitte noch einmal um Verzeihung für meinen Gatten und mich; wir hatten uns so lieb, und die Liebe war stärker als mein Gehorsam. Dennoch vergaß ich Euch nicht. Erbarmt Euch des Kindes, daß Gott der Herr sich Euer erbarme. Eure Ebba, Gräfin Giöreczy.«

Frau Friederike starrte auf die Papiere nieder, die Heiratsurkunde, der Taufschein, Ebbas Totenschein. Es stimmt alles.

»Reich mir ihr Kind!«

Antje legte es in ihren Arm.

Mit großen, nachtschwarzen Augen schaut ein bildschönes Büblein zu der Großmutter empor.

Ein Grafenkind – ihr Enkelsohn.

Die Kranke richtet sich beinah feierlich empor.

»Schaff alles her, Antje! Hol Ebbas Wiege vom Boden, die Kiste mit der Kinderwäsche! Und vor allen Dingen wärmt Milch für das Kind, warten will ich den kleinen Grafen, bis eine Pflegerin kommt.«

Als Klaus Raßmussen heimkehrt, ist das stille Heidehaus ein anderes geworden, und sein erst so krankes Weib steht hoch aufgerichtet im Zimmer neben Ebbas Wiege, in der ein Kind schreit.

Es liegt ein wunderbarer Ausdruck im Auge Friederikes, das sich voll brennender Drohung auf ihren Mann richtet.

»Du hast einen Brief von Ebba unterschlagen, der an uns beide gerichtet war!« klingt es ihm schrill entgegen.

Er zuckt zusammen, sein Gesicht wird kreidebleich.

»Mörder!« klingt es gellend in sein Ohr. »Ebba ist tot!«

Klaus Raßmussen taumelt einen Schritt zurück und starrt auf die Wiege.

»Lies!« schrillt es abermals von seines Weibes blassen Lippen, und sie schleudert ihm die Papiere entgegen.

Der Gutsbesitzer tastet danach und schaut mit gläsernem Blick darauf.

Ein gurgelnder Laut ringt sich von seinen Lippen.

Wie ist der große, kräftige Mann so schwach!

Er sinkt auf einen Stuhl und vergräbt das fahle Gesicht in den schwieligen Händen. Seine breite Brust keucht, leises Stöhnen entringt sich ihr.

Es bleibt minutenlang still.

Dann legt sich eine zitternde Hand auf seine Schulter.

»Möge Gott dir vergeben, was du an deinem eigenen Fleisch und Blut getan hast«, murmelt Frau Friederike, und es scheint Klaus Raßmussen, als stehe die Nemesis neben ihm, um ihn zu richten.

»Den Toten kannst du nichts Liebes mehr tun, die sind an deines Herzens Härte zerschellt, aber hier ... hier klagt dich ein verwaistes Kind an, und seine Stimme dringt zum Himmel. An ihm magst du sühnen, was du an Ebba und mir gesündigt hast.«

Er will auffahren, will voll trotzigen Zorns sein Weib in die Schranken weisen und sie daran erinnern, daß seine Tochter eine Landstreicherin geworden sei, die aus freiem Willen dem Elternhaus entflohen war, aber vor seinen Augen liegt ein weißes Blatt Papier – ihr Totenschein. Der deutsche Riese bricht in sich zusammen wie ein geknicktes Rohr und ächzt, ohne die Lippen zu öffnen.

Wie lieb er seine süße, blonde, kleine Ebba gehabt hatte, das sieht er erst jetzt.

Aber er ist nicht der Mann dazu, sich vom Schicksal brechen zu lassen.

Biegen und Beugen für wenige Minuten, aber dann schnellt das zähe Mark und Bein wieder empor und läßt nicht von seiner Art.

Er erhebt sich, wühlt die Hände in das ergraute Haar und blickt seinem Weib fest in die Augen.

»Sie hat es so gewollt, Friederike, sie hat geerntet, was sie gesät hat.« Und dann mit einer kurzen Geste nach der Wiege: »Wenn du dir die Last machen willst, den kleinen Ungarn großzuziehen, so tu es, ich lege dir nichts in den Weg.«

»Er ist unser Enkelsohn, Klaus Raßmussen!«

Der Alte hebt nur die Schultern, wendet sich, ohne einen Blick nach dem Kind zu tun, und verläßt mit dröhnenden Schritten das Zimmer.

Eine neue, wunderliche Zeit im Heidehaus.

Die einst so kranke, elende Frau Raßmussen lebte neu auf, entwickelte eine schier fieberhafte Tätigkeit für ihr Enkelkind, von dem sie mit einer gewissen Feierlichkeit nie anders sprach als »von dem jungen Gräflein«. Sie wartete und pflegte es, daß der Doktor nicht genug den Kopf schütteln und sagen konnte: »Also ein Enkelkind ist das Zaubermittelchen gewesen, das Ihnen wieder auf die Füße geholfen hat! Ja, hätte ich das gewußt, wäre es ja ganz unnötig gewesen, die teuere Kinderfrau aus der Stadt zu verschreiben!«

Frau Friederike sah den Sprecher fast vorwurfsvoll an und sagte: »Für den Hubert kann gar nicht genug Bedienung sein! Was wäre für Ebbas Kind zu teuer oder überflüssig? Gott sei gelobt, daß er so prächtig gedeiht!«

»Schade, daß er der Mutter so gar nicht ähnelt«, bedauerte der Doktor, »der Junge scheint aufs Jota das genaue Ebenbild des Vaters zu sein. Wär’s anders, würde es Klaus Raßmussen lieber sein.«

Frau Friederike krauste die Stirn. »Würde wohl kaum etwas ändern. Recht angeschaut hat er den Großsohn noch nicht ein einziges Mal. Nun, und ich denke wiederum, es ist schön, wenn der Kleine ein echtes Grafenblut hat und ein edler Giöreczy ist. Das wird ihm auch in Deutschland zustatten kommen.«

So stolz die Großmutter auf ihr Enkelkind war, so völlig fremd und gleichgültig hielt sich ihm Klaus Raßmussen fern. Für ihn blieb das Kind ein fremdartiges Kuckucksei, welches ihm ein nobler Landstreicher in das Nest gelegt hatte. Die Pflege und Erziehung überließ er ganz seiner Frau, und weil Friederike sich lieber umgebracht hätte, als ihrem kleinen Abgott einen Wunsch zu versagen oder gar seine Liebhabereien zu unterbinden, so wuchs Hubert Giöreczy in ungezügelter Freiheit heran, wild und keck, voll jauchzenden Übermuts, schön wie ein junger Adler unter Krähen, wenn er die Kinder der Bediensteten in seinen tollen Spielen kommandierte.

»Man sieht ihm den edlen Grafensproß schon auf hundert Schritt an«, lächelte Frau Friederike stolz, und selbst Klaus Raßmussen stand oft heimlich hinter einem Erlenbusch und beobachtete scharfen Blickes, was sich für ein hochgemuter Prachtkerl aus dem schwarzäugigen Büblein entwickelte. Ja, er zuckte nur mit leisem Knurren die Schultern, wenn aus dem Dorf die Klagen kamen, daß der Hubert wieder die besten Katzen und Hunde erschossen oder die höchsten Obstbäume erstiegen und geplündert habe. Er schalt nicht, sondern zog schweigend die Börse und zahlte; ja er wurde nicht einmal zornig, wenn das sechsjährige Bürschlein die Pferde bestieg und voll tollkühnen Wagemuts über die Heide galoppierte; immer sicherer, immer gewandter und strammer meisterte er die Pferde, und Klaus Raßmussen streifte sein begeistertes Weib nur mit einem spöttischen Blick und sagte: »Wundert’s dich? Vergißt du, was sein Vater war?«

Dennoch stand er heimlich und sah zu, und in seinem Auge blitzte es auf wie Genugtuung.

Hubert Giöreczy war ein absonderliches Kind. Tagsüber wild und toll wie ein kleiner Bandit, und wenn es Abend wurde und sich das flache Land in roten Lichtfluten badete, dann saß er oft still und sinnend auf demselben Wegrain unter den Heckenrosen wie ehemals die Mutter und schaute hinauf in den klaren, tiefen, hohen Himmel und folgte mit sehnsüchtigem Blick den Lerchen, die emporstiegen auf leichten Flügeln und die die einzigen waren, denen er nicht folgen konnte in die fremde, blaue Wunderwelt über den Sternen

Eine Leidenschaft von ihm war es, Papierdrachen steigen zu lassen.

Dann konnte er voll endloser Geduld die dicksten Rollen Bindfaden abwickeln und sein buntes Vöglein hinaufsteigen lassen in azurblaue Fernen, hoch und immer höher, bis er es kaum noch sah und sein Herz in heißer Sehnsucht erglühte. »Ach, könntest du folgen! Könntest du dir auch Flügel schaffen, um jene Ferne zu erreichen, um einmal herabzuschauen vom Himmel auf die Erde!«

Was Hubert vormachte, ahmten die Kinder der Knechte und Arbeiter aus dem Dorf voll respektvollen Interesses nach.

Da versammelten sich die flachshaarigen Burschen und Dirnlein und hatten sich auch Papierdrachen geklebt und von den Eltern den Faden erbettelt, und nun gab es einen Jubel und Wettstreit, welcher »Flieger« am höchsten stieg.

Mit glühenden Wangen und bitzenden nachtschwarzen Augen stand Hubert inmitten der Schar, als kleiner König sie befehligend, fremd, eigenartig, selber wie ein »Findling«, der vom Himmel schon oft auf die Heide niedergefallen war.

So stand er auch eines Nachmittags und war bereit, seinen großen, goldglänzenden Drachen durch kecken Anlauf in die Luft zu bringen, als sein Blick auf einen der Felsblöcke fiel, die grau und verwittert aus dem rotblühenden Heidekraut emporragten.

Dort saß ein kleiner Junge und weinte bitterlich.

Hubert stutzte und schaute schärfer hin.

Es war Sören, der Junge vom Vordrescher, ein armer, verwachsener Knabe, der mit seinem schiefen Körper nicht an den wilden Banditenspielen der andern teilnehmen konnte, meist verspottet und durch die rohe Grausamkeit, die so oft Kindern eigen ist, zurückgestoßen in trostlose Einsamkeit.

Hubert hat schon oft seine Hände schützend über den Armen gebreitet, und auch jetzt regen sich Mitleid und Edelsinn in seinem Herzen.

Er tritt schnell neben den Weinenden.

»Was ist denn los, Sören? Was heulst du? Hat dich einer geschlagen?«

Da sehen ihn zwei tieftraurige blaue Augen wie hilfeflehend an.

»Nein, Hubert, heut nicht. Aber ich hab hier auch einen kleinen Drachen geklebt, in der Form einer Taube. Und nun dachte ich es mir so schön, ihn einmal fliegen zu lassen.«

»Na, dann laß ihn doch steigen!« Der kleine Giöreczy blickt voll unverhohlenen Interesses nach dem seltsamen Papiergebilde, das die schmale, feingliedrige Hand des verwachsenen Kindes hinter dem Felsen hervorzieht und es mit ängstlichem Forschen hinhält.

Wirklich, wie ein richtiger großer Vogel aus Papier, mit breiten Flügeln, einem steifen Schwanz und Kopf sah es aus.

»Das ist ja famos, Sören! Wirklich fein hast du das gemacht! Du ganz allein?«

Die verweinten Augen leuchten auf, ein Blick innigen Dankes trifft den kleinen Grafen für dieses gute Wort; es ist eine seltene Kost für den verspotteten Jungen.

Er nickt. »Ganz allein! Und ganz schnell gings!«

Hubert hält die Taube in der Hand, sein lebhaftes Gesicht färbt sich.

»Das Ding wird gut fliegen, und lustig aussehen muß es als großer Vogel auch«, ruft er und prüft den primitiven Drachen aus Zeitungspapier.

»Mal flink in die Luft mit ihm! Wo hast du denn die Strippe, Sören?«

Da quollen wieder heiße Tränen aus den Augen des Kindes.

»Ich hab keine! Die Mutter gibt keinen Bindfaden, weil der für die Wäsche zum Aufhängen ist, und Vater schlägt mich, wenn ich um etwas bitte, was Geld kostet.«

Huberts schönes Gesicht spiegelt das tiefe Mitleid wider, das er empfindet.

»Na, sei still! Ich hole von der Großmutter eine feine Rolle, sie hat ja so viel!« Die anderen Kinder haben sich mit Interesse herangedrängt.

»Natürlich! Du kriegst ja so viel, als du nur willst, Hubert«, grinste Willem, der große, schlaksige Bengel mit den boshaft zwinkernden Augen, »und dann nimmst Sören den Vogel weg und läßt ihn für dich steigen!«

»Ja, ja! Das tu! Das tu!« johlt und kreischt es im Kreis, und alle Blicke richten sich auf Sörens blasses Gesicht, das bei diesen Worten zu erstarren scheint.

Ein Zittern geht durch die Glieder des Verwachsenen, wie in flehender Qual haftet sein Blick auf Huberts Antlitz.

Der kleine Graf runzelt unwillig die Brauen.

»Bin ich ein Dieb, du frecher Lümmel?« läßt er den Willem heftig an, daß sich der Bauernbub so scheu duckt wie der Hund vor seinem Herrn. »Was der Sören sich geklebt hat, gehört ihm, und den Drachen läßt er nachher steigen, so will ich das!« Der Sprecher winkt dem Weinenden und sagt: »Komm mit, daß es die Großmutter auch sieht, wie hübsch diese Taube ist.«

Ein seliges Aufatmen! Wie ein Leuchten höchster Begeisterung und Liebe geht es durch die tränenfeuchten Augen des Kindes. Er springt auf und geht, so schnell er mit der schiefen Hüfte kann, neben Hubert dem Heidehaus zu.

»Kommst wohl außer Atem?« fragt der Erbe des Klaus Raßmussen, dem seine Beschützerrolle Spaß macht. »Na, stopp ab! Ich gehe langsamer.« Wieder dieser Blick unbeschreiblicher Dankbarkeit in Sörens Augen.

»Weißt du, Hubert«, sagt er, »ich hab immer die Vögel beneidet, daß sie empor zum Himmel konnten, und wir mit unseren schweren Gliedern müssen so erbärmlich an der Erde kleben. Weißt du, Hubert, es muß schön sein, wie ein Vogel zu fliegen, das wünsch ich mir schon lang!«

Die dunklen Glutaugen des kleinen Deutsch-Ungarn heften sich aufblitzend auf den Sprecher. »Du auch, Sören? Ja, wie kommst denn du auf solche Gedanken?«

»Ich sitz so viel allein im Heidekraut, und das lahme Bein läßt es nicht zu, daß ich mit euch springe und spiele; da sehe ich zu, wie die Vögel so hoch, hoch hinauffliegen. Und weißt du, Hubert, da kommt mir manchmal der Gedanke, daß das schön sein muß. Möcht wohl wissen, wie es im Himmel ist.«

Giöreczy bleibt stehen und blickt seinen Freund groß und nachdenklich an. »Du bist der erste, Sören, der so denkt wie ich. Die andern sind Esel und fragen nach nichts.« Er blickt nachdenklich empor in das graudunstige Gewölk, das hoch über ihnen wie feine Rauchschwaden dahinzieht. »Hast recht, Sören. Es muß schön da oben sein. Weißt du so die ganze Welt zu Füßen! Ich denke mir, wenn man so hoch hinaufkönnte, wie unsre Drachen steigen, muß man bis Berlin sehen können und das Meer ... vielleicht auch Italien, wo die Apfelsinen wachsen.«

»Ja, ja, gewiß wohl! Und die Vögel können hoch und wir nicht«, seufzt der Verwachsene. Da flammt es wieder in Huberts dunklen Augen, die leidenschaftliche Sehnsucht, der tolle, kühne Wagemut, der eiserne Wille, der schon jetzt erzwingen möchte, was er begehrt. »Hab schon manchmal gedacht, Sören, ich möcht mal einen großen, ganz riesig großen Drachen kleben, weißt du, einen, der was aushält, vielleicht von schwarzem Schürzenzeug wie der Antje ihre bunten, nicht von Papier, weil das reißt. Und dann ...«, Hubert neigt sich flüsternd näher, »dann möchte ich mich dranhängen und mich hoch hinauftragen lassen, siehst du, Sören, dann hätt’ ichs erreicht!« Ein fast anbetender Blick trifft den Sprecher. Sören kann kaum sprechen, so schnell geht sein Atem.

»Schön wärs! O mein Gott, sehr schön! Aber, Hubert, wenn der Drachen zerreißen würde? Dann stürzt du hinab und kannst tot sein!« Die Mundwinkel Giöreczys neigen sich noch tiefer, verächtlich hebt er die Schultern. »Glaubst du, ich fürchte mich?« fragt er stolz. Der Kleine erschrickt und faßt wie flehend nach der Hand des jungen Grafen. »Du dich fürchten, Hubert? Ich glaube, eher ging die Welt unter. Nein, das nicht! Du hast immer Mut. Mir würde es nur so leid sein, denn du bist der einzige, der gut zu mir ist.«

»Wenn du auch Courage hast, kannst du ja mitkommen.«

Einen Augenblick überlegt der Verwachsene. Dann hebt er tief atmend das schmale, blasse Gesicht, und seine Augen haften wie in zärtlicher Hingabe auf seinem Begleiter.

»Ich denke, ja! Ich möchte dich begleiten.« Er sagt es schlicht, und Hubert hat es kaum beachtet, aber in Sörens Seele brennen sich diese Worte ein, wie mit feurigem Stift geschrieben. Sie stehen am Fenster, hinter dem Frau Friederike sitzt.

Sie öffnet, hört den Wunsch ihres kleinen Gräfleins und gibt ihm sogleich die größte und dickste Rolle Bindfaden.

Hubert knüpft ihn an den Drachen.

»Nun ists deiner! Willst du ihn steigen lassen?« fragt Sören, und die Sorge liegt auf seiner Stirn.

»Nein, die Taube gehört dir!« schüttelt der kleine Doppelländer den Kopf. »Ich lasse sie für dich an, und du nimmst nachher den Faden und läßt dein Vöglein mit unsern Drachen um die Wette fliegen.«

Ein leises, halbersticktes Jauchzen von des Kranken Lippen, er möchte danken, sagen, was er fühlt, er kann es nicht. Scheu faßt er nach Huberts Hand und streichelt sie. Der zieht die Finger zurück und lacht.

»Mach keine Faxen! Komm!«

Und Sören läßt sein Täubchen steigen; es flog am höchsten von allen und gewann den Sieg.

Von Stund an gab es nichts Höheres, Besseres und Herrlicheres für ihn als Hubert Giöreczy.

Heimlich ging er zu Frau Friederike, sah sie treuherzig an und erzählte, wie seine Taube dem Hubert so wohl gefiele, und er möchte gern eine noch viel größere und schönere für ihn kleben, aber er hätte kein buntes Papier von Gold und Silber und kein Geld, es zu kaufen.

Frau Raßmussen war entzückt von dem Kind und gab ihm das schönste Lackpapier. Sören klebte eine so herrliche Taube, daß Hubert vor Freude über solch ein Geschenk sprachlos war.

Da war die Freundschaft zwischen den beiden so ungleichen Spielkameraden besiegelt, und wenn die Sonne sank und die anderen Kinder heimtobten, dann holte Hubert von der Großmutter das schönste Obst, Kuchen oder leckeres Wurstbrot für sich und den armen kleinen Sören, und sie wanderten zum Heidehang und blickten hinauf in den Himmel, an dem die Vögel wie lockende, winkende Verheißung schwebten. Wie glühten die Kinderherzen in tiefer, ungeduldiger Sehnsucht nach der blauen Ferne, die den armen Erdenmenschen noch ebenso verschlossen ist wie das Paradies, aus dem eigene Schuld sie vertrieben hat. Einmal emporfliegen können mit Taubenschwingen. Einmal die Rätsel des Himmels lösen können. Einmal sich untertan machen, was noch keines Menschen Wille und Klugheit gemeistert hat. Einmal siegen über das große, ernste, unerklärliche Hindernis, die Luft, die der Weg zum Reich Gottes ist.

Der Hauslehrer genügte nicht mehr für Huberts Erziehung, die Tränen Friederikes flossen vergeblich, ihr Liebling wurde ihr genommen und mußte in der Nachbarstadt in Pension gegeben werden, um das Gymnasium zu besuchen.

Hubert setzte es, wie alles, bei den Großeltern durch, daß Sören Hallwege in derselben Stadt bei einem Kunstschlosser in die Lehre kam. Raßmussen bezahlte für ihn, und der heißeste Wunsch des armen Knaben war erfüllt. Seine Hände waren geschickt, sein Kopf hell, sie brachten ihm alles ein, was sein schiefer, elender Körper versagte.

Seine Liebe und Verehrung für Hubert war grenzenlos, und hätte man Sörens Leben für den Freund und Wohltäter gefordert, er hätte es jubelnd gegeben.

Von Stund an, da ihr Grafenkind das Heidehaus verlassen hatte, sank Frau Friederike in ihr altes Leiden zurück.

Es gab keine Besserung mehr. Langsam flackernd, wie ein Licht verlöscht, ging sie heim, um ihrer Ebba voll stolzen Glücks zu sagen: »Ich habe dein Kind ans Herz genommen und es zu einem frommen, braven Menschen gemacht.«

Klaus Raßmussen drückte seiner Frau mit zuckenden Lippen die Augen zu, dann stand er ganz allein. Er war gut zu Hubert bis zur Schwachheit, etwas Scheues, wie ein ungebeichtetes Schuldbewußtsein, lag auf ihm und drückte den hünenhaften Mann nieder.

Nur eins setzte er voll eisernen Willens durch. Ein Deutscher sollte der Junge sein, trotz seines ausländischen Namens. Wer Klaus Raßmussen beerben will, muß bis ins Mark hinein Germane sein.

Und Hubert war es, wenigstens seinem Handeln nach. Er diente sein Jahr bei Haudese nur ab, er studierte Landwirtschaft und schien bereit, den Heidehof nach dem Tod des Großvaters selber in dessem Sinn weiter zu bewirtschaften.

Sein Wesen und Sein aber konnte nie den heißblütigen, eleganten und galanten Ungar verleugnen, dessen Schönheit und Liebenswürdigkeit alle Herzen gewann, dessen kecker, tollkühner Wagemut im Regiment und auf der Universität von sich reden machte.

Eine Lungenentzündung bereitete dem Leben des alten Raßmussen ein unerwartet schnelles Ende.

Hubert von Giöreczy eilte in die Heimat, sein Erbe anzutreten.

Der erste, der ihm im Heidehaus entgegentrat, war Sören Hallwege, der Kunde vom Tod seines alten Wohltäters erhalten hatte und zu seiner Beerdigung gekommen war.

Sehnsucht

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