Читать книгу Folge dem Kompass deines Herzens - Nathalie Weber - Страница 8
ОглавлениеKAPITEL 1 ES GESCHAH FAST UNBEMERKT
„Ich war eigentlich immer ein glückliches Kind. Ich liebte es, draußen zu sein und mit Freunden zu spielen. Ich fand es nicht gut, wenn an einem Nachmittag einmal niemand zu mir kommen oder ich zu niemandem gehen konnte. Ich brauchte Gesellschaft. In der Grundschule fühlte ich mich wohl. Ohne Probleme schrieb ich gute Noten, ich musste eigentlich überhaupt nichts lernen. Ich hatte sehr viel Zeit für andere Dinge. Ich lernte Flöte spielen, ging eine Zeit lang ins Badminton und in die Leichtathletik. Mein Wunsch war es schon sehr früh in der Grundschule, auf das Gymnasium zu gehen. Dort ging ich auch hin. Auf dem Gymnasium musste ich dann doch auf Arbeiten lernen. Aber mir blieb noch genug Freizeit. Mittlerweile hatte ich angefangen, Saxophon-Unterricht zu nehmen. Ich bin im Musikverein. Auch lernte ich noch Klarinette zu spielen. Das macht mir Spaß. Die ersten Jahre auf dem Gymnasium verbrachte ich gut. Ich hatte immer Freunde, die ich manchmal mittags besuchen konnte oder die zu mir kommen konnten. Ich brauchte Gesellschaft. Ich mochte es unter Leuten zu sein. Aber im Mittelpunkt stand ich nie und das wollte ich auch nicht.“ (geschrieben 2010)
Gemeinsam mit meiner Familie – meinen Eltern und meinem Bruder – lebte ich in einem kleinen Dorf. Dort bin ich aufgewachsen, ging in den Kindergarten und in die Grundschule. Nachmittags verbrachte ich die Zeit mit meinen Freunden oder spielte mit meinem Bruder. Wir waren viel in der Natur, fuhren Rad, gingen auf einen Spielplatz oder kuschelten mit unseren Haustieren, einem Hasen und einer Katze. Natürlich kam es zu kleinen Streitereien mit meinen Freunden oder meiner Familie, aber ich kann sagen, dass ich eine schöne Kindheit hatte und wohlbehütet aufwachsen durfte.
Als ich dreizehn Jahre alt war, im Jahr 2007, ging es mir gut. Damals ging ich in die 7. Klasse eines Gymnasiums und war eine gute Schülerin. Wahrscheinlich auch deshalb, weil mich die meisten Fächer interessiert haben. Lernen war für mich nichts, das ich mit Zwang oder Druck tun musste. In meiner Klasse, aber auch außerhalb, hatte ich einige Freunde. In meinem Freundeskreis fühlte ich mich wohl. Natürlich war nicht immer alles harmonisch. Neben pubertären Streits gab es auch die ein oder andere kleine Hürde, die es zu bewältigen galt. All das gehörte, meiner Meinung nach, zu einem Alltag eines Teenagers. Es belastete mich nicht in dem Ausmaß, in dem es mich später noch belasten würde, und ich konnte gut damit umgehen.
Juni/Juli 2007 – Schullandheim auf Föhr
Diese beiden Bilder entstanden im Schullandheim auf Föhr. Zu dieser Zeit fühlte ich mich wohl in meinem Körper, auch wenn ich etwas pummeliger war als manche meiner Klassenkameraden. Damals wog ich bei einer Größe von 1,63 Metern zwischen 60 und 62 Kilogramm.
Irgendwann, ungefähr Ende 2007, fing ich an, meinen Körper mit dem der anderen zu vergleichen. Der Großteil der anderen Mädchen aus meiner Klasse war schlank. Sie trugen gefühlt alle diese engen Röhrenjeans von H&M. Ich wollte diese Hosen auch tragen, aber sie passten mir nicht. Hinzu kam der Kommentar eines Klassenkameraden über meine Figur: „Schau dich mal an, du bist ganz schön dick.“ Da ich mich zu diesem Zeitpunkt in meinem Körper nicht mehr wohl fühlte, nahm ich mir seine Aussage sehr zu Herzen. Bestätigte er doch meine Einschätzung, dass ich fülliger war als meine Klassenkameraden. Ich fing an, an meinem Aussehen und meinem Körpergewicht zu zweifeln. Meine Zweifel führten dazu, dass ich mich in meinem Körper überhaupt nicht mehr wohl fühlte und mir vornahm, abzunehmen. Mein ursprüngliches Ziel war, so viel abzunehmen, bis ich in diese Hosen passe. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir nie Gedanken über meine Ernährung gemacht. Ich würde sagen, dass ich mit einer ausgewogenen Ernährung aufgewachsen bin. Im Alltag kochte meine Mama einmal am Tag immer frisch, die Gerichte variierten von Tag zu Tag, die Brotdosen für die Schule wurden in den ersten Schuljahren von meiner Mama, später von mir selbst frisch zubereitet, es gab jeden Tag Obst und Gemüse, aber auch immer eine kleine Süßigkeit. Selten aßen wir Fast Food. Generell gab es aber keine Verbote in der Ernährung.
Die Süßigkeiten zu reduzieren beziehungsweise komplett aus meiner Ernährung zu streichen, war der Beginn meiner „Diät“. In den folgenden Wochen verzichtete ich außerdem auf manch andere Lebensmittel mit einer hohen Kaloriendichte, zum Beispiel Pommes oder Nudeln, oder aß davon nur eine geringe Menge. Auch ließ ich hin und wieder eine Mahlzeit ausfallen und aß viel Obst und Gemüse. Diese Einschränkungen einzuhalten, fiel mir in den ersten Wochen nicht leicht. Deswegen hielt ich mich nicht konsequent daran. Für mich war das damals aber ein Zeichen dafür, dass ich zu schwach war, um meine „Diät“ durchzuhalten und es führte dazu, dass ich mich schlecht fühlte. Da ich meinem Körper zu wenige Nährstoffe zuführte, signalisierte er mir ständig ein Hungergefühl. Dieses ignorierte ich meistens. Das war eine Qual. Es fühlte sich nicht gut an, ständig Hunger zu haben. Das auszuhalten war es mir jedoch wert. Denn ich wollte mir und den Menschen um mich herum zeigen, dass ich es schaffen konnte, abzunehmen. Von Woche zu Woche wurde es einfacher, mich an die Einschränkungen zu halten und das Hungergefühl auszuhalten. Ich nahm damit ab und das motivierte mich, die „Diät“ fortzuführen. Denn sie signalisierte mir: „Du kannst es schaffen.“ Im März 2008 wog ich bereits circa 53 Kilogramm. Ich passte inzwischen in diese Röhrenjeans und hatte damit mein ursprüngliches Ziel erreicht.
Im März 2008 fand meine Konfirmation statt. Zu diesem Zeitpunkt bekam ich von den Menschen um mich herum Komplimente dafür, dass ich abgenommen hatte und gut aussehe. Diese Komplimente bestärkten mich. Sie gaben mir das Gefühl, dass ich genug Disziplin für eine Abnahme aufbringen konnte. An meiner Konfirmation sagte mein Großcousin aber auch zu mir: „Die Abnahme reicht nun aber. Du darfst nicht noch dünner werden.“ Im Nachhinein betrachtet eine sehr wichtige und richtige Aussage, die ich mir damals aber nicht zu Herzen nehmen konnte. Ich dachte mir nur: Es reicht noch nicht.
„Ich nahm mir vor, abzunehmen. Und das schaffte ich auch. Nur irgendwann hatte ich es nicht mehr unter Kontrolle.“ (geschrieben 2010)
Obwohl ich mein ursprüngliches Ziel erreicht hatte, reichte mir die Abnahme nicht aus. Warum? Darüber machte ich mir zu diesem Zeitpunkt keine Gedanken. Für mich war alles in Ordnung. Ich wollte „nur“ noch ein bisschen abnehmen. Dabei hatte ich mein eigentliches Ziel bereits erreicht. Doch ich genoss das Gefühl von Erfolg und Stärke, das mir der Gewichtsverlust vermittelte. Damals bemerkte ich nicht, dass ich es zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr unter Kontrolle hatte und es bereits lange nicht mehr darum ging, besser auszusehen.
Bereits in dieser Zeit kontrollierte ich mein Essverhalten. Ich saß zwar immer mit meiner Familie gemeinsam zu den Mahlzeiten am Tisch, aß aber öfter nicht das, was meine Eltern und mein Bruder aßen, sondern hatte mir selbst etwas anderes zubereitet. Zu der Kontrolle meines Essverhaltens gehörte die genaue Dokumentation der Mahlzeiten, die ich zu mir genommen hatte. In dieser Tabelle notierte ich gleichzeitig mein Gewicht, um zu sehen, wann ich mit welchen Mahlzeiten abgenommen hatte. Diese Dokumentation war ein Zwang, dem ich nachgehen musste. Ich hatte das Gefühl, es nicht auszuhalten, wenn ich meine Mahlzeiten nicht dokumentieren konnte. Selbst im Urlaub, als ich mit meiner Familie für eine Woche in den Bayrischen Wald gefahren war, musste ich meine Mahlzeiten weiterhin in der Tabelle notieren.
Beispieltabelle
Gewicht morgens | 53 kg |
Frühstück | 1 Birne |
Snack | 1 Apfel |
Mittagessen | 2 Stücke Salzkuchen |
Abendessen | 1 Teller Tomate-Zucchini-Gratin und 3 kleine Scheiben Brot |
Gewicht abends | 53,8 kg |
In der Lebensmittelauswahl war ich noch nicht so eingeschränkt und konnte mir Ausnahmen erlauben. So zum Beispiel am Tag meiner Konfirmation. Ich ging zwar ohne Frühstück aus dem Haus, aß aber den restlichen Tag über „normal“: So konnte ich das Menü in der Gaststätte essen, ohne mich einzuschränken. Ich erlaubte mir die Vorspeisensuppe, den Hauptgang mit Fleisch und Beilagen sowie das Eis zum Nachtisch. Zuhause bei Kaffee und Kuchen aß ich zwei Stücke Kuchen und beim Abendbrot gab es für mich Brot, Belag und Gemüse. Wie aber das Wort „erlaubt“ schon ausdrückt, konnte ich das Essen nicht komplett genießen. Meine Gedanken kreisten bereits Tage vor einem besonderen Ereignis nur um das Essen. Ich wusste, dass es mehr und kalorienhaltigere Lebensmittel geben wird. Was konnte ich mir an diesem Tag erlauben und wie konnte ich die höheren Mengen an den folgenden Tagen wieder ausgleichen? Mit solchen Gedanken beschäftigte ich mich mehrere Stunden, sie nahmen einen großen Teil meines Tages ein.
Zu der Kontrolle meines Essverhaltens kam die Kontrolle meines Gewichts. Ich wog mich mehrmals täglich – nach dem Aufstehen, nach dem Mittagessen, nach dem Abendessen. Damit wollte ich konsequent kontrollieren, wie sich mein Essverhalten auf mein Gewicht auswirkte. Ich habe damals jedoch nicht bedacht, dass Essen – egal, wie viele Kalorien die jeweiligen Nahrungsmittel haben – etwas wiegt und sich das natürlich auf der Waage wiederspiegelt, genauso wie die Menge an Flüssigkeit, die ich zu mir nahm. Dieses mehrmalige Wiegen am Tag war ein regelrechter Zwang. Konnte ich diesem nicht nachgehen, war das Essen noch schwieriger für mich als sowieso schon. Eine, meiner damaligen Ansicht nach, zu große „Zunahme“ im Laufe des Tages führte dazu, dass ich mir ganz genau überlegte, was ich den restlichen Tag noch essen durfte und was nicht.
Viele Stunden meines Tages verbrachte ich mit den Gedanken um Essen, Nicht-Essen und Gewicht. Ich plante bereits im Voraus, was ich an welchem Tag essen dürfe.
Meine Tagebucheinträge spiegeln meine Gedanken an Gewicht und Essen wieder:
„Ich will am Sonntagabend 53,5 Kilogramm wiegen und das wiege ich gerade auch, aber vor der Konfirmation waren es noch 52,5 Kilogramm. Ich darf halt nur einen Apfel zum Frühstück essen und auch nichts zwischendurch.“ (Tagebucheintrag 13.03.2008)
Zusätzlich zu den Gedanken um Essen, Nicht-Essen und Gewicht konnte ich mich stundenlang damit beschäftigen Rezeptbücher anzuschauen. Mir reichte es vollkommen aus, die Bilder von sämtlichen Gerichten anzusehen, selbst essen wollte ich sie nicht. Auf den Gedanken, dass dieses Verhalten ungewöhnlich war, kam ich nicht. Für mich schien das eine sinnvolle Beschäftigung zu sein. Wie ich im Nachhinein aber weiß, trieb mich die Anorexie dazu. Damit konnte sie mich von anderen Themen und Problematiken ablenken.
Nach einem Gewichtsverlust von sieben bis neun Kilogramm innerhalb recht kurzer Zeit – circa drei Monate – blieb im März 2008 meine Periode aus. Eindeutig ein Warnsignal! Eigentlich hätte ich mir darüber Gedanken machen sollen, das tat ich aber nicht. Für mich war alles nach wie vor nur eine „Diät“, die ich ja, wie ich damals behauptete, jederzeit beenden könnte. Zu meiner Periode schrieb ich folgenden Tagebucheintrag:
„Meine Tage habe ich immer noch nicht bekommen, aber naja scheiß drauf!“ (Tagebucheintrag 19.03.2008)
Damit war dieses Thema für mich vorerst beendet. Ich hatte damals keine Angst vor möglichen Folgen, die eine ausbleibende Periode mit sich bringen kann.
Im Mai 2008 spitzte sich die Situation zu. Mein Gewicht stagnierte bei 53 Kilogramm. Damit wollte und konnte ich mich nicht zufrieden geben. Ich war besessen davon, weiter abzunehmen, weil das zeigte mir, dass ich etwas kontrollieren konnte. Das war mir in dieser Situation aber nicht bewusst. Zudem war meine Körperwahrnehmung verzerrt und so sah ich mich als nicht schlank genug an. Wobei ich nach der Aussage von Außenstehenden durchaus dünn war. Von dem anfänglichen „nur auf Süßigkeiten verzichten“ hatte ich mittlerweile meine Ernährung so weit eingeschränkt, dass es mein Ziel war, nur Obst und Gemüse und einmal am Tag einen Teller eines warmen Gerichts zu mir zu nehmen. Mit diesen zusätzlichen Einschränkungen nahm ich wieder ab. Jedes Gramm weniger bestätigte mich darin, dass ich selbst etwas schaffen konnte und ich die Kontrolle hatte. Ich hatte kein Schönheitsideal, dem ich ähnlicher werden wollte. Es ging nur um diese Bestätigung, die ich dadurch bekam und das Gefühl, die Kontrolle zu haben, welches mir die Abnahme vermittelte.
Weiterhin dokumentierte ich meine Mahlzeiten ganz genau in einer Tabelle.
Die Tabelle sah zwischenzeitlich beispielsweise so aus:
Gewicht morgens | 50,75 kg |
Frühstück | 1 Apfel |
Mittagessen | 1 TellerKartoffelgratin |
Abendessen | 1 Apfel, Radieschen |
Gewicht abends | 51,25 kg |
Aß ich mehr oder andere Nahrungsmittel, fühlte ich mich wie ein Versager. Es fiel mir leichter als zu Beginn meiner „Diät“, mich an meine Einschränkungen zu halten, weil ich zwischenzeitlich mein Hungergefühl verloren hatte. Ich spürte keinen Hunger mehr.
Um weiter abzunehmen, begann ich, Sport zu machen. Ich ging ab und zu joggen, maximal jedoch zwei Mal pro Woche. Zu diesem Zeitpunkt waren Sport und Bewegung noch kein Zwang für mich. Weil es mir auch keinen Spaß machte, ließ ich des nach kurzer Zeit wieder sein.
Durch die Einschränkungen, die ich mir bezüglich der Nahrungsaufnahme auferlegte, zog ich mich immer weiter von meinen Klassenkameraden zurück. Ich konnte mir nicht erlauben, ein Stück Kuchen oder einen Keks anzunehmen. Irgendwann bekam ich nichts mehr angeboten, da ich sowieso alles ablehnte. In der Mittagspause gingen viele meiner Klassenkameraden in die Stadt, um sich etwas zu essen zu kaufen. Meine Ernährungseinschränkungen verbaten mir aber, sie zu begleiten, weil sie mir vorgaben, dass ich mein mitgebrachtes Obst und Gemüse in der Schule essen musste. Damit schloss ich mich immer weiter von meinen Klassenkameraden aus. Damals konnte ich nicht sehen, welchen Beitrag ich selbst dazu leistete. Ich hatte das Gefühl, mich mochte keiner und niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Dieses Gefühl, dass mich keiner mag, wurde durch die pubertären Streits verstärkt. Inzwischen bedeuteten sie für mich einen Weltuntergang. Ich dachte mir zum einen, die ganze Freundschaft sei kaputt, und zum anderen nahm ich das Verhalten der anderen immer persönlich und bezog es auf mich. Dadurch hatte ich das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein und es nicht wert zu sein, Freunde zu haben. Es kam nicht selten vor, dass ich nach einem Schultag alleine in meinem Zimmer saß und lange weinte. All diese Gefühle überforderten mich, ich konnte sie nicht aushalten. In den Momenten, in denen ich so verzweifelt und weinend in meinem Zimmer war, konnte ich nichts Positives mehr in meinem Leben sehen. An diesen Tagen wartete ich nur darauf, dass es endlich spät genug war und ich schlafen gehen konnte.
Die Situation zuhause wurde ebenfalls angespannter. Sprachen mich meine Eltern auf mein Essverhalten an oder versuchten, mir bestimmte Gerichte vorzusetzen, reagierte ich mit Schweigen – teilweise sogar tagelang. Diese Reaktion war für meine Eltern und für mich schwer auszuhalten. Dennoch konnte ich nicht anders. Ich reagierte so, weil ich mich von ihnen nicht verstanden fühlte und ich wollte, dass ich in Bezug auf mein Essverhalten selbst bestimmte und sie sich nicht einmischen.
„Ich zog mich in meiner Klasse zurück, wollte mit niemanden mehr etwas zu tun haben. Was sollte ich sagen, wenn sie sagten, ich soll doch etwas essen? Ich konnte damals nichts ändern und wollte es auch eigentlich nicht. Mir war nicht klar, dass ich krank bin. Ich blockte bei den Fragen immer ab. Ich zog mich in meiner Klasse deswegen immer mehr zurück. Oft war ich allein, saß nur da, hörte Musik und las. Auch daheim war es schwer für mich. Wenn irgendjemand etwas zu meinem Essverhalten sagte, reagierte ich mit Schweigen. Ich weiß, dass ich damit viele verletzt habe und es tut mir auch leid, aber ich konnte nicht anders.“ (geschrieben 2010)
Die Sommerferien im Jahr 2008 nutzte ich dazu, noch weiter abzunehmen. Nach den Ferien lag mein Gewicht bei 43 Kilogramm. Das fiel sowohl meinen Klassenkameraden als auch meinen Lehrern auf. Inzwischen sah man mir an, dass ich viel zu dünn, ja sogar bereits sehr dürr war. Ich selbst hatte kurze Momente, in denen ich realisierte, dass es so nicht weitergehen konnte. Aber mir war nicht bewusst, dass ich bereits seit einigen Monaten unter einer Essstörung litt – von einer Krankheitseinsicht war ich zu diesem Zeitpunkt weit entfernt. Bei einem Klassenfrühstück wurde ich von mehreren Klassenkameraden aufgefordert, etwas zu essen. Doch ich konnte nicht. Ich konnte mir schon seit einer ganzen Weile keine Ausnahmen mehr erlauben, wie noch zum Beispiel an meiner Konfirmation. Die Aufforderungen meiner Klassenkameraden und das ständige Ablehnen-müssen waren anstrengend. Ich wollte nur, dass sie mich in Bezug auf mein Essverhalten in Ruhe ließen und ich darüber, was und wie viel ich aß selbst bestimmte. Schließlich trug dies dazu bei, dass ich mich aus meiner Klasse immer mehr zurückzog. Das „nicht dürfen“, „nicht können“ und „müssen“, das ich beschreibe, waren nicht meine eigenen Entscheidungen, sondern die der Anorexie, die mich vollkommen beherrschte. Das konnte ich damals jedoch nicht wahrhaben. Ich war immer noch der Meinung, ich selbst hätte alles unter Kontrolle:
„ Wenn ich wöllte, könnte ich essen, aber ich will nicht.“ (Tagebucheintrag 28.09.2008)
Nach dem Klassenfrühstück wollte meine neue Klassenlehrerin mit mir sprechen. „Du bist viel zu dünn“, sagte sie, „ich mache mir Sorgen um dich.“ Ich konnte so gut wie nichts sagen, weil ich viel weinen musste. Die Tränen waren für mich damals unerklärlich.
„Ich habe dann auch geweint. Das war nicht ich.“ (Tagebucheintrag 28.09.2008)
Ich kam nicht auf den Gedanken, dass diese Tränen bedeuteten, dass meine Klassenlehrerin mit ihren Worten einen wunden Punkt getroffen hatte und es durchaus Grund zur Sorge gab. Meine neue Klassenlehrerin sagte mir, ich solle noch mit meiner ehemaligen Klassenlehrerin sprechen.
Am selben Tag wurde mir zuhause ganz schwarz vor Augen und ich sackte zusammen – auch ein Zeichen dafür, dass ich meinem Körper zu wenig Energie zuführte und damit ein weiteres Warnsignal! Für mich damals aber kein Grund zur Sorge.
Einige Tage später folgte das Gespräch mit meiner ehemaligen Klassenlehrerin. „Du siehst unglücklich aus“, sagte sie, „ich möchte dich mal wieder lachen sehen.“ Ich machte es ihr in diesem Gespräch sicherlich nicht einfach, weil ich alles als „normal“ bezeichnete und keinen Grund zur Sorge signalisierte. Sie machte mir das Angebot, ihr einen Brief zu schreiben, wenn ich ihr noch etwas mitteilen möchte. Dieses Angebot nahm ich dankbar wahr. Schreiben fiel mir leichter als sprechen – in diesem Brief versuchte ich, nicht mehr alles als „normal“ zu bezeichnen. Ich teilte ihr mit, dass ich mich in der Klasse nicht mehr wohl fühlte, dass ich das Gefühl hatte, keine Freunde zu haben und dass ich zu wenig aß. Ich selbst dachte zu diesem Zeitpunkt aber überhaupt nicht daran, dass ich an einer Essstörung leiden könnte. Darüber hinaus sollte ich meiner ehemaligen Klassenlehrerin versprechen, dass ich am Wochenende mehr essen würde. Dieses Versprechen gab ich ihr zwar, daran halten konnte ich mich aber nicht. Sie riet mir außerdem, zu einer anderen Lehrerin mit einer speziellen Ausbildung zu gehen und mit ihr zu sprechen. Das tat ich nicht. Ich sah zum einen keinen richtigen Anlass dafür und traute es mich zum anderen auch nicht.
Zu den Sorgen meiner Lehrerinnen kamen die Sorgen, die sich meine Freunde und Eltern um mich machten. Für mich war das damals nicht nachvollziehbar, da ich mir immer noch einredete, alles sei in Ordnung und ich könnte die ganze Situation steuern – dabei war ich davon weit entfernt.
Es folgten ein, zwei weitere Gespräche und Email-Kontakt mit meiner neuen Klassenlehrerin. Ich willigte ein, dass sie mit meiner Mama sprechen durfte. Warum? Ich hatte das Gefühl, keine Wahl zu haben. Ich dachte, meine Klassenlehrerin würde sowieso mit ihr sprechen. Deshalb. Vermutlich wollte ich mir damit das Gefühl geben, ich habe die Situation unter Kontrolle. Sie empfahl mir außerdem den Besuch bei einer Beratungsstelle. Ich war mir nicht sicher, ob ich einen solchen Termin wahrnehmen möchte. Letzten Endes willigte ich vermutlich deshalb ein, weil ich befürchtete, meine Klassenlehrerin könne erneut mit meiner Mama sprechen, um einen anderen Weg zu finden, damit ich mir helfen lasse. Um das zu verhindern, entschied ich mich lieber selbst dafür, freiwillig einen Termin in der Beratungsstelle wahrzunehmen.