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Das Ich im Spiegel

„Ich bin zwischen meiner Krankheit, meinen Schmerzen und der Literatur hin- und hergerissen. Franz Kafka hasste seinen Vater und sprach gut über seine Mutter. Kurt Tucholsky hasste seine Mutter und liebte seinen Vater. Ich hasse meinen Vater und ich erinnere mich sehr schmerzhaft an ihn. An meine Mutter denke ich auch nicht so gerne, und ich spüre keine Liebe zu ihr. Als Kind, wie sehr habe ich die beiden geliebt. Als ich 16 Jahre alt war, änderte sich mein Leben rasch. Danach ist es unerträglich schmerzhaft geworden… Kafka und Tucholsky liebten nur einen Elternteil, beide haben nie die Liebe zum zweiten Elternteil empfunden. Ich liebte beide und spüre keine Liebe mehr zu ihnen. Wer von uns dreien ist glücklicher, haben wir in dieser Sache überhaupt Glück?!…“, las Anne vor. Sie legte den Brief auf den kleinen Tisch und schaute Louise mit ihren vielsagenden Augen an, die auf einem Sessel saß und in ihr Heft ein paar Notizen machte. „Das ist ein kurzer Abschnitt aus einem Brief. Olivia, so heißt das Mädchen. Sie ist 17 Jahre alt und wohnt in Brasilien. Sie möchte unbedingt nach Europa kommen und hier studieren. Deshalb bewarb sie sich bei mir um ein Stipendium“, sagte Anne. „Was hat sie erlebt?“, fragte Louise. „Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen mit vier Brüdern auf. Ihre Eltern hatten finanzielle Schwierigkeiten. Olivia war 16 Jahre alt und besuchte noch die Schule. Sie war eine sehr gute Schülerin und träumte von einem Studium und von einem besseren Leben. Sie war ein hübsches, gesundes Mädchen. Ihre Eltern verkauften sie an ausländische Männer. Jeden Tag musste sie mit verschiedenen Männern schlafen. Es waren reiche, einsame, unglückliche Männer, die bereit waren, für Sex viel Geld zu zahlen. Aus dem Haus konnte sie nicht fliehen. Olivia war im Keller des Elternhauses eingesperrt. Essen, Trinken, ihre Bücher und die Männer wurden ihr dorthin gebracht.

An einem Sonntag stand vor ihr ein hungriger älterer Mann, der in großer Eile war und kaum warten konnte, auf sie zu springen. Er zog seine feine Kleidung wild und schnell aus und warf diese weit von sich. Dabei rutschte ein Taschenmesser aus seiner Hosentasche, was Olivia nicht unbemerkt blieb. Ihre Gedanken kreisten um die eigene Rettung. Sie dachte an das Taschenmesser, das irgendwo unter dem Bett lag, und als der Mann bei seinem Höhepunkt schrie und auf ihr liegend vibrierte, dachte Olivia an ihre Erlösung. Nach seinem gekauften Spaß zog er sich langsam an. Er schaute Olivia kaum an, die ganz nackt auf ihrem Bett lag und deren Gesicht ihr ganzes Leid zeigte. Der Mann ging mit schnellen Schritten zur Tür und klopfte daran. Als Olivias Vater die Tür aufmachte, lief er schnell hinaus.

Olivia blieb regungslos liegen und starrte in Richtung der Tür. Sie stand langsam auf, kroch unter das Bett, nahm das Messer in die Hand und ging damit zur Tür. Sie versuchte, mit dem Messer die Tür aufzumachen. Die Tür aber war von außen mit einem Schloss zugesperrt. Sie stach und stach mit dem Messer mehrmals auf die Tür ein. Als sie merkte, dass sie so die Tür nicht aufkriegte, kniete sie weinend vor der Tür. Verzweifelt warf sie das Messer weg und legte den Kopf in ihren Schoß. Nach ein paar Minuten hob sie ihren Kopf; sie hielt kurz inne, schaute auf das Messer, stand auf und nahm das Messer in die Hand. Mit der Spitze des Messers spielte sie an ihrem linken Handgelenk, und dabei schaute sie regungslos in die Ferne. Den stechenden Schmerz an ihrem Handgelenk empfand sie als sehr angenehm, die sanften, spielerischen Messerbewegungen bekamen mehr Gewicht; schlagartig spürte sie in ihrer rechten Hand viel Kraft und drückte das Messer ganz tief in ihre Pulsadern hinein.

Olivias Mutter machte die Tür auf. Das Tablett, auf dem sie das Mittagessen für ihre Tochter vorbereitet hatte, fiel ihr aus der Hand, als sie Olivia bemerkte. Sie sah das aus ihren Adern strömende Blut, das ihren nackten Körper bedeckte. Schreiend lief sie zu ihrer Tochter, riss sich die Schürze vom Leib, drückte damit auf die Wunde und versuchte, das Blut zu stoppen. Sie betrachtete ihre bewusstlose Tochter, die in ihrem eigenen Blut badete und die sie für Geld gnadenlos geopfert hatte. Verzweifelt rief sie ihren Mann, einen Krankenwagen anzurufen.

Vor fünf Monaten hat Olivia versucht, sich das Leben zu nehmen. Zurzeit wird sie in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Nach ein paar Monaten, als es ihr besser ging, schickte sie mir von der Klinik aus diese E-Mail“, erzählte Anne weiter. „Hat sie ihre Eltern angezeigt?“, fragte Louise und schaute zwischendurch in ihr Notizbuch. „Nein, sie sagt, dass sie an ihre Brüder denkt. Olivia ist verzweifelt; sie weiß nicht, was besser für ihre kleinen Brüder ist: mit solchen Eltern zusammenzuleben oder ohne sie aufzuwachsen. Sie sind zwischen acht und 14 Jahre alt.“„Haben Sie schon mit ihr geredet?“, fragte Louise Anne. „Ja, mehrmals“, erwiderte sie und fuhr fort: „Den Brief habe ich vor zwei Monaten bekommen; ich war tief berührt und habe ihr sofort zurückgeschrieben. In den letzten Tagen habe ich oft mit ihr telefoniert, sie spricht gut Englisch. Wie konnte ich ihre Not ignorieren?! Sie war überglücklich, als sie erfuhr, dass sie von meiner Stiftung das Stipendium kriegt.“ „Wann wird Olivia da sein?“, fragte Louise mitfühlend. „Es dauert nicht mehr lange, Olivia wird mit Vida bald hier sein. Vida ist eine meiner Mitarbeiterinnen, die selbst aus Brasilien kommt und seit 40 Jahren hier lebt. Sie ist in ihre Heimat geflogen und kümmert sich persönlich um das Mädchen. Es war nicht einfach für sie, das Visum zu bekommen. Sie beantragte gemeinsam mit Vida das Visum und musste ein paar Wochen auf die Antwort warten. Wir mussten für sie richtig kämpfen und die Botschaft überzeugen, dass wir persönlich für Olivia sorgen werden. Wir tragen die ganze Verantwortung für sie. Sie wird am Anfang bei Vida wohnen und gleichzeitig zu Ihnen zur Therapie kommen. Wenn sie stabiler und gesünder wird, wird sie in einer Wohngemeinschaft der Stiftung wohnen“, sagte Anne, trank das Wasser und wollte Louise etwas sagen, als sich die Tür ihres Arbeitszimmers öffnete und ihr dreijähriges Enkelkind hüpfend und schreiend zu ihr lief.

„Omi, wir sind schon da!“ sagte sie und sprang in die offenen Arme ihrer Oma. „Mein Engel, wie sehr habe ich dich vermisst“, sagte Anna und umarmte ihre Enkelin zärtlich. „Das ist Mia, meine jüngste Enkelin, die unerwartet und spät zu uns kam. Kommen Sie, Louise, mit, ich möchte Sie mit meiner Familie bekannt machen!“, sagte Anne und ging gemeinsam mit ihr und Mia aus dem Zimmer.

Sie gingen durch das Haus in den Garten. Ihre ganze Familie war schon da. In zwei Wochen feierte Anne ihren 80. Geburtstag, und ihre Kinder mit ihren Familien waren schon angereist. Annes Augen glänzten vor Glück und zeigten unglaublich viel Wärme. Sie umarmte ihre Kinder, ihre Enkelkinder und sagte mit fröhlicher Stimme: „Es ist so schön, euch alle wieder zusammen zu sehen und euch ganz nahe zu spüren!“. Dann ging Anne zu Louise, legte ihre Hand auf ihre Schulter und sagte zu ihrer Familie: „Dies ist Louise. Sie ist eine Psychotherapeutin und arbeitet seit einem Jahr mit meiner Stiftung zusammen. Und Louise, das ist meine Familie: meine Zwillinge, meine Tochter Lile und mein Sohn Luka. Dies sind Liles Kinder, ihre Tochter Aurora und ihr Sohn Kevin. Hier Lukas' Zwillinge Fritz und Felix und seine kleine Tochter Mia, die kennen Sie ja schon“, sagte Anne lächelnd und schaute ihre kleine Enkelin lieb an, die ihre Hand in Omas Hand verborgen hielt. „Mein Schwiegersohn Alex und meine Schwiegertochter Graeca.“ Anne schaute hin und her mit ihren schönen und warmen Augen und suchte ihren lieben Ehemann, den sie heute noch ebenso sehr liebte wie vor 40 Jahren, als sie ihn heiratete. „Mam, Papa wollte sich kurz umziehen“, sagte Lile zu Anne. Sie kannte ihre Mama gut, und sie wusste, dass sie mit solchen leidenschaftlichen Augen nur ihren Mann anblickte. „Schau mal, da kommt der Opa!“, sagte Mia und klatschte ihre kleinen Händchen vor Freude aufeinander. Anne drehte ihren Kopf und sah den aus dem Haus zu ihnen laufenden David an. Sie blickten einander in die Augen und ihre Gesichter zeigten ein großes Geheimnis, das Geheimnis, das sie schon seit vier Jahrzehnten miteinander teilten.

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