Читать книгу Hermes Fettberg - Ne delco Brada - Страница 3
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ОглавлениеDer Kerl sieht ziemlich lädiert aus und steht dem Tode nahe: näher als einem Menschen je zuvor! In seiner Brust klafft eine tiefe Wunde, aus der wie ein kleiner Wasserfall das Blut strömt; und aus dem Hals springt nicht weniger wild der Lebenssaft hervor.
Wer sich in einem derartigen Zustand befindet, hegt oft den letzten Wunsch, ein gutes Wort, dem Gutes folgen soll, zu sprechen und zu beichten, was ihn schon seit längerem bedrückt. Dieser miese Typ hier aber, der sterbend im eigenen Blut auf der Straße liegt, den Verkehr aufhält, lästige Hupkonzerte und ungehemmtes Geschrei auf der Straße provoziert, macht hingegen keine Anstalten, seiner Seele Friede zu verschaffen, und will offenbar seinen letzten Wille: mit schlechtem Ausgang unters Volk bringen!
„Wenn ich könnt, dann würd ich dir … eine Kugel verpassen, du Schwein!“, sagt der Kerl röchelnd zu der Gestalt, die sich über ihn beugt.
„Hast du mir sonst nichts zu sagen?“, fragt die Gestalt den Todgeweihten.
„Das hab ich schon! Jetzt verzieh dich … und lass mich verrecken oder hilf mir … beim Sterben!“
„Ich werde dir helfen, meine Botschaft zu verstehen, ehe ich dich in den Hades bringe!“, sagt die Gestalt.
„Verschwinde! Bist nicht … mein Beichtvater!“
„Dann werde ich dir sagen, was passiert ist: Du wolltest jemanden ausrauben! Du hast dich von hinten angeschlichen, ihn mit einem Messer bedroht und aufgefordert, den Kofferraum seines Autos zu öffnen. Bis dahin lief alles glatt! Doch dann kam es anders! Der Fremde wandte sich dir zu - blitzschnell! - und hielt plötzlich ein Samuraischwert in der Hand; es glitzerte hell und hatte erst vor kurzem einen neuen, sauberen Schliff verpasst bekommen. Mit jener überraschenden Wendung konntest du nicht rechnen. Es war der Moment: Kleines Messer trifft auf großes Schwert! Und flugs wurde dir klar, du würdest keine Chance haben. Der Fremde lächelte dir zu und fackelte nicht lange herum; er stach dir erst in die Brust, dann trennte er gekonnt mit einem einzigen Hieb den Kopf vom Rest deines erbärmlichen Daseins. Dir ist also Gerechtigkeit widerfahren, du Kreatur!“
„Und … weiter?“, fragt der Gauner gelangweilt.
„Was soll schon sein?“, antwortet die Gestalt, sich wieder erhebend. „Du stirbst! Ich bringe dich in den Hades! Und das wars!“
„Wer bist du eigentlich, du verdammtes … verdammtes Dreckschwein?“
„Ich bin Hermes, der Götterbote des Zeus, und ich habe den Auftrag erhalten, deine unbedeutende Seele zur letzten Ruhe zu betten.“
„Kenn ich nicht! Weiß nur was … über Herpes. Kannte mal eine leichte Dame, die … hatte … hatte ihn zwischen den … Beinen und … und ich danach am Mund … und … und …!“
„Und jetzt bist du tot!“, sagt Hermes, als er seine Flügel, die an seinen Schuhen hängen, startklar macht. Er erhebt sich mit der Seele des nichtsnutzigen Gauners in die Lüfte und begibt sich auf den Weg, schneller als jeder Gedanke und - schneller als das Licht! Dann hört er ein Rufen: „Hermes, Hermes!“ Wer verlangt nach mir? Ist es Zeus? Habe ich ihn erzürnt? Er kommt ins Trudeln und spaltet die Wolken entzwei, während er im Sinkflug sich rasend schnell der Erde nähert. Dabei verliert er die Seele, die er in den Hades bringen soll. Jetzt hört er: „Hermes! Hermes! Süßigkeiten auf dem Teller, die frisst der Hermes immer schneller!“ Dann sieht er den Boden auf sich zukommen, so schön, grün und blumenreich, aber tödlich; und ein Donnern, das der dreschenden Hand eines jeden olympischen Gottes alle Ehre gemacht hätte, begleitet seinen Sturzflug - in den Tod! Die Seele des Gauners, die er verloren hat, begegnet ihm erneut; sie lacht ihn aus und an, lacht ihn an und aus; sie spricht zu ihm:
„Siehst du, du Drecksack, wer wen in den Hades bringt! Ha, ha, ha!“
Das Donnern hebt weiter an und geht jetzt polternd in ein Klopfen über, das sich nach und nach vom Donner trennt und ihn bald darauf übertönt, bis es alleiniger Herrscher geworden ist …
Dann - ja, dann wachte ich auf!
Schweißgebadet lag ich da in meinem Bett, ein Einzelbett mit massivem Unterbau. Ich drehte mich zur Seite und blickte in ein paar freche Kindergesichter, die ihre grimassierten Fratzen gegen die Scheibe pressten, schließlich dagegen klopften und ihre Sprüche abließen. Schicksal einer Erdgeschosswohnung! Ich hatte vergessen, den Roll-Laden herunterzulassen, und war am Vorabend über ein interessantes Buch eingenickt. Lange durchgeschlafen! Es handelte sich hierbei um Darwins Hauptwerk, eine Niederschrift, welche die Entstehung der Arten beschreibt. Sehr revolutionär! Und als ich sie zu lesen begann, münzte ich vieles auf mich selbst.
Als Detektiv, so denke ich, ist man eine ganz besondere Art, welche die Evolution hervorgebracht hat, eine Spezies, die genauso nebulös ist, wie ein gerade entdecktes Tier oder eine seltene Pflanze, deren Geheimnisse erkundet werden wollen, wobei man nicht einzuschätzen weiß, wohin es einen führt, ob nicht irgendwann einmal - erst mit leichten Abwandlungen versehen, dann mit durchschlagendem Erfolg gekrönt - eine völlig neue Art dem Wunder Natur entspringt. Beim Detektiv erschnüffelt man, so denke ich, das Dasein eines Voyeur, dessen Wesenheit darin liegt, das Gesehene zuerst für sich selbst und dann für andere, eben den Klienten, zu verwerten.
Egoist oder nicht, das ist hier die Frage!
Denn du bist im Grunde keiner mächtigen Moral gegenüber verpflichtet, weil du keiner Staatsgewalt angehörst und somit keinem Bürger Rechenschaft ablegen musst, außer du willst es so haben. Allenfalls ist es empfundenes Mitleid, ein Klecks von Moral, vielleicht der schönste von allen, wenn du damit malen gehst, denke ich. Aufträge, die du bekommst, sortierst du in der Regel nach Höhe der gezahlten Summe und nicht nach dem Anliegen des Klienten. So ist das Leben! Und du bist mittendrin! Ein runder Fünfziger! Und ob du ein falscher Fuffziger bist oder nicht: das sollen die Leute selbst entscheiden!
Jedenfalls, wegen meines angestiegenen Alters erhielt ich pünktlich zum Fünfzigsten von einem Urologen einen per Post zugestellten Brief, in dem drinstand, ich möge doch bitte schön vorbeikommen, um mir in den Hintern schauen zu lassen.
Natürlich bin ich nicht hingegangen!
Und wenn es einmal soweit ist und eine Wucherung breitet sich in meinem Gedärm aus, so werde ich ganz gewiss nur mich selbst dafür verantwortlich machen und reumütig feststellen, dass es besser gewesen wäre: Es werde Licht in meinem Allerwertesten! Das kleinere Übel dagegen war ein Hörtest, den ich machen sollte. Da spielte ich den noblen Ignorant! Das weitaus größere Elend war mein Gewicht von knapp hundertsiebzig Kilogramm. Der Arzt meinte, Alkohol und Rauchen seien tabu. Aber damit nicht genug! Es gab unangenehme Vorgeschichten, wie es dazu kam, dass ich mit dem Zeugs anfing, und angenehme, wieso ich wieder aufhörte. Ich erklärte mich schließlich zu einem trockenen Alkoholiker und Ex-Raucher. Immerhin war damit auch schon ein Gutteil für meine berufliche Bestimmung getan worden, nachdem ich aus körperlichen Gründen wenige Berufsgruppen bedienen konnte. Und das beste Argument für einen Detektiv meines Schlages war, dass ich keinen Meinungsverstärker, sprich keine Knarre nötig hatte; denn unvergesslich bleibt, wie ich einmal einen Ganoven verfolgte, mit dem ich freilich nicht Schritt halten konnte, und ehe ich wusste, wie mir geschah, wurde ich von ihm verfolgt. Da ich, wie bereits erwähnt, keine Waffe mit mir führte, stand ich tausend Ängste aus. Als er mich beinah eingeholt hatte, ließ ich ihn kurzerhand auflaufen, was schon an und für sich eine tolle Wirkung erzielte; danach plumpste ich auf ihn drauf. Es war der klassische Fall von Elefant sitzt auf Maus - und aus! Es sollte für meine künftige Tätigkeit als Detektiv einen stilbildenden Beitrag leisten. Seitdem ist mir klargeworden: Ich bin Verhandlungsführer und Waffe in einem, was mein Selbstbewusstsein enorm anhob!
Die Kinder, die mich frotzelten, waren inzwischen verschwunden; ob aus freien Stücken oder durch Nachhilfeunterricht eines Dritten, das konnte ich nicht sagen.
Am frühen Abend hatte es in Strömen zu regnen begonnen.
Jetzt klopfte es wieder.
Doch diesmal war es keine mit Schokolade verschmierte Kinderhand, die meine Fensterscheibe demütigte, vielmehr übte gebefreudig Mutter Natur Gerechtigkeit, indem sie, sich von ihrer besten Seite zeigend, den Dreck, den die Menschheit unbedacht in die Luft bläst, wieder auf die Erde zurückurinierte, so auch gegen meine Scheibe mithilfe eines kräftigen Windes.
Bei dem Gedanke muss ich lachen, wenn ich mir vorstelle, wie sie das Höschen runterlässt und uns genüsslich als Nachttopf missbraucht.
Dann klopfte es erneut.
Diesmal an meiner Wohnungstür.
Ich hatte mich gerade hinter meinen schlichten Schreibtisch gesetzt und den Darwin aufgeschlagen, als aus dem Klopfen ein Hämmern wurde, das mich nichts Gutes ahnen ließ. Ich fluchte etwas vor mich hin und stampfte zur Tür, legte mir ein paar brauchbare Schimpfwörter parat für den Störenfried und hoffte, ihn derartig auf die Schnelle abzuwimmeln. Als ich die Tür öffnete und schon loslegen wollte, stand Kai vor mir, den ich lange nicht mehr gesehen hatte; ein guter Mann mit guten Sitten; groß wie ich, aber dürr, dass einem angst und bange wurde; und seine Kleider trieften vom Regen. Kai im Ganzen geschildert: Ein armer Tropf, aber feiner Kerl, dessen Leben dort weiterging, wo meines vor Jahren aufgehört hatte - ein Leben auf der Straße!
„Bist du irre, Kai? Was soll das Hämmern?“, sagte ich erzürnt. Und ehe ich gewillt war, ihn anständig zu begrüßen, schob ich wenigstens versöhnend hinterher: „Hast du zumindest die Kinder vertrieben?“
„Hab einem eine Ohrfeige verpasst, als ich hörte, wie sie dich beleidigen“, sagte Kai stolz.
„Das sollst du doch nicht tun! Hörst du! Erstens: weil es falsch ist! Zweitens: weil in den Augen vieler Leute! Drittens: weil dich jemand hätte sehen und anzeigen können! Du weißt doch: Ein vorbestrafter Obdachloser ist doppelt obdachlos!“
„Hast gut reden, Fettberg! Du sitzt hier im Trockenen und feilst dir die Fingernägel schön, während wir beim Schlachter an der Klingel hängen, auf dem nassen Boden hocken und Abfälle erbetteln, beschmiert mit Blut vom ausgelaufenen Vieh. Bei schönem Wetter im Kartonagenhaus und bei Sauwetter unter der Brücke an der Donau: Oh, du seliges Wien!“
„Ich hatte vor, dich und die anderen von der Straße zu holen, aber keiner von euch wollte. Hast dus vergessen, Kai?“
Er senkte seinen Kopf, um ihn nach einer Weile wieder anzuheben; daraufhin blickte er tief in meine Augen und sagte leise:
„Und du hast vergessen, was es bedeutet hätte: Wir alle wären unserer Wege gegangen und hätten niemals mehr voneinander gehört! Wir sind zusammengeblieben, weil wir eine Familie wurden, die sich für ein neues, schönes Leben wieder hätte trennen müssen! Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen, seitdem du gegangen bist? Sind es zwei Jahre her? Wie viele? Sag schon!“
„Drei Jahre, zwei Monate, fünf Tage, sieben Stunden und zwei Minuten!“, sagte ich.
„Falsch! Es sind drei Jahre, zwei Monate, fünf Tage, sieben Stunden, zwei Minuten und dreiundzwanzig Sekunden!“, sagte Kai.
Dann fielen wir uns in die Arme.
Und noch mehr Jahre waren verstrichen, als ich in meinen sogenannten besten Zeiten etwas hermachte, als es ohne Frack und Lackschuhe hieß: Meine verehrten Damen und Herren … hier kommt Hermes, unser aller Hermes … Fettberg! Bitte begrüßen Sie mit mir den bezaubernden Hermes Fettberg! Bewundern Sie mit mir den einzig wahren … Hermes Fettberg!
Talkshows machte ich: neue Formate, hatte witzige Einfälle, originell und bizarr - und das als katholischer Schwuler mit Bekenntnis zur sadomasochistischen Tradition!
Ich war ein gefeierter Star und Großkopfeter dazu!
Bis eines Tages die Medienmoguln behaupteten, mich wolle keiner mehr sehen, worüber ich mich keineswegs wunderte; denn mich erstaunte eher, dass man mich so lange bejaht und ertragen hatte, obwohl ich überaus extravagant aufgetreten war, das versteckte Wunschdenken anderer hervorgekramt, schließlich geschürt und fleißig gefördert hatte. Aber so ist das teils mit denjenigen Menschen, die in prunkvollen Glashäusern der Fantasie residieren - sie sind wie Staubsauger, die dich einsaugen, mit Trommelwirbel bedenken, in ihrer glamourösen Welt auftreten und mitspielen lassen, um dann per Umkehrschub dich wieder auszuspucken, sobald Einschaltquoten Bände über dich sprechen und der letzte plötzlich verkündet: Du bist draußen!
Ich landete erst im Reich des Alkoholismus, danach im Faustrecht der Straße! Also ganz draußen. Absturz! Man nannte mich der Elende. Dort, auf der Straße, wo raue Sitten herrschen, lernte ich Kai und die anderen kennen und schätzen; denn der beste Blindenführer ist der Blinde selbst! Demnach stolperten wir gemeinsam durch die Gegend und halfen einander, ohne sonderliche Rücksicht auf sich selbst zu nehmen: Einer für alle! Alle für einen! Ein tolles soziales Gefüge! Nur dass es auch mit Entbehrungen zu tun hatte, deren mächtiges Amt darin bestand, sich allgegenwärtig damit zu arrangieren; das machte mich mit der Zeit mürbe und letztlich wütend. Und weil Wut ein klasse Motivator sein kann, beschloss ich eines Tages, diesem Leben den Rücken zu kehren; zudem Kai und die anderen kaum Verständnis für meine Entscheidung zeigten.
Es kam zum Bruch mit den Jungs!
Ich besiegte in Rekordzeit den Suff und die Zigaretten. Letztlich mietete ich mich hier ein und saß seitdem als ordentlich zugelassener Detektiv in meinem Büro hinter meinem Schreibtisch.
Wir umarmten uns immer noch.
„Ich muss dir was gestehen, Hermes!“, sagte Kai.
„Alles, was du willst!“, sagte ich.
„Ich bin nicht alleine gekommen.“
Bravo!, dachte ich, und sagte:
„Fein!“
„Die Jungs sind auch bald da … und bringen jemand mit!“, beichtete mir Kai. Ich löste mich aus der Umarmung und wollte wissen, wen sie als Überraschungsgast mitbringen würden. „Sie haben mich vorausgeschickt, um mit dir zu sprechen, Hermes.“
„Um mich zu besänftigen“, korrigierte ich und lachte.
„Sie braucht Hilfe. Deine Hilfe!“
„Sie? Wen meinst du mit sie?“, fragte ich.
„Eine junge Dame.“
„Was ist geschehen?“, bohrte ich nach.
„Wir befanden uns unter einer Brücke. Unsere Schlecht-Wetter-Residenz. Du weißt schon. Ein toller Beaujolais machte gerade die Runde. Da fiel was ins Wasser. Ein Körper! Wir sind erschrocken gewesen und wolltens genau wissen, wer im Wasser schwamm und unterzugehen drohte. Also sammelten wir uns am Ufer und sahen, dass eine Frau im Wasser lag, eine junge Frau, mit weit ausgebreiteten Armen und offensichtlich bereit zu sterben. Du kennst doch Mitschke, weißt, wie er ist, Hermes, Ja?“
„Ja, natürlich! Mitschke, der mal sportlich austrainiert und gut drauf war, ehe seine Lunge einen irreparablen Schaden abbekommen hatte, was er nicht verkraften konnte. Meinst du den?“, fragte ich.
„Ja, genau! Der Mitschke sprang, ohne zu zögern, ins kalte Wasser. Selbstverständlich ist das auch nicht bei dem Sauwetter. Obendrein hat er schon über einen Liter Wein intus gehabt. Als das arme Ding untergehen wollte, bekam er sie gerade noch am Arm zu packen. Zum Glück! Sonst wäre sie hinüber gewesen. Er zerrte sie ans Ufer und bald darauf blubberte sie auch schon wirres Zeugs vor sich her: Ihr Verlobter sei kurz vor der Heirat gestorben. Nach Selbstmord soll es ausgesehen haben. Unmöglich! Einfach unmöglich! Zumindest meinte sie das. Ein Abschiedsbrief, den die Gendarmerie gefunden hat, sei vom Verlobten abgefasst worden. Darin stand, es gehe so nicht weiter; es tue ihm leid und Leb wohl! Die Gendarmerie hats jedenfalls geschluckt und den Fall abgeschlossen. Sie weniger, wie ihre Reaktion zeigte. Und ein weiterer junger Mensch hätte beinah Selbstmord begangen. Ist das nicht tragisch, Hermes?“
Ehe ich mit genau überlegten Worten antworten konnte, verursachte ein Gemisch aus Klopfen und Klingeln einen ohrenbetäubenden Lärm an meiner Wohnungstür. Ich öffnete die doppelt und dreifach mit Schlössern versiegelte Tür, und davor standen vier Mann hoch, die theatralisch anmutend einen Körper in die Höhe stemmten; es erinnerte mich ein wenig an die Bestattung eines Königs, dessen engste Vertraute die Ehre haben, das Privileg, den letzten Gang des Verstorbenen mit ihm gemeinsam gehen zu dürfen. Vorne links erkannte ich Tim, der alte Haudegen und Rudelführer, der die linke Schulter der jungen Frau stützte.
„Servus, Hermes!“, sagte Tim. Er hatte sich einen angesäuselt.
„Schön, dich wieder zu sehen, alter Kerl!“, sagte ich.
Das Eis war gebrochen, als wenn nichts geschehen wäre, wir niemals entzweit gewesen wären! Kein Streit! Kein Abschied!
Ich bemerkte, dass, ausgenommen Tim und Mitschke, mir zwei weitere Gäste unbekannt waren. Dem Alten entging nicht mein fragender Blick.
„Sind zwei Neuzugänge, Hermes.“
„Wie heißen die?“, fragte ich.
„Sie haben noch keinen Namen! Wir werden sehen. Vorläufig nenne ich sie Nummer 1 und Nummer 2“, sagte Tim.
„Was ist mit Paul und Mischa?“, fragte ich.
„Habens nicht geschafft. Die Leber wars und noch einige Wehwehchen dazu. Du weißt ja: Die Summe machts!“
Ich hatte, eher als Blickfang denn zum tieferen Nutzen, einen Flokati ausgelegt, dessen Rosa Geschmacksache war; und jetzt sollte es für ihn zur Aufgabe werden, sich einem Menschen, der vor lauter seelischem Schmerz geplagt und von Todessehnsucht drangsaliert zu mir fand, als eine flauschig weiche Ruhestätte anzubieten. Behutsam legten die vier Männer, die ein Konzert verschiedener alkoholischer Düfte gaben, das zerbrechliche Wesen auf das blasse Rot. Jetzt traten wir alle zurück, bildeten einen Kreis um den Flokati und betrachteten das wehrlose Ding mit gemischten Gefühlen. Plötzlich wand und bog sich das arme Geschöpf und lief dabei ernsthaft Gefahr, sich selbst zu verletzen.
„Sollen wir sie entkleiden? Sie ist ganz durchnässt und wird sich noch den Tod holen!“, sagte Kai.
„Nein! Vielleicht wird sie sich beruhigen. Sie wird sich bestimmt gleich beruhigen!“, schob ich hinterher.
Kaum dass ich zu Ende gesprochen hatte, verharrte die junge Frau nun regungslos auf dem Flokati.
Jetzt erst fiel mir auf, dass ihr Kleid und ihre Schuhe exakt das gleiche Rosa wie mein Flokati besaßen; sie hatte auch rosa gefärbte Haare, deren Frisur eine frappierende Ähnlichkeit mit der Knüpftechnik meines Flokati aufwies; überdies trug sie rosa Strümpfe und rosa Handschuhe und im Gesicht hatte sie leicht rosa Puder aufgetragen und ihre vollen Lippen waren - rosa Lippen! Seltsam! Ich musste genau hinsehen, um sie überhaupt zu erkennen; denn annähernd unsichtbar geworden, schien sie buchstäblich mit dem Flokati verschmolzen, als ob es ihre Bestimmung sei, auf jenem Allerwelts-Fußabtreter zu liegen und durch ihn ihre Erschöpfung loszuwerden, schließlich eins zu sein mit meinem lächerlichen Flokati: behütet von meinen kräftigen, beschwingten Schritten, sobald ich über sie hinwegginge, beschattet von der Schuhgröße dreiundfünfzig; und dann und wann, wie genügsam, würde mein Robosauger sie glatt bügeln!, dachte ich.
„Bist du dir sicher, Fettberg, dass sie noch nie bei dir war?“, fragte Mitschke, dem das nette Farbenspiel ebenfalls nicht entgangen war, und riss mich aus meinen Träumen.
„Bin mir sicher, du zerbrochener Lungenflügel!“, sagte ich etwas zerknautscht.
„Musst aber schon zugeben, Hermes, es ist ein großer, sehr großer Zufall, so auszusehen wie dein Flokati“, sagte Tim.
Ich ließ Tims Zweifel durchgehen; schließlich ist er der große Tim, eine auf der Straße bekannte und allerseits respektierte Persönlichkeit. Um abzulenken, fragte ich ganz allgemein in die Runde:
„Was ist mit denen da? Haben die keine Meinung? Wenn schon Senf dazugeben, dann richtig!“, sagte ich.
„Ach, lassen wir das lieber! Nummer 1 und Nummer 2 sind genauso traumatisiert, wie das arme Ding hier, scheinen aber auf dem Wege der Besserung zu sein. Dennoch sind sie so oder so andersartig beschädigt. Niemand kennt ihren Namen oder weiß, woher sie kommen. Ich glaube, sie haben immer mehr vergessen aus ihrem Leben, zu guter Letzt das Leben der anderen sowie das Leben überhaupt!“, sagte Tim wehmütig.
„Heißt das, sie sind hirnlose Kreaturen, die nicht einmal einen Tritt in den Hintern merken würden?“, fragte ich provozierend.
„Versteh doch, Hermes! Sie sind wahrhaftig frei und für alles zu haben; sie begreifen jedes Wort und jeden Sinn, aber sie sind noch nicht soweit, das Gesammelte ohne Fehl und Tadel anzuwenden. Wie kleine, unschuldige Kinder sind sie, noch im Geiste fragil, jedoch schon mit Muskeln behangen und mit ausgewachsenem Pimmel in der Hose. Sehr begabt! Fürchterlich begabt! Brauchen viel Zeit! Sehr viel Zeit!“
Nummer 1 und Nummer 2 hatten je ein weißes, unbeschriftetes Blatt Papier bei der Hand und wussten damit die schönsten Gebilde zu falten; sie sahen dabei glücklich aus und wirkten auf mich wie Kinder, deren Einfallsreichtum grenzenlos scheint. Alles, was ihnen an Persönlichkeit auf unerklärliche Weise abhandengekommen war, drückte sich in ihrer Kunst des japanischen Papierfaltens aus. Der Versuch, sich über ihre Schaffenskraft zu erkennen, ja selbst zu entdecken, schien auf fruchtbaren Boden gefallen und allmählich mit Erfolg gekrönt zu sein. Und indem sie von abstrakten Formen gekonnt zu gegenständlicher Schönheit wechselten, sprach alles dafür, dass sie sich auf gutem Wege befanden, Menschen im besten Sinne zu werden, was darauf hoffen ließ, eines Tages von Kopf bis Fuß wiederhergestellt zu sein. Doch so sehr ich Tims zuversichtliche Stimmung seinen beiden Schützlingen gegenüber respektierte, beargwöhnte ich trotz alledem zutiefst Nummer 1 und Nummer 2 und konnte mir nicht erklären, weshalb mich mein Misstrauen ihnen gegenüber so sehr plagte. Vielleicht lag es daran, dass ihre dubiose, zudem auf mich bizarr wirkende Art Geschmacksache war und ich nicht zuzulassen beabsichtigte, mehr in ihnen sehen zu wollen, wie eines schönen Tages dabei herauskommen sollte. Übrigens! Nummer 1 und Nummer 2 verwandten durchweg strahlend weißes Papier; und ich erkannte darin einen Zustand der Unvollkommenheit, der mich annehmen ließ, ihr farbloses Stück Papier müsse einer Handlung ohne Gefühl entsprechen: zwar ideenreich gestaltet, gleichwohl torsohaft in die Welt entlassen!
Nun ließen Nummer 1 und Nummer 2 ihr Origami ruhen und warfen völlig unerwartet, ohne mit ihrem nervigen Gegrinse aufzuhören, zwei Fotos auf den Flokati. Die etwas am Rand vom Wasser angegriffenen Digitalfotos zeigten einen Toten, einen attraktiven, jungen Mann, und zwar in eindeutiger BDSM-Pose: Lederhalsband und Fesseln an den Handgelenken! Er blickte mit weit aufgerissenen Augen auf irgendjemanden oder irgendetwas. Das zweite Foto zeigte ihn mit geschlossenen Augen und tot, so nahm ich an.
„Ist das alles, was ihr habt?“, fragte ich. „Zwei Fotos und das wars?“
„Natürlich nicht! Wir kennen seinen Namen; wir wissen, wo er wohnt; wissen, was er beruflich so gemacht hat; und selbstverständlich wissen wir dasselbe über sie, die Arme. Sie heißt Marie Semmler und er Vincenz Steger“, sagte Tim.
„Todesursache?“, fragte ich.
„Laut der Gendarmerie: Herzversagen!“, sagte Tim.
Schon merkwürdig!, dachte ich. Da stirbt jemand an Herzversagen, befindet sich zudem in einer delikaten Lage, und dann wird auf Selbstmord entschieden! Bloß wegen eines dummen Abschiedsbriefes? Es sind schon genügend Leute daran gestorben, weil sie es schlicht damit übertrieben haben. Meistens sind es die beliebten Würgespiele, wonach häufig ein unstillbares Verlangen verspürt wird, freilich mit dem Risiko verbunden, dass es einen fließenden Übergang zur Erdrosselung gibt. Doch bei Vincenz fehlte das typische Würgemal! Aber Herzversagen aus heiterem Himmel?
Und ich dachte: du musst richtig aufpassen, dass es dich nicht auch noch erwischt. Immerhin wiegst du eine Tonne und gehst der gleichen Leidenschaft nach. Ein süßer Bengel übrigens! Hätte was werden können mit uns!
„Das alles hat Marie euch mitgeteilt?“, fragte ich Tim.
„Ja, und noch mehr, Hermes!“
„Und wieso sollte sie daran gezweifelt haben, dass es Selbstmord gewesen ist?“, fragte ich ungeduldig.
„Weil nichts dafür sprach, außer dieser blöde ausgedruckte Abschiedsbrief, den der Computer selbst hätte schreiben können“, sagte Tim.
„Moment mal! Du willst doch nicht sagen, es gibt keinen handschriftlich verfassten Brief?“, sagte ich verwundert.
„Nein! Die Gendarmerie fand den Wisch neben dem Bildschirm eines PC, der noch angeschaltet war, und zwar mit derart großen Lettern verfasst, sodass ein Blinder sich darüber beschwert hätte.“
„Und das hat gereicht?“, fragte ich.
„Zumindest der Gendarmerie!“, sagte Tim.
„Hat Marie von seinen Neigungen gewusst?“, fragte ich.
„Natürlich nicht!“
„Da hast dus: Der Fall, der keiner ist, ist gelöst!“, sagte ich.
„Wie kommst du darauf, Hermes?“
„Komm schon, Tim! Er konnte seine sexuellen Vorlieben weder mit ihr teilen noch konnte er sie länger vor ihr verheimlichen. Ich bitte dich, Tim, zähle eins und eins zusammen.“
„Du meinst, es war Selbstmord aus Verzweiflung?“
„Was sonst?“, sagte ich.
„Und was bitte schön ist das?“
Tim hob vom Flokati die zwei Bilder auf und zeigte sie mir. Auf dem einen sah man wie gehabt den jungen Mann, wie er mit offenen Augen wahrscheinlich auf den Bildschirm starrte, womöglich auf sein eigenes gespiegeltes Antlitz; das andere Bild zeigte ihn nach wie vor als Toten.
„Was soll schon drauf sein?“, fragte ich Tim. „Auf dem ersten Foto sehe ich einen Lebenden und auf dem zweiten einen Toten.“
„Sieh genau hin, Hermes! Sie unterscheiden sich durch etwas ganz Bestimmtes“, sagte Tim.
Mitschke und Kai nickten. Sie wussten Bescheid.
Die Bilder, so berichtete mir Tim, seien im zeitlichen Abstand von weniger als einer halben Sekunde aufgenommen worden, laut einer Nummernfolge auf der Rückseite der Fotos, die auf die Aufnahmezeiten hinweist. Es war also der kurze Zeitraum zwischen Leben und Tod, den die beiden Bilder darstellten. Offene Augen! Geschlossene Augen! Offen! Geschlossen! Ich kam mir vor, wie auf Fehlersuche bei den Suchbildern, die in diversen Magazinen zum Zeitvertreib angeboten werden. Ich setzte mir meine Discounter-Lesebrille auf, um besser sehen zu können. Und tatsächlich! Ein kleiner, fast gar nicht sichtbarer dunkler Fleck an einer bestimmten Stelle im Bild, kaum größer als ein Pixel, machte den Unterschied aus zwischen Bild Offene Augen und Bild Geschlossene Augen. Das Bild Offene Augen war es, wo der eine zusätzliche Pixel erschien. Es war eine moderne Skulptur, ein hölzerner, schlank in die Höhe gemeißelter Nackedei, der neben dem Toten stand, worauf das aus dem Bildschirm stammende Licht traf, das schließlich an der Zimmerwand zum Schattenriss wurde. Dort hielt sich hartnäckig der kleine, dunkle Fleck.
„Na und? Das hat nichts zu bedeuten. Druckfehler oder was auch immer“, sagte ich.
„Warte, Hermes!“, sagte Tim. Er gab Nummer 1 und Nummer 2 ein Zeichen. Sie gingen nach draußen und schleppten zu zweit einen großen, schweren Metallkoffer herein und grinsten nebenbei mächtig. Ich mochte sie nicht; sie schienen mir zu sehr geklont, aber Tim hielt große Stücke auf sie. Nummer 1 und Nummer 2 stellten den Koffer direkt vor meinen Schreibtisch hin, hievten eine sonderbare Apparatur aus dem Koffer und stellten sie auf den Schreibtisch.
„Vorsicht, Press-Span! Nur bedingt stabil!“, sagte ich.
Tim fummelte an einem Kabel herum und steckte es in eine Steckdose; dann legte er das Bild mit dem winzig dunklen Fleck auf eine spezielle Vorrichtung, senkte ein längliches Rohr herab und justierte es so dicht wie möglich über das Foto. Jetzt betätigte er einen Schalter, woraufhin ein leises Summen erklang; nun verteilte sich um die Apparatur ein Licht, das in jede Ritze einzudringen schien.
„Ich präsentiere: Das stärkste Mikroskop aller Zeiten!“, sagte Tim stolz.
„Und was kann das Ding? Meine Hämorrhoiden zerkleinern?“, fragte ich erwartungsvoll.
„Es macht die Wahrheit sichtbar!“, sagte Tim.
Er drehte an diversen Reglern herum und drückte auf unzählige Knöpfe. Dann blickte er zur Kontrolle hindurch. Schließlich wandte er sich mir zufrieden zu.
Tim war Physiker, ehe ihn die Straße holte; sein Aufgabengebiet war weit gefasst. Er beschäftigte sich, ganz allgemein betrachtet, mit der Elementarteilchenphysik, deren Aufgabe es ist, die Materie an und für sich besser zu verstehen. Aber insgeheim träumt natürlich jeder Physiker davon, ein noch kleineres Teilchen zu entdecken; und zwar nicht nur auf mathematischem Wege, sondern um es sichtbar werden zu lassen. Und wenn es dafür nicht reicht, da die technischen Möglichkeiten nun einmal an ihre Grenzen stoßen, dann begnügt man sich mit sensationellen mathematischen Gleichungen, deren exakte Beweisführung noch aussteht.
„Sie nur durch, Hermes! Lass dich fortführen auf eine Reise in den Mikrokosmos!“, sagte Tim begeistert.
Ich trat an die Apparatur heran, die ein Binokular besaß, und blickte hindurch. Es war fantastisch! Ich sah einzelne Atome, dann nur ein einziges. Tim vergrößerte stärker. Ich näherte mich dem Atomkern, und die Fahrt ging flott weiter. Vorbei an Neutronen, Elektronen und Protonen gelangte mein wenig geschultes Auge in ungeahnte Tiefen; es war, als ob ich in einem Unterseeboot tief im Ozean tauchen würde, fern der mir geläufigen Welt, und bizarren Landschaften sowie auf mich lauernden unheimlichen Wesen ausgeliefert wäre, deren Absichten, ob mir wohl gesonnen oder nicht, mir unbekannt blieben.
„Bist du schon da?“, fragte mich Tim.
„Wo soll ich denn sein?“, fragte ich.
„Na, bei dem Quark!“, sagte Tim ungeduldig.
„Was für ein Quark meinst du denn: den aus Kuh- oder Ziegenmilch?“, sagte ich lachend, um meine Unwissenheit zu überspielen.
„Um des Himmels willen, Hermes!“, sagte Tim verärgert. „Ich kann sichtbar machen, was bislang als unmöglich galt. Verstehst du das denn nicht?“
„Jetzt! Ich glaube, da ist es“, sagte ich.
„Was du da siehst, Hermes, ist ein Trilliardstel Millimeter groß, eine Zahl mit einundzwanzig Stellen hinter dem Komma!“
Tim vergrößerte das offenbar frei schwebende und nicht an weitere Quarks gebundene kleine Ding, bis der Winzling zu einem Berg anwuchs, an dessen Flanke Tim mit dem Mikroskop entlangfuhr.
„Gleich ist es da!“, sagte Tim.
„Was soll noch kommen, Tim? Das Nichts?“, sagte ich energisch.
„Du wirst staunen, Hermes! Staunen!“
Erst sah ich nur einen Punkt, der sich nicht weit weg vom Bergmassiv unseres Quarks befand. Als Tim noch mehr vergrößerte und mir sagte, er sei bald ans Ende gekommen, was das Mikroskop zu leisten imstande wäre, zuckte ich erschrocken zurück; denn etwas im unendlich kleinen Raum gewann zusehends an Kontur; und ein Blau, ein himmelblau, das schöner und herrlicher nicht sein konnte, begegnete meinen Augen.
„Das kann nicht sein, Tim. Du willst mich wohl veräppeln!“
„Nein! Glaube mir, Hermes! Es ist wahr! Das Unmögliche ist wahr geworden!“
Da stand es nun: Ein Männchen oder ein Weibchen oder ein Etwas! Gesichtslos, blau und schlicht und stumm und bewegungslos! Es ähnelte nicht nur stark einem Piktogramm, vielmehr war es ein Piktogramm! Aber wie kam es dorthin? Und in dieser Winzigkeit?!
Dann wurde Tim ernst und sagte:
„Dieses Ding dürfte es eigentlich gar nicht geben, Hermes. Und noch weniger dürfte es existieren, wenn wir in Betracht ziehen, dass es mindestens ein Quadrillionstel Millimeter groß oder klein ist; bestimmt aber ist es noch kleiner. Also! … es ist wesentlich kleiner als das uns bekannte kleinste Teilchen und tausend Mal kleiner als unser Freund Quark hier.“
Kai und Mitschke hatten unterdessen Marie trocken geföhnt und verweilten bei ihr, der Armen, die in einem apathischen Zustand verblieb. Ich blickte verstohlen zu ihr hin, und ich wusste, wir würden von ihr nichts in Erfahrung bringen. Sie schien ein Fall für die Pflege zu sein, deren Erfolg davon abhinge, ob sie dauerhaft in psychiatrischer Obhut verbringen musste oder ob sie darauf hoffen durfte, wieder zu genesen, um ein normales Leben zu führen.
„Sollen wir nicht der Gendarmerie unsere Entdeckung mitteilen?“, bedrängte ich Tim.
„Bist du verrückt, Hermes?“, konterte Tim verärgert.
Nummer 1 und Nummer 2 grinsten mich an.
Dafür hasste ich sie noch mehr.
„Die Gendarmerie hat den Fall abgeschlossen. Und das ist auch gut so!“, mischte sich Mitschke ein. Kai nickte.
„Warum?“, fragte ich.
„Es hätte keinen Sinn, Hermes!“, sagte Tim traurig. „Sie glaubt nur an das Wahrscheinliche und an die Kriminaltechnische Untersuchung. Aber wir, Hermes, wir glauben an das Unmögliche. Ist es nicht so, mein Junge?“
Ich musste Tim verdammt noch mal beipflichten, was die Gendarmerie betraf. Nicht dass es schlechte Kerle waren, die nur für den Hof kehren taugten; aber einen Fall, der abgeschlossen wurde, denselben Leuten wieder in die Hand legen, ist schlicht Dummheit. Freilich merkte ich, wie Tim versuchte, mich an den Fall heranzuführen; und ich spürte, dass es an mir sein würde, die Ermittlungen aufzunehmen. Es dauerte keine Minute, als mich Tim fragte:
„Du übernimmst doch den Fall, Hermes? Oder?“
„Ja!“, sagte ich. Im Grunde wollte ich noch mehr loswerden. Aber ich wusste, was er mir geantwortet hätte: dass er nur ein gefallener Physiker sei, von einem missgünstigen Kollegen reingelegt und der gröbsten Unwissenschaftlichkeit, ja des Betrugs bezichtigt worden sei. Ich wollte ihm die Peinlichkeit ersparen, darauf sprechen zu kommen, warum er nicht selbst den Fall übernehmen möchte; denn einige Vorteile, die er im Vergleich zu mir besaß, hätten ihn dafür prädestiniert. Er und die Jungs waren die Straße, das Leben auf Platte, gewöhnt. Draußen sieht man mehr, verfolgt man allerlei Bewegungen, die in die Breite und in die Tiefe gehen; sie sind nicht eingeengt; dafür kann es leicht unüberschaubar werden, sobald man sich von der Unzahl der möglichen Verzweigungen in die Irre führen lässt; und wer nicht, der darf sich getrost als Sieger der Straße betrachten. Was ich dagegen sehe, ist relativ einfach: meinen belanglosen rosa Flokati; verstaubte Weinflaschen, die ein Mahnmal meiner Vergangenheit sind, und ein paar abgeschlossene Fälle für den Mülleimer.
Zumeist handelten sie von Männern, die Hörner von ihren Frauen aufgesetzt bekommen haben, und von Kleinganoven mit ekelhaften Visagen. Alles in allem bin ich ein Detektiv, der nicht unbedingt die rosigsten Voraussetzungen besitzt, um glorios gefeiert zu werden. Na ja, ganz so schlecht will ich mich nicht reden! Denn mit meinem einzigartigen Gewicht können nur wenige Mitmenschen aufwarten, und wenn, dann sind es welche, die sich den Hintern sinnlos platt sitzen und den Wanst kraulen, während ich als Trophäe wenigstens platt gedrückte Ganoven ins Herbarium lege -, nebst den giftigsten Pflanzenteilen!
„Was meinst du zu alldem?“, fragte mich Tim.
„Ich weiß nicht! Ich weiß es wirklich nicht!“, sagte ich ratlos. Und um erneut abzulenken, fragte ich: „Wie seid ihr Jungs eigentlich auf mich gekommen?“
„Das war einfach, Dickerchen! Wir wussten ja das mit dir und der BDSM-Geschichte, und der Typ hatte ja dieselbe Neigung“, sagte Tim.
„So! Ist das so? Und weiter?“, sagte ich abwartend.
„Na, du bist Detektiv und wir sind ein Haufen Obdachloser!“
„Und die junge Dame, die wie mein Flokati aussieht, das hat nichts mit der Sache zu tun?“, fragte ich.
„Wer kann das schon sagen? Außerordentliche Zufälle sind so selten, dass sie wiederum keine Zufälle sind, eher Bestimmung, die man zu erfüllen hat“, sagte Tim bedeutungsvoll.
„Und wie läuft das mit der Bezahlung?“
„Sie hat, als sie ins Wasser gesprungen ist, viel Geld bei sich gehabt, sehr viel Geld!“, sagte Tim.
„Und woher?“, fragte ich.
„Von Vincenz!“, sagte Tim. „Sie machte uns klar, ehe sie in jenen traurigen Zustand verfiel, ihr sei sehr daran gelegen, wenn jemand käme und dafür sorgt - freilich gegen ein stattliches Honorar - dass der Tod ihres Verlobten nicht umsonst gewesen sei.“
„Ja, dann wäre das mit meinem Flokati wohl geklärt“, sagte ich. „Woher sie mich kennt und wann sie mich ausspioniert hat, ist mir völlig schnuppe. Aber schade ums Geld, das mit der Gendarmerie durchgebrannt wäre, hättet nicht ihr, sondern die Damen und Herren vom Polizeiwesen sie aus dem Wasser gezogen. Wie viel ist es denn?“
„Ich weiß nicht genau!“, sagte Tim, während Nummer 1 und Nummer 2 begannen, die Apparatur wieder in die Kiste zu legen. „Es ist ein ziemliches Bündel!“
„Egal!“, sagte ich.
Tim übergab mir als Vorschuss ein paar Scheinchen.
Mitschke und Kai waren die ganze Zeit über still gewesen und sagten kein Ton; nur das Gegrinse von Nummer 1 und Nummer 2 beunruhigte mich zunehmend und führte mir endgültig vor Augen, wie unglaublich aktiv meine Abneigung ihnen gegenüber war. Was solls! Die Jungs bereiteten sich jetzt auf ihren Abschied vor. Als Nummer 1 und Nummer 2 schon mit der Kiste verschwunden waren, kamen Kai und Mitschke mit der in etliche Handtücher und Kleidungsstücke eingehüllten Marie an mir vorbei, deren Zustand sich verschlechtert hatte; denn ihre Augen waren leer und müde, was darauf hindeutete, dass es um ihre geistigen Fähigkeiten nicht gut bestellt war. Zuletzt stand Tim im Türrahmen und sagte nur:
„Wir bleiben in Kontakt!“
„Ja danke!“, sagte ich. „Hey, Tim!“, rief ich ihm zu.
„Ja?“
„Was ist mit diesem dunklen Fleck?“
„Weiß nicht! Vielleicht ein Energiefeld. Vielleicht gar nichts. Finde es heraus!“
„Aber du bist doch der Physiker von uns beiden! Und wer hat die Bilder gemacht?“
„Finde es heraus! Es ist jetzt dein Fall, Hermes.“
„Und woher habt ihr das Monstermikroskop?“
„Geklaut! Von meinem ehemaligen Kollegen, der mich gelinkt hat“, sagte Tim.
Dann war ich wieder alleine.
Ich sah aus dem Fenster.
Es regnete nicht länger.
Und es dämmerte längst nicht mehr bloß in die Nacht hinein.
Ich ging in die Küche, und mich beschlich ein mulmiges Gefühl wegen des winzigen, blauen Piktogramms, das sich tatsächlich in jenem Bild befand.
Lass es ruhig angehen, dachte ich. Dass du die Spaghetti, die sich nun im definierten Aggregatzustand al dente im Teller schlängeln, nicht mit Löffel und Gabel, sondern mit zwei grobschlächtigen Kochlöffeln aus Holz in dich hineinschaufeln willst, ist ein gutes Zeichen, ein Zeichen deines guten Willens und der Hoffnung, sofern nicht alles davon schon verloren gegangen ist.
Die dampfenden Spaghetti im Teller und die zwei Bilder vor mir auf dem Tisch liegend, machte ich mir Mut; und ich war zuversichtlich, dass der Fall binnen kurzem aufgeklärt sein würde. Ich wusste, wo Vincenz wohnte; und ich würde anderntags, in aller Herrgottsfrühe, seine Wohnung aufsuchen, um dort herumzuschnüffeln. Und dann: Wer hat die Bilder geschossen? Doch zuvor werde ich noch Leni einen Besuch abstatten, dachte ich, dem willigsten BDSM-Girl Wiens. Kostet mich zwar eine Stange Geld, aber was Leni dafür abliefert, ist allererste Sahne. Allerdings ganz zuerst beginne ich - wie bereichernd für meine geistige Regsamkeit - mit Fettbergs offenem Gleichnis, das auch gebetet werden kann, wer will:
Es gibt keine Wahrheit hinter der Wahrheit, sondern nur eine einzige. Die Wahrheit ist gleichsam der Lichtkegel deines Autos, das in der Dunkelheit durch den Wald fährt. Und plötzlich springt dir ein Hase, der von einem Fuchs gejagt wird, direkt vors Auto. Der Fall ist klar, denkst du. Und du denkst, dass ein Fuchs einen Hasen jagt und nun beide von dir überfahren werden. Du kannst nicht mehr anhalten und überfährst sie tatsächlich; du steigst aus dem Auto, schaust dir den Schlamassel an und erkennst: Hier ist nichts mehr zu machen!
Du steigst wieder ein und fährst weiter, bist sehend gemacht worden durch deinen Lichtkegel; und hinter dir, in der Dunkelheit, liegen Hase und Fuchs tot auf der Straße. Was du aber nicht siehst, ist der Wolf, der den Fuchs und den Hase gejagt hat, als du glaubtest, der Fuchs würde den Hase jagen, die aber beide vor dem Wolf geflohen sind. Und der Wolf ist derartig schlau gewesen, als er den Fuchs und den Hase ins Unglück rennen ließ, während er selbst im Wald stehen blieb, fern von deinem Lichtkegel, sodass du nichts über seine Existenz wissen konntest.
Erster Teil der Wahrheit!
Zweiter Teil der Wahrheit!
Der Wolf freut sich, so elegant an seine Beute gekommen zu sein!
Ende der vorübergehenden Wahrheit!
Während ich mir die heißen Spaghetti in den Mund schiebe und hier und da Verbrennungen leichten Grades in meiner Mundhöhle registriere, stiere ich auf das Bild, in dem das blaue Männchen steckt.
Weißt du, dass du blau bist, das ist prima, echt super!, dachte ich; denn wärst du rosa, hätte ich dich schon längst auf meinen Flokati gepustet. Dort hätten dich nicht einmal meine Schuhsohlen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag bemerkt und alles wäre gut geworden. Aber nein! Du musstest ja unbedingt blau wählen! Jetzt kannst du zeigen, was du drauf hast, und musst Farbe bekennen. Ich nenne dich schlicht Henry! Henry, nach Henry Ford, dem Erfinder des Fließbandes im Automobilbau. Denn ich glaube, du wirst mir noch eine Menge Sorgen am laufenden Band bereiten. Schlaf gut, kleiner Henry! Solange du noch kannst, bis ich komme und dich holen werde. Machs Licht aus! Wirf bitte noch vorher brav deine Socken in den Wäschekorb und: Gute Nacht!