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Leni lebte in einer echt vornehmen Wiener Gegend; zumindest machte das Haus, in dem sie wohnte, ziemlich was her. Jugendstil! Wenn man davorstand, hatte man den Eindruck, eine versteinerte Pflanze kolossalen Ausmaßes zu bewundern, deren florale Ornamente geradezu einluden, einen Blumenstrauß zu binden - für Riesen! Ich klingelte und hörte kurz darauf Lenis Stimme, die mich einzutreten bat. Ich wuchtete meinen massigen Körper durch die Eingangstür, die eine einzige Blume zu sein schien, und betrat das Treppenhaus. Dort sah es nicht anders aus: alles Blume und Dekoration aus Stein!

Nirgendwo war ein Fenster zu sehen; denn alles wollte der Architekt aus Stein gemeißelt haben. Doch von unbestimmter Stelle her, als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, verteilte sich ein schwaches Licht im Treppenhaus; und ich hoffte auf einen barmherzigen Menschen, der beim Hochziehen des Hauses wenigstens ein Fensterchen eingebaut hätte. Dann, von irgendwoher, pfiff und zwitscherte es aufdringlich. Ich nahm ein paar Stufen, fast bis zur Tür der Wohnung im ersten Stock, und lugte um die Ecke. Da hing, nahe der Treppenhauslampe, ein Vogelkäfig, in dem zwei Wellensittiche, ein blauer und ein grüner, auf einem Stöckchen saßen und sich dem Licht, das ich kurz nach dem Betreten des Hauses angeschaltet hatte, zuwandten; sie gierten geradezu nach Helligkeit und Freiheit, streckten ihre Glieder und fächerten ihre Flügel - bereit zum Abflug! Doch als das Licht wieder erloschen war und sie im Halbdunkel verblieben, sah ich, dank des schwach Licht bringenden Fensterchens, das tatsächlich eingebaut worden war, wie sie apathisch auf dem Stöckchen hockten, dem abgeschalteten Licht nachweinten und miteinander zu kuscheln begannen, so als wollten sie zeigen, dass sie nicht die Hoffnung verloren hatten, weiß Gott noch einmal ihrem grausamen Gefängnis zu entkommen. Ich trat an den Käfig heran; und es kamen mir spontan die Verse eines von mir vergessenen Dichters in den Sinn, die ich den Vögeln aufsagte, leise und nur für die beiden Wellensittiche zu vernehmen:

Hokuspokus

Das Beispiel sichtbar klammern,

unentwegt.

Mein folgenschweres Liegetuch

schweiß-

eingeweicht Verluste

in den Zauberstab

verlegt.

In ihm verschläft ein Umstand

dann,

zerknüllt,

vom

Bann

erfüllt,

Abrakadabras Lunte.

Und weil meine Spontanität jetzt alle Grenzen zu überwinden schien, nannte ich die gefiederten Sänger mir nichts, dir nichts Rucki und Zucki. Daraufhin versprach ich hoch und heilig, ruck, zuck dafür zu sorgen, dass ihnen auf feierliche Weise die Freiheit geschenkt werde. Ich hatte vor, Tim und die Jungs mit der Befreiungsaktion zu beauftragen. Beim Runtergehen, um Leni nicht länger warten zu lassen, dachte ich, dass es die hier anwesenden Wellensittiche schlimm getroffen hatte, schlimmer als den verschlafenen Zauber in dem Gedicht: Denn wer von der Natur Flügel erhalten hat, hat sie für die ganz große Freiheit geschenkt bekommen, jedoch nicht für die größte aller Unfreiheiten!

Leni residierte wie ich im Erdgeschoss. Sie hatte aber auch einen Keller, wo die harten Sachen auf Wunsch geboten wurden. Mir reichte meistens die sanfte Variante unserer Spielchen, die ausschließlich in ihrer Wohnung stattfanden. Was soll ich sagen: Der Preis stimmte! Ich mochte sie! Sie mochte mich!

„Komm rein, Hermes!“, sagte sie. „Schon eine Weile nicht mehr gesehen. Ist dir das Geld ausgegangen?“, witzelte sie.

Als ein leicht bekleidetes, wohlgeformtes Persönchen trat sie mir gegenüber auf, hatte standardmäßig ein Lederhalsband um den Hals und konnte aufrichtig lächeln. Ich kannte aber nicht ihr wirkliches Haar; denn sie arbeitete gerne mit diversen Perücken.

„Servus, Leni! Eine fesche Frau bist du!“, sagte ich und übergab ihr das Geld.

„Ich weiß, mein Bärchen“, sagte sie mit sanfter Stimme.

Ich ging ins Bad und machte mich frisch. Als ich zu ihr ans Bett trat, so wie Gott mich schuf, lag sie schon im Bett - unter der Decke!

Ich spielte den Ahnungslosen und sagte:

„Ist heute der Laden geschlossen?“

„Natürlich nicht!“, sagte sie. „Aber wir sollten bitte vorab klären, was du vorhast, mein Dickerchen. Sonst machts doch keinen Spaß. Nicht wahr?“

Es stimmte, dass wir immer zuerst besprachen, was geschehen sollte. So gehandhabte sie es mit jedem Kunden. Sie mochte keine Überraschungen, welche die entfesselten sexuellen Gelüste ihrer Kundschaft begünstigen konnten, solange keine Regeln festgelegt und eingehalten würden. Ich überlegte mir eine ihr bereits bekannte Variante, worin Schmerz, Süße, aber auch eine gehörige Portion Fantasie und ebenso ein wenig Tragik enthalten wäre. Ich liebte jene Variante! Und da es sich bei Leni um eine Frau handelte und nicht um einen Mann oder um etwas dazwischen, lag es nahe, eine Kombination aus Psyche und Physis, die in historischem Gewand daherkäme, in Erwägung zu ziehen, wobei nur eine einzige Form jener delikaten Angelegenheit zu wählen mir einfiel: Die Hystéra, auf Deutsch Gebärmutter! Als eine angeblich zutiefst hinterhältig daherkommende psychische Störung erkannt - in persona abgebildet von meiner wunderbaren Leni als Furcht einflößende und mir sanfte Schmerzen zufügende Hysterikerin - geisterten jene Frauenschicksale in der Historie lange hilflos umher.

Historisch deshalb interessant, da in der antiken Welt angenommen wurde, dass die wirr gewordene Gebärmutter ihre Finger im Spiel haben musste und dafür verantwortlich zeichnete. Denn ist sie einmal in Rage gekommen, weil sie vom Mann nicht regelmäßig mit Samen versorgt worden ist, verhält sie sich wie eine Biene, deren beschädigte Flügel sie drohen flugunfähig zu machen; und den unausweichlichen Absturz vor Augen habend, begibt sie sich, bereits schwer geschunden, auf die Suche nach Nektar, ehe sie verenden würde. Währenddessen durchfliegt sie sogar das Herz und provoziert dadurch einen ersten Aufschrei. Doch schon gelangt sie ans Ende ihrer Reise - dem Gehirn! Und als ihr klar wird, dass ihre Suche umsonst gewesen ist, rammt sie voller Wut ihren Stachel in dasjenige Organ, das eine frappierende Ähnlichkeit mit den Windungen einer geknackten Walnuss besitzt. Et voilá: Die Hysterie! Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein hatten die Ärzte als Behandlungsmethode manuelle Massagen des Genitalbereichs der Frau verschrieben oder auf mechanischem Wege den Vibrator eingesetzt.

Erst Sigmund Freud erlöste die Frau von jener Jahrtausende alten Vorstellung von der Hysterie und erklärte schließlich, dass auch der Mann von ihr betroffen sein konnte.

Na, da geht doch die Kinnlade nicht mehr zu!, dachte ich. Erst ein Doktor musste kommen, mit Löchern und Stäben hantierend im luftigen Raum der Seele, um zu erklären, dass auch beim Mann der Samenstrang wie bei einem wild gewordenen Gaul durchgehen konnte - das ist ziemlich traurig! Aber fein hingedreht haben es diejenigen Ferkel unter den Ärzten, die es bestimmt auch gab, als sie erkannten, wie man ganz legal einer Frau an die Muschi gehen kann. Freilich ein Risiko, wenn da ein hässliches Ding oder eine alte Schrulle hockt und auf des Doktors Fingerkünste wartet. Glücklich, wer einen Volltreffer landete und eine blühende Schönheit in die Hände bekam!

Ich offerierte Leni meine Fantasien.

Sie war einverstanden.

Ich legte mich neben ihr ins Bett und schob die Bettdecke beiseite. Auf dem Rücken liegend, sahen wir in einen Spiegel, der an die Zimmerdecke montiert worden war.

So lagen wir eine Weile.

„Weshalb sind wir eigentlich nicht miteinander verheiratet, Leni?“

„Weil ich schon verheiratet bin und du schwul bist!“, sagte sie.

„Und es macht deinem Mann nichts aus, wenn du mit anderen Männern oder Frauen herumvögelst?“

„Nein!“, sagte sie.

„Warum?“, fragte ich.

„Weil er mich liebt!“

Jetzt war für mich ein unangenehmer Moment gekommen! Denn etwas, wonach ich mich sehnte, bedrängte mich stark und wurde stärker und stärker. Warum? Ich verspürte plötzlich das Bedürfnis nach einer Zigarette und einem Trollinger. Weshalb? Ich kämpfte aber tapfer dagegen an und wurde unverhofft darin unterstützt, als Leni mich davon ablenkte, indem sie sagte:

„Was führt einen wie dich zu mir, Hermes?“

„Wie meinst du das?“

„Ich meine, wie kommt ein schwuler BDSM-ler ins Bett einer Frau?“

„Vielleicht liebe ich dich“, sagte ich.

„Red kein Stuss!“

„Die Hysterikerin spielt nun einmal eine Frau besser als ein Mann!“, sagte ich. „Zur Hälfte stimmt das ja auch! Andererseits bin ich wegen eines Falles zu dir gekommen. Ich brauche deinen Rat, Leni.“

„Aber zuerst kriegst du, wofür du bezahlt hast!“, sagte sie.

Und das war reichlich, kann ich sagen. Sie spielte die Hysterikerin derart überzeugend, sodass ich beinah bedauerte, weshalb sie bis jetzt noch kein Angebot aus Hollywood bekommen hatte. Nur weil sie eine Hure war - daran konnte es nicht liegen! Sie war eine von vielen Begabten, die unentdeckt sterben würde. Jedenfalls, zum Abschluss unserer Sitzung rammte sie mir, nicht ohne mir einen dezenten Schmerz damit zu verschaffen, ihren schlanken rechten Fuß in den Mund, der nach Lavendel duftete, und ihre Zehen versuchten, sich Raum in meiner Mundhöhle zu verschaffen. Danach lagen wir entspannt nebeneinander im Bett.

„Welchen Fall meinst du, Hermes?“

„Es geht um eine junge Frau, die plemplem geworden ist“, sagte ich. “Wegen ihres Verlobten, der tot aufgefunden wurde. Und jetzt, bitte lach nicht! Es geht auch um ein Männchen, um ein blaues Männchen, dass …„

„Um was geht es?“, unterbrach mich Leni.

„Es geht um ein blaues Männchen namens Henry.“

„Gehts dir nicht gut, Hermes? War es heute zu viel für dich?“

„Nein, nein! Mir geht es blendend! Ich hab ihn sogar dabei.“

„Du hast einen Mann mitgebracht? Du willst mir doch nicht weismachen, dass ein Schwuler einen mit blauer Farbe angestrichenen Liliputaner zu mir führt, dann mit mir vögelt, während der kleine Saukerl uns dabei zusieht?“

„Nein, Leni! Ich hab ihn so genannt, damit er wenigstens einen Namen hat“, beruhigte ich sie.

„Los! Zeig ihn mir!“

Ich rappelte mich aus dem Bett, das bedenklich nachschwang, sodass Leni beinah herausgefallen wäre, und ging zu meinen Klamotten, die ich über die Lehne eines Stuhls geworfen hatte, der verdammt stark nach Massenware roch, und griff in die Innentasche meines schäbigen Ledermantels, wo ich meine Börse verbarg, in der ich die zwei Bilder abgelegt hatte. Ich nahm die beiden Fotografien und zeigte sie Leni, die verdutzt dreinblickte.

„Hermes, mein Schnuckelchen, ich sehe rein gar nichts! Außer einen attraktiven Mann mit offenen und geschlossenen Augen. Ach ja! Und das Halsband! Fein verarbeitet. Ist es ein Kollege von mir? Vielleicht können wir mal zusammenarbeiten. Das wäre schön! … Aha, jetzt verstehe ich. Das also ist Henry! Da hat er sich aber brav die blaue Farbe abgewaschen. Ich könnte eigentlich auch mit Farbe arbeiten. Meinst du nicht, Hermes? Aber wie ein Liliputaner sieht der nicht aus.“

„Leni, der Kerl da ist tot und es ist nicht Henry!“

„Schade! Na, dann nicht!“, sagte sie enttäuscht.

„Glaub mir, Henry ist da drin. Er ist ein Piktogramm, das offenbar keine Botschaft hat und nichts mitteilen will, außer dass es existiert“, sagte ich beschwörend.

„Ich würd dir gerne glauben, Hermes, sehr gerne! Aber ich glaube nur das, was ich sehe. Leider!“

Wie sollte sie auch. Ich bin weder Jesus Christus, Gottes Sohn, noch bin ich Satans williger Vollstrecker, dachte ich. Um jemandem Glauben zu schenken, bedarf es einiger Schritte, die zu gehen man bereit sein muss, sowie einiger Umstände und Voraussetzungen, die hier nicht erfüllt sind. Würde mich Leni lieben, hätte sie ohne zu zögern gesagt: Ja, ich glaube dir, Hermes! -, weil Liebe zuweilen blind macht, was aber in diesem Fall nicht schlimm gewesen wäre. Denn folgenlos wäre die Tatsache geblieben, dass Henry wirklich existiert, aber von Leni nicht gesehen werden kann. Ergo hätte Leni sich leisten können, vor lauter Liebe blind geworden, damit kein Risiko einzugehen.

Was faselst du da, alter Drecksack!, dachte ich. Deine Ergo-Geschichten, deine Wunschgeschichten, deine halb und gevierteilten philosophischen Abfallprodukte sind für die Katz, sind genauso sinnlos wie an den Baum gepisst und … ja zu glauben, du bist es, der mit seiner Pisse das einzigartige Blümlein am Fuße des Baumstammes hervorgebracht und genährt hat, was nun von Charles Darwin als ursächlicher Beweis für die wundersame Entfaltung der Arten angeführt wird.

Lass es bleiben!

„Ich verstehe dich, Leni! Ich würd mir auch nicht glauben wollen“, sagte ich verständnisvoll.

„Na, siehst du“, sagte sie erleichtert.

„Aber nehmen wir einmal an, es wäre so, dass Henry existiert und sich derart winzig klein in diesem Bild befindet. Was würdest du sagen, wie er dort hineingekommen ist?“

Leni dachte nach und verlieh dem besonderen Ausdruck, indem sie zärtlich den Nippel ihrer linken Brust mit dem rechten Zeigefinger streichelte. Dann, während sie nachdachte, nahm sie den linken Zeigefinger in den Mund, feuchtete ihn mit der Zunge an, lächelte mir zu und streichelte den Nippel ihrer rechten Brust. So liebkoste sie beide Nippel gleichzeitig, was ihre ganz persönliche Art der Meditation war und ihre Denkkraft erhöhte, wie sie mir einmal zu verstehen gab. Jenes Geheimnis, nach dem ich möglicherweise suchte, verriet sie mir dann, als sie mir zunächst mit der flachen Hand, zudem mit mäßiger Kraft und reduzierter Geschwindigkeit auf den Hodensack schlug.

Ich mag keine starken Schmerzen, auch nicht, was irreführend wäre, den fein abgestimmten Übergang von Schönem zu Hässlichem oder andersherum, vielmehr das wohltemperierte Gemisch eines idealen Gefühls und Wohlbefindens, dort endend, wohin es gehen soll und wem es letztlich gehört: Der bedingungslosen Klimax!

„Pingpong!“, sagte Leni. „Er hat Pingpong gespielt!“

„Mit wem?“, fragte ich interessiert.

„Mit wem oder was, das ist egal“, sagte sie.

„Und wie ist er entstanden, Leni, deiner Meinung nach?“

Sie sah mich mit großen, dunklen Augen an und sagte:

„Du sagtest doch, er sei so winzig klein. Vielleicht ist er schon immer zugegen gewesen, mitten unter uns, nur nicht hier, sondern woanders. Noch kleiner als jetzt, deshalb hat man ihn nicht bemerkt. Vielleicht lag er sogar einmal zwischen uns, als du dich an mich geschmiegt hast, während wir Liebe machten. Nichts konnte ihn verdrängen! Nichts konnte er verdrängen! Du weißt ja, Hermes, wie es ist: Solange sich niemand am Hintern gebissen fühlt, nimmt man auch niemanden wahr und ernst. Pingpong und eine Kettenreaktion wars. Doch mit wem Pingpong und wodurch Kettenreaktion. Sag dus mir! Du bist der große Sherlock!“

Ich bin kein Detektiv ersten Ranges, ausgestattet mit einem übernatürlichen Superhirn, dachte ich; eher derjenige, der auf die Erfolg versprechenden Hinweise anderer angewiesen ist, da er sonst im Dunkeln tappt; ein Normalo seines Fachs, der, wenn es sich um einfache Observationen handelt, nicht einmal viel Hirn braucht, um Fälle zu lösen. Es reicht schon, Erfolge zu verbuchen und meine Klienten damit zufrieden zu stellen, wenn ich nach einer durchgebrachten Nacht im Auto früh morgens, ehe die Raben krächzen, ein Foto von meiner Zielperson mache, worauf zu sehen ist, wie ihr Stunden zuvor genussvoll das Höschen vom Allerwertesten gerissen worden ist. Oder ihn, den Moralisten mit der weißen Weste: wenn seine vorne ausgebeulte Hose plötzlich zwei Nummern zu groß geworden und trotz des Einsatzes eines Bügeleisens zu allem Unglück auch geblieben ist und er mit der Ausrede nachhause kommt, ein Hund habe versucht, ihm den Schwanz abzubeißen. Es ist einfach widerlich! Solche Fälle sind nur ekelhaft! Das Einzige, was mich nach einer solchen Tortur des Wartens dann noch belastet, ist das Reinemachen meines Autositzes von einer durchfurzten Nacht, deren Schattenseiten nicht zu leugnen sind.

Leni übergab mir die Fotos. Ich erschrak! Der dunkle Fleck ist größer geworden! Ich musste sicher sein; darum kramte ich nach meiner Discounter-Brille.

Ich war mir sicher!

„Was ist denn, Hermes? Du trampelst mir noch den Granit kaputt!“

„Leni, ich muss mich beeilen. Muss unbedingt mit Tim reden. Hab keine Zeit zu verlieren!“

Daraufhin zog ich mich rasch an und bemerkte nicht, dass ich ohne Socken in den Schuhen stand. Zu guter Letzt verabschiedete ich mich mit einem flüchtig hingeworfenen Busserl und ging.

Erst irrte ich durch Wien, dann schien ich mich sogar zu verirren, anstatt zielstrebig nach Tim Ausschau zu halten. Er und die Jungs besaßen kein Mobile; sie verachteten jenes Stück Zivilisation, da es einen, laut ihrer Aussage, vom Scheitel bis zur Sohle zu vereinnahmen drohe. Da behielt ich lieber mein Programm im Auge, besann ich mich, und suchte die Unterkunft von Vincenz auf. Der Tote hatte in einer feudalen Gegend Wiens gelebt, in einem Penthouse, das zweifelsfrei ein beträchtliches Vermögen gekostet haben musste. Womit Vincenz sein Geld verdiente, das wusste ich nicht. Tim hatte mir gegenüber davon nichts erwähnt. Aber das Vermögen stammte eindeutig von Vincenz. Doch, Tote können es nicht mehr ausgeben; und wenn schon zwischen den beiden Turteltäubchen Finanzen geregelt wurden, da ihre Heirat kurz bevor stand, dann hatte Marie ganz gewiss auch die Möglichkeit, sich Zugang zum Geld zu verschaffen.

Jetzt befand ich mich vor dem Haus und gestand mir ein, dass es einen gelungenen Kontrast zu den alten Gebäuden Wiens darstellte. Doch, Tote können keine Tür öffnen! Ich klingelte mich also rauf und runter. Hierbei mussten meine Ohren viel ertragen und wegstecken. Von einem schlichten Ja über ein zweisilbiges Hallo und dem Langsatz Ich muss nur noch schnell ins Bad, dann mach ichs dir zweimal bis zum Klassiker Wir kaufen nix war die Sinfonie erst komplett, nachdem ich Ich komm gleich runter und poliere dir die Fresse gehört hatte. Komm nur her!, dachte ich. Wirst schon sehen! Und er kam! Ein normal großer Mann mit leicht trainiertem Oberkörper von höchstens achtzig Kilogramm schlenderte mir mit düsterem Blick entgegen und blaffte mich schon von Weitem an:

„Sind Sie das Schwein, das meine Klingel unerlaubt betätigt hat?“

Ich präzisierte.

„Ja! Ich bin das fette Schwein!“, sagte ich lächelnd.

Er kam näher. Zudem erhöhte er die Geschwindigkeit; und er hatte einen guten Antritt. Ich setzte derweil zu meinem Running Gag an und tat so, als wollte ich fliehen. Zack und Doing! Ich ließ ihn auflaufen, woraufhin der Gute ins Wanken geriet und schließlich zu Boden fiel. Der Rest war dann Hausmannskost und für ihn völlig ausreichend. Ich plumpste auf ihn drauf: Elefant sitzt auf Maus - und aus! Er röchelte mir ein schönes Theater vor, der Halbstarke, und verlangte doch tatsächlich von mir, ich möge doch bitte schön wieder aufrecht stehen.

„Nicht so hastig!“, sagte ich siegessicher. „Ich möchte in die Wohnung von Vincenz Steger. Wer kann mir dabei behilflich sein?“

„Kenn ich nicht!“, sagte der Mann trocken.

Ich machte mich um eine Tonne schwerer.

„Schon gut, schon gut! Für ein paar Kröten mehr, da zeige ich Ihnen auch meine Pornosammlung!“

„Ich will deine beschissenen Pornoheftchen nicht sehen! Und schon gar nicht deine Sauereien auf Video, auf dem du drauf bist, und zwar wie du einsam im Dunkeln hinter der Tür stehend masturbierst! Ich will nur die Wohnung von Steger sehen. Hast du mich verstanden?“

„Mann! Ich bin nicht schwerhörig!“, sagte der Kerl.

„Hast du einen Schlüssel zur Wohnung?“, fragte ich.

„Ich hab zu allen Wohnungen ein Schlüssel!“, sagte der Mann stolz.

„Bist aber ein toller Hecht! Wir bedienen wohl die Ladys, während ihre Typen schwer für ihr Geld schuften! Hab ichs?“

„Falsch! Ich gieße nur die Blumen.“

„Armer Kerl, hats wohl nicht dafür gereicht! Durftest nur zugucken“, provozierte ich ihn.

„Sie! Ich rufe gleich die Gendarmerie und zeige Sie an!“, sagte der Mann erregt.

„Langsam, langsam! Du willst doch, dass ich meinen fetten Arsch aus deiner widerlichen Fresse hieve. Oder?“

„Was wollen Sie eigentlich von mir?“

„Das werd ich dir sagen. Zwei Dinge! Erstens: Ich will in die Wohnung! Zweitens: Was hast du gesehen? Capito?“

Als Zeichen meines guten Willens verlagerte ich meinen Fleischberg, verschonte die lebenswichtigen Organe und setzte mich auf seine Kniekehlen.

„Na gut! Der Kerl gab sich nur nach außen hin seriös und spielte den Harmlosen, wenn seine Verlobte anwesend war. Dabei führte er ein Doppelleben! An gewissen Tagen schmiss er solche Partys in seiner Wohnung. Da ging es hoch her, das kann ich Ihnen aber sagen.“

„Weiter!“, tönte ich ihm nervös ins Ohr.

„Also! Ich steh ja nicht auf so einen Scheiß, aber …“

„Ich schon!“, sagte ich. „Aber weil du einen Schlüssel zu seiner Wohnung hattest, konntest du es nicht lassen. Stimmts?“

„Ich hab mich aber gleichzeitig um die Blumen gekümmert. Das schwöre ich - beim Kondom meines Vaters!“

„Warum? Ist es gerissen und du bist dabei herausgekommen?“

„Sie! Wenn Sie so weitermachen, dann spuck ich gar nix mehr aus!“

Als Zeichen meines verloren gegangenen guten Willens verlagerte ich meine Zentner eine Etage höher.

„Lassen Sie das! Ich red ja schon!“, röchelte er mir was vor.

Ich machte es ihm wieder bequemer.

„Also doch nur zugucken!“, sagte ich.

„Ja! Um Himmels willen! Ja!“

„Was hast du gesehen?“

„Nackte Weiber und nackte Kerle. Das begann immer ganz harmlos. Die Fesselspiele und Apparaturen, womit sie sich aufgeilten, waren immer Teil ihrer Performance.“

„Floss auch Blut?“, fragte ich.

„Kann ich nicht sagen“, heulte mir der Kerl vor.

„Du wirst doch wohl noch die Farbe Rot von einer anderen unterscheiden können?“, erwiderte ich.

„Mann! Wenn die sich reingesteigert haben, ist denen nichts mehr heilig gewesen. Sämtliche Flüssigkeiten flossen wie entkalkte Avantgarde auf den Boden und wurden zu einem schmierigen Regenbogen.“

„Blieb dabei jemand auf der Strecke?“, fragte ich.

„Sie meinen, ob jemand ernsthaft verletzt wurde oder schlimmer noch?“

„Ja!“, sagte ich.

„Meines Wissens: nein! Warten Sie … einmal, da trugen sie einen Kerl aus dem Zimmer, der sah gründlich schachmatt aus. Aber was mit ihm geschah, das kriegte ich nicht mit. Denn ich musste mich um …“

„Um die Blumen kümmern!“, wusste ich mich einzuloggen. Dann sagte ich: „Wie wär es, wenn wir jetzt nach oben gehen, in die Wohnung von Steger. Du lässt mich dann dort meine Untersuchungen machen. Wenn ich wieder verschwinde, weiß ich selbst, wie man die Tür hinter sich zumacht. Was hältst du davon?“

„Sind Sie von der Gendarmerie?“, fragte der Typ.

„Nein!“, antwortete ich ihm.

„Dürfen Sie denn das überhaupt? Mich platt sitzen und so?“

„Nein!“, sagte ich trocken. „Aber ich bin was Schlimmeres als die Gendarmerie! Ich bin Privatdetektiv!“

„Kann ich mal Ihre Papiere sehen?“

Ich zeigte ihm meinen Ausweis, woraufhin ihm nichts mehr dazu einfiel, um mich doch noch in letzter Sekunde erfolgreich abzuwimmeln. Nachdem ich mich von meinem lebendigen Sofa erhoben und er sich kräftig ausgeschüttelt hatte, gingen wir zum Aufzug des Hauses. Er drückte auf den fünfzehnten Stock. Ich dachte mir, nicht allzu hoch, aber hoch genug, um jemandem, der auf der Straße lief, auf den Kopf zu spucken und wieder rasch zu verschwinden, ohne gesehen zu werden! Angenehm zudem war, dass im Aufzug keine Musik lief, die das Gehirn schonungslos malträtiert hätte. Nach kurzer Fahrt endete das Vergnügen und wir entstiegen dem Aufzug.

„Die paar Treppen zu Fuß hinauf, dann stehen Sie vor der Tür. Hier haben Sie die Schlüssel. Wenn Sie wieder unten sind, werfen Sie sie in Stegers … in den Briefkasten des Verstorbenen! Viel Glück! Und lassen Sie sich bitte hier niemals mehr blicken!“, sagte der Kerl und grinste mich fast so blöde an wie Nummer 1 und Nummer 2.

„Kein Problem!“, sagte ich.

Dann verschwand der Typ im Aufzug. Ich hörte noch, als die Tür schon verschlossen war und er hinabfuhr, wie er ein dämliches Schlagerlied pfiff, dessen Komplexität ich während eines Toilettenganges in Lichtgeschwindigkeit entschlüsselt hätte. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte einmal herum. Es öffnete sich die Tür. Ein langer Flur verschlang mich. Alles weiße Wände, ein tadelloses Weiß, ohne jegliche Flecken. Und in der Luft hing schwer der Geruch von aggressivem Putzmittel; dazwischen, recht dezent und unaufdringlich, eine leichte Note Amber, dessen sinnlichen Reiz ich aus eigener Produktion her kannte. Hier hat sich offenbar jemand viel Mühe gemacht, um Sauberkeit als ein verkäufliches Produkt herzustellen, dachte ich. Ich lief den Gang entlang und klapperte Zimmer für Zimmer ab. Dann stand ich in dem Raum, in dem Vincenz Steger gestorben war. Wie fühlt man sich so, Henry, zu Hause angekommen zu sein, sprach ich zu dem noch unsichtbaren blauen Männchen, das die Stille in sich trug. Ich sondierte das Terrain der Wand derart gründlich, sodass sich jeder Hintern auf dieser Welt von mir gewünscht hätte, ihn danach mit einer Wundsalbe eingerieben zu haben. Die hohe Kunst der Investigation wurde nur von einem Geräusch, das aus der Küche kam, unterbrochen. Ich machte Schluss mit meinen Streicheleinheiten und ließ die Wand Wand sein; zumal ich nichts Verdächtiges, geschweige denn einen dunklen Fleck, Henrys ursprüngliche Heimat, entdeckt hatte, und ging in die Küche. Das Brummen stammte vom Kühlschrank. Ich öffnete ihn. Die Überraschung war groß! Da stand auf der oberen Glasplatte ein silbernes Exemplar MacBook Air, das genügend Kühlung abbekommen hatte, um für die restlichen Jahrhunderte der Garantiebestimmungen keinen Ärger mehr zu bereiten. Ich nahm das flache Ding, die Flunder, raus und stellte das Notebook auf den schwer nach edlem Massivholz aussehenden Küchentisch. Ich klappte es auf und schaltete es ein. Es funktionierte. Aber als es nach dem Passwort maulte, da musste ich aufgeben. Und du, Henry, kennst du nicht das Passwort?, sprach ich zu ihm? Du kommst doch von dort her! Stimmts? Vincenz hat nicht auf seinen Abschiedsbrief geschaut. Er hat dich gesehen! Wie? Ich weiß es nicht! Und ich kann es noch nicht beweisen! Aber hoffentlich bald! Leni sprach von Pingpong. Mit wem hast du Pingpong gespielt, bis du endlich in unsere Wirklichkeit kamst? Ich werde es herausfinden! Hoffentlich! Darauf kannst du einen lassen! Versprochen! Ich griff mir das Notebook, klappte es zu, schnappte mir noch eine Vincenz-Fotografie, die so herumlag, ging nach draußen und schmiss die Schlüssel, wie mit dem Kerl vereinbart, in den Briefkasten.

Hermes Fettberg

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