Читать книгу Die Chroniken der Maddie St. Jones - Nedim Husejinovic - Страница 5

Оглавление

Das Adlernest

„Das ist zu hoch, Maddie!“, rief Charles, aber Maddie hörte nicht auf ihn, natürlich. Stattdessen grinste sie, nahm ihre Zunge zwischen die Zähne und zog sich noch einen Ast weiter hinauf. Zum Glück hatte ihre Mutter ihr dieses neue Kleid geschneidert, das ihr mehr Beinfreiheit gab und mit dem sie besser klettern konnte. Es waren nur wenige Griffe nötig und Maddie konnte die Falten ihres Rockes einfach öffnen und an der Seite befestigen. So lagen ihre Beine frei, was natürlich vollkommen unschicklich war. Für eine kleine Lady von elf Jahren gehörte es sich auch nicht, auf Bäume zu klettern, aber das war Maddie gleich. Und ihre Mutter Sarah war glücklicherweise so klug, nicht zu versuchen, ihre Tochter in eine Richtung zu drängen, die ihr nicht entsprach.

Lady. Wie eine Lady würde sie nie aussehen, das wusste Maddie nur zu gut. Schon ihre langen, stets gelockten, unbändigen dunkelroten Haare verdeutlichten das. Dazu hatte sie noch diese helle, fast weiße Haut versehen mit den Sommersprossen, insbesondere um die Nase und die Wangen herum. Und erst ihre grünen, strahlenden Augen… Nein, damit war Maddie wahrlich wenig ladyhaft.

„Ich kann gar nicht hinsehen“, meinte Rachel und drehte sich theatralisch zur Seite. Selbstverständlich legte sie sich auch die Hände über die Augen. „Charles, tu doch etwas!“

„Was soll ich denn tun?“, fragte Charles hilflos. „Ich klettere da bestimmt nicht hinauf.“

Anklagend sah Rachel ihn an und schüttelte dann den Kopf. Als sie zu Maddie hochblickte, stemmte sie die Fäuste in die Hüften, was ganz und gar nicht damenhaft aussah. „Madison Elizabeth Charlotta St. Jones, du kommst sofort da herunter. Sonst wird noch ein Unglück geschehen. Das ist unverantwortlich. Ich werde Mister Eliot holen.“

Maddie lachte. „Den Jagdaufseher? Und was soll der tun? Mich herunterschießen?“

Rachels Gesicht wurde rot vor Zorn und unwillkürlich hielt sie die Luft an. Das tat sie immer, wenn sie sich aufregte. Maddie liebte es, weil Rachel dann nicht mehr in der Lage war, dumme Sachen zu sagen.

„Charles, tu doch endlich etwas!“, wandte sich Rachel wieder an ihren kleinen Bruder. Der blickte sie nur irritiert an.

„Was soll ich denn tun?“

„Das weiß ich doch nicht. Du bist der Mann hier. Erledige das.“

Charles Blick wurde noch irritierter. „Ich bin erst zehn Jahre alt.“

„Na und? Andere haben in deinem Alter schon ganze Königreiche beherrscht.“

„Ich bin aber kein König“, erwiderte Charles schnippisch.

„Und mit dieser Einstellung wirst du es auch nie werden“, meinte Rachel, ebenfalls schnippisch. „Als König oder Königin benötigt man gewisse Qualitäten, die du ganz sicher nicht hast. So wird die Prinzessin dich nie zum Gatten erwählen.“

Charles verzog das Gesicht. „Sie ist doppelt so alt wie ich.“

„Die Königin hat auch noch andere Töchter.“

Charles schüttelte den Kopf. „Du kannst ja einen der Prinzen heiraten. Dann wirst du Königin und ich bleibe hier auf dem Land.“

Rachel schüttelte ebenfalls den Kopf. „Würdest du jetzt endlich mal etwas unternehmen und Madison da herunterholen.“

Charles atmete durch. „Nicht mal Ihre Majestät würde Mad Maddie da herunterbekommen, wenn sie sich in den Kopf gesetzt hat, da hinaufzuklettern.“ Dann sah er wieder nach oben. „Ich wünschte, ich könnte auch so klettern wie sie.“

Rachel zog die Luft ein. „Das wirst du ganz sicher nicht. Das ist viel zu gefährlich. Ihr würdet beide herunterstürzen und dann wärt ihr beide tot. Und mir würde man die Schuld geben. Das wäre schrecklich.“

Charles achtete gar nicht mehr auf seine große Schwester. Nur weil sie schon vierzehn Jahre alt und somit älter als Maddie und er war, glaubte sie, alle beide herumkommandieren zu dürfen. Alles, was Spaß machte, war verboten, wenn es nach ihr ginge. Und zu ihren Regeln gehörte ganz explizit, dass man nicht auf Bäume kletterte. Zum Glück waren Charles und Maddie aber schneller und beweglicher als sie, was vor allem daran lag, dass sie eben nicht über solche praktisch geschnittenen Kleider verfügte wie Maddie. Außerdem fürchtete sich Rachel vor allem, besonders vor Schmutz. Und Schmutz gab es auf dem Land nun einmal überall.

Maddie war mittlerweile so hoch geklettert, dass sie durch die Äste fast das gesamte Land überblicken konnte, womöglich bis in die Highlands. Wie gerne hätte sie diese wiedergesehen. Es war schon Jahre her, dass sie dort gewesen war. Dort, wo auch die Männer Röcke trugen, nur dass sie diese nicht so nannten, sondern Kilts. Aber auch sie hatte einen solchen Kilt einmal tragen dürfen, der ihr gerade einmal bis zu den Knien reichte.

Maddie lachte bei dem Gedanken daran. Damals waren ihre Beine niemals sauber gewesen, sondern sie waren praktisch immer vom Schlamm verschmiert. Rachel hätte sicher regelmäßige Schwächeanfälle bekommen.

„Kannst du schon etwas sehen?!“, rief Charles von unten und riss Maddie damit aus ihren Gedanken.

Maddie blickte hoch. „Nein. Hier sind die Äste zu dicht. Aber ich müsste gleich angekommen sein.“

„Das wirst du nicht!“, rief nun wieder Rachel. „Du kommst sofort dort herunter. Du wirst dir noch den Hals brechen und man wird mir die Schuld daran geben.“

Charles grinste. „Ich denke, du kannst dir dessen sicher sein, dass niemand davon ausgehen wird, dass du Maddie hättest aufhalten können.“

Rachel knuffte Charles auf den rechten Arm.

„Aua. Das gehört sich nicht für eine Dame.“

Rachel lächelte schief. „Hier ist niemand, dem du das sagen kannst.“

Charles wollte etwas erwidern, aber Maddie unterbrach seinen Gedanken.

„Ich bin gleich da“, rief sie.

„Nein, bist du nicht“, entgegnete Rachel, „weil du auf der Stelle wieder herunterkommst.“

Maddie grinste nur und zog sich vorsichtig am letzten Ast hoch. Da war es. Wie sie es sich gedacht hatte, hatte ein Adler tatsächlich ein Nest oben in der Baumkrone errichtet. Es war rund und sehr groß. Viel größer als die Nester, die sie davor gesehen hatte. Entsprechend groß musste auch der Adler sein, sicherlich ein prächtiges Tier.

„Das Nest ist mindestens einen Meter breit. Es muss von einem Adler stammen“, rief sie hinunter.

Rachel verzog das Gesicht. „Das kann nicht sein. In England leben keine Adler, die so groß sind.“

Charles zuckte mit den Schultern. „Wer weiß? Der Äther verändert alles. Vielleicht ist er von Amerika herübergekommen.“

„Die Strecke wäre zu weit.“

„Andere Tiere legen noch viel größere Strecken zurück, um zu nisten“, gab Charles zu bedenken. „Vielleicht ist er hier, um seine Jungen geschützt aufzuziehen.“

Rachel lachte humorlos auf. „Und dann kommt Mad Maddie.“

„Sie wird den Eiern nichts tun.“

„Ja, genau. Sie tut ja nie etwas. Und sie ist auch nie an den Katastrophen schuld, die sie auslöst.“

Maddie bekam von dem Streitgespräch nichts mit. Viel zu fasziniert betrachtete sie das mit unzähligen flauschigen Federn ausgestattete Nest, in dem gut sichtbar vier Eier lagen. Diese gehörten eindeutig keinem Huhn. Zu gerne hätte Maddie sie einmal angefasst, aber sie wusste, sie durfte das nicht. Nur beobachten, nicht anfassen, pflegte ihre Mutter immer zu sagen. Maddie hielt sich daran.

Normalerweise bauten Adler ihre Nester eher an Felsen, aber davon gab es in der Gegend kaum welche. Ein paar Hügel hier und da, aber keine Berge oder Felsen. Wieder blickte sich Maddie um und sah in die Ferne. In den Highlands hätte der Adler noch viel bessere Verstecke für sein Nest finden könne. Aber scheinbar wollte er hier nisten.

Ein Kreischen riss sie aus ihren Gedanken.

„Oh nein!“, rief Rachel und schlug sich die Hände vor den Mund.

Maddie sah sich um. Da war er. Ein wahrhaft gewaltiger Adler, der mitten in der Luft stand. Mit seinen beiden Schwingen war er zweifellos so groß wie sie selbst. Sein Federkleid schimmerte bläulich und sein Schnabel war gelb. Seine Augen fixierten sie, während Maddie nicht wagte sich zu bewegen. Erst jetzt bemerkte sie, wie nah sie dem Nest und vor allem den Eiern war. Dies würde dem Adler bestimmt nicht gefallen. Ganz und gar nicht gefallen.

„Komm ganz langsam und vorsichtig wieder herunter“, meinte Charles. „Keine hastigen Bewegungen.“

„Was passiert, wenn sie sich hastig bewegt?“, wollte Rachel mit noch immer vor den Mund gehaltenen Händen wissen.

„Dann wird der Adler heute nicht mehr auf Beutesuche gehen müssen, weil er genügend Beute hat.“

Rachel schluchzte. „Das klingt nicht gut. Das klingt überhaupt nicht gut. Ganz vorsichtig, Madison!“

Maddie wäre es lieber gewesen, Rachel hätte nicht so laut geschrien. Vielleicht glaubte der Adler, Rachel würde Maddie zurufen, sie solle schnell ein Ei nehmen. Und offensichtlich schien der Adler genau das zu denken.

Doch dann geschah etwas, womit Maddie nicht gerechnet hatte. Und gleichzeitig ihre Lage noch verschlechterte.

Eines der Eier vor Maddie bewegte sich deutlich. Und dann sprang die Schale auf und ein kleiner spitzer Schnabel kam zum Vorschein, gefolgt von einem kleinen Kopf. Im nächsten Moment öffnete sich der Schnabel und ein unglaublich rührendes Wehklagen ertönte.

„Oh nein“, meinte Charles nur.

„Oh nein?! Was meinst du mit ,Oh nein‘?!“

Aber Charles hatte keine Chance mehr, seiner Schwester zu antworten.

Der Adler stieß herab, genau auf Maddie zu.

Maddie hatte dies geahnt. War der Adler schon vorher wegen der Eier nervös gewesen, so hatte sich dies mit dem Schlüpfen eines Kükens noch verschlimmert. Als also der Adler auf sie zukam, tat Maddie das Einzige, was sie tun konnte: Sie ließ sich fallen.

Da die Äste dicht genug standen, war der Sturz nicht tief. Es reichte aus, um aus der Reichweite des sehr zornigen Adlers zu kommen. Doch dieser umkreiste nun den Baum und suchte nach einer Gelegenheit, doch noch an Maddie heranzukommen.

Maddie sah sich um. Sie musste in Bewegung bleiben, da der Adler nur auf eine Gelegenheit wartete, wieder zuzustoßen. Leider waren hier die Blätter und Äste nicht mehr so dicht und boten daher keinen ausreichenden Schutz. Gleich würde der Adler wieder angreifen und Maddie würde sich nur dadurch retten können, dass sie sich zu Boden fallen ließ. Doch dieser Sturz würde ganz sicher nicht mehr so glimpflich verlaufen.

Maddie blickte sich suchend zu allen Seiten um. Es musste noch etwas anderes geben als einen Sprung, bei dem sich mit Gewissheit den Hals brechen könnte. Ihr musste schnell etwas einfallen, denn der Adler machte sich schon bereit. Schließlich hatte sie eine Idee.

„Was machst du da?!“, rief Rachel.

„Ich muss in den anderen Baum springen!“, erklärte Maddie. „Der hat mehr Blätter.“

„Was?!“, entfuhr es Rachel lauthals. „Nein, Maddie, das wirst du nicht tun! Du springst auf keinen Fall in einen anderen Baum! Hörst du?! Du wirst nicht springen!“

Maddie hörte nicht auf Rachel. Wenn sie nicht sprang, würde der Adler sie angreifen. Wenn sie sich in dem anderen Baum befand und somit keine Gefahr mehr für seine Jungen darstellte, ließ er vielleicht von ihr ab.

Maddie stemmte die Füße auf den Ast und spannte ihre Muskeln an. Der andere Baum schien nahe und doch so weit entfernt. Wenn es ihr gelang, wäre sie bestimmt in Sicherheit. Wenn sie danebensprang, wäre der Sturz mit Sicherheit viel schlimmer, als wenn sie sich hier einfach fallen ließe.

Kurz zögerte Maddie noch. Doch als der Adler erneut herabstieß, sprang sie ab. Nur entfernt vernahm sie, wie Rachel aufschrie.

Die Chroniken der Maddie St. Jones

Подняться наверх