Читать книгу Die Chroniken der Maddie St. Jones - Nedim Husejinovic - Страница 6
ОглавлениеDer Aufbruch
Der Flug schien ewig zu dauern. Alles erschien Maddie wie in Zeitlupe. Als würde die Zeit ganz allmählich einfrieren. Unter sich erkannte sie, wie Rachel ohnmächtig zu Boden sank. Hinter sich spürte sie den Luftzug des Adlers, der sich auf sie herabstürzte, seine Krallen ausrichtete und wütend schrie. Das rettende Blätterdach des anderen Baumes schien nur unendlich langsam auf sie zuzukommen. Alles konnte einen winzigen Moment zu spät sein.
Dann nahm alles plötzlich wieder seine normale Geschwindigkeit auf. Maddie krachte regelrecht durch die dünnen Äste und Blätter und landete auf einem starken Ast. Gleichzeitig drehte der Adler mit einem lauten Kreischen ab und erhob sich wieder in die Lüfte.
Maddie umklammerte den Ast und wartete darauf, dass der Adler zurückkommen würde, um sich endgültig auf sie zu stürzen. Dann blieb ihr tatsächlich nichts anderes übrig, als sich fallen zu lassen.
Als sie einige Zeit so verharrt hatte, öffnete sie langsam die Augen. Vorsichtig blickte sie sich um und sah, dass sie sich mitten in der von dichten Blättern bewachsenen Baumkrone befand. Absolute Gewissheit hatte sie nicht, aber sie glaubte, der Adler würde sie jetzt in Ruhe lassen.
Ganz vorsichtig und langsam kletterte sie den Baum hinunter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber gleichzeitig fühlte sie sich auch glücklich. Sie hatte das Schlüpfen eines Adlers gesehen. Vielleicht des Ersten einer neuen Art. Das konnte ihr keiner nehmen. Darum waren ihr auch die Prellungen und Schürfwunden, die sie mit einem Mal überall spürte, gleichgültig.
Als sie endlich unten ankam, stand Charles schon da. In der einen Hand hielt er einen dicken Stock und in der anderen einen von Maddies Schuhen.
Maddie und Charles blickten beide nach oben, dann sahen sie sich an und lachten.
„Du bist wirklich verrückt, Mad Maddie. Total verrückt“, meinte Charles nur.
„Es war unglaublich! Alleine, das Nest zu sehen und dann die Eier. Aber dann ist da dieses Küken geschlüpft. Du hättest es sehen sollen.“
Charles lachte. „Maddie. Da war ein riesiger Adler, der dich umbringen wollte.“
Maddie zuckte mit den Schultern. „Es konnte ja keiner ahnen, dass ausgerechnet dann seine Jungen schlüpfen würden. Da war es kein Wunder, dass er wütend war.“
Beide blickten auf Rachel, die noch immer ohnmächtig auf dem Boden lag.
„Jetzt hätte ich gerne eines von diesen Geräten, mit denen man Bilder machen kann“, meinte Charles grinsend.
Maddie nickte. „Ja. Damit werden jetzt alle Forschergruppen ausgestattet. Wirklich fantastisch. Aber ich hätte lieber ein Bild von dem kleinen Adler. Dein Vater besorgt sich doch ganz sicher so einen Apparat. Dann kommen wir zurück und machen ein Foto von den kleinen Adlern.“
Charles lächelte schief und irgendwie traurig. „Schön wär’s.“
„Ja“, bestätigte Maddie, „das wäre echt schön.“
Wieder blickten sie auf Rachel.
„Ich glaube, es wäre zu gemein, sie hier liegen zu lassen“, überlegte Charles.
Maddie atmete durch. „Ja, selbst für uns. Noch einmal dürfen wir so etwas ganz sicher nicht tun. Nicht nach dem letzten Mal.“
Charles schüttelte den Kopf. „Wer konnte denn auch ahnen, dass sie sich nicht einfach aus dem Wald entfernt? Als hätte sie den Weg nicht gekannt. Aber nein, sie wartet, bis man sie rettet.“
„Drama, Drama, Drama. Sie sollte Schauspielerin werden.“
Charles lachte. „Das wäre völlig unter ihrem Niveau.“
Beide lachten. Dabei hockte sich Charles neben seine Schwester und tätschelte ihr leicht die Wange. Langsam öffnete Rachel die Augen und sah sich verwundert um.
„Was ist passiert?“, fragte sie verwirrt.
„Das Übliche“, erklärte Charles. „Wir gingen durch den Wald und plötzlich fällst du einfach um.“
Sofort verzog sich Rachels Gesicht in Zorn und sie richtete sich auf. „Das ist nicht passiert. Madison hatte mal wieder eine verrückte Idee. Sie ist auf den Baum geklettert und wäre beinahe von einem wild gewordenen Adler getötet worden. Und ich hätte dann den Ärger gehabt.“
Charles sah zu Maddie. „Noch immer die Alte.“
Maddie zuckte mit der Schulter und zog sich ihren Schuh wieder an. Dann drehte sie sich um und ging. Charles folgte ihr.
„Ihr könnt doch jetzt nicht einfach so gehen“, rief Rachel ihnen nach.
„Wenn du unbedingt warten willst, dass der Adler es sich doch noch einmal anders überlegst, dann bitte“, gab Charles zu bedenken, worauf Rachel sich sofort ängstlich erhob.
Auf den Weg zurück zum Anwesen wollte Rachels Schimpftirade nicht enden. Maddie hörte aber nicht zu. Schon von Weitem erkannte sie ihre Mutter, die abreisefertig neben der Kutsche stand und auf ihre Tochter wartete. Ihre Zeit hier auf Eden Borrows war endgültig vorbei. Und auch wenn ihr Rachel immer wieder auf die Nerven gegangen war, so würde sie diese doch vermissen.
Ihre Mutter hatte auf eine Ansprache angesichts des Aussehens ihrer Tochter verzichtet. Stattdessen hatte sie nur gütig gelächelt, Maddie über die Wange gestrichen und sie dann mit ins Haus genommen, damit sie sich umziehen und waschen konnte. Sich selbst band sie ihre langen kastanienbraunen Haare zu einem ordentlichen Dutt und nicht wie sonst zu einem einzigen Zopf. Am liebsten hatte Maddie es, wenn ihre Mutter ihre Haare offen trug, doch das tat sie nur noch selten.
Als sie dann losfuhren, war Rachel es, die am heftigsten weinte. Zum einen zweifellos, weil es Maddie und nicht ihr vergönnt war, nach London zu kommen, in die Hauptstadt, in der die Königsfamilie ihren Palast hatte und wo das moderne Leben stattfand. Zum anderen war Rachel aber auch sichtlich traurig, dass Maddie sie verließ. Als sie sich umarmten, wollte Rachel sie kaum loslassen. Charles erging es nicht anders, aber von ihm hatte Maddie dies auch erwartet.
Und dann fuhren sie los. Ihr Hab und Gut hatten sie schon in den Tagen vorher verschickt. Ein paar Koffer waren noch übrig, aber auch um die würde man sich kümmern. Das Einzige, was sie noch tragen mussten, waren die Kleider auf ihrem Leib, die Jacken und die Hüte, sonst nichts mehr. Maddies Mutter hatte noch eine große Tasche, die nur auf ihren Reisen zum Vorschein kam und in die wahrlich alles hineinzupassen schien.
Als Maddie die Kutsche des alten Fokner bestieg, sah sie auf das mechanische Pferd, das aus seinen Nüstern dampfend neben den anderen Pferden stand. Es schien die echten Pferde nervös zu machen, was Maddie gut nachvollziehen konnte. Die neuen Maschinen hatten Maddie schon immer fasziniert, aber manche von ihnen hatten etwas zutiefst unheimliches an sich.
„Hat mir mein Neffe gebaut“, erklärte der alte Fokner nicht ohne erkennbaren Stolz in der Stimme und paffte an seiner Pfeife. „Ist jetzt auf so einer Schule. Einer Universität. Jawohl, das ist er. Lernt dort, wie man solche neumodischen Maschinen baut. Und was baut er als erste Prüfung? Seinem alten Onkel ein äthermechanisches Pferd. Als Dank, dass ich ihm das Schulgeld bezahlt hab. Konnte seine arme Mutter ja nicht, nachdem sein Vater, der Halunke, einfach abgehauen ist. Abgehauen ist der, um in der neuen Welt nach Äther zu suchen. Sauhund.“ Dann schwieg der alte Fokner eine Weile und sie schuckelten nur so dahin. Dabei beobachtete Maddie das äthermechanische Pferd, dass sich in seinen Bewegungen nur wenig von denen der echten Pferde unterschied.
„Dampf und Äther“, fuhr der alte Fokner fort. „So funktionieren die, jawohl. Ich versteh davon ja nix. Aber ich wäre schon froh, wenn bei mir auf dem Land so eine Ätherquelle gefunden würde. Dann könnte ich mich zur Ruhe setzen und müsste nicht mehr solche Fahrten machen. Nichts für ungut, verehrte Ladys, aber der alte Fokner würde einfach nur gerne in seinem Stuhl sitzen und die Berge betrachten, solange es sie beide noch gibt. Kann ja keiner wissen, nein. So schnell wie die Zeit rast. Der Fortschritt. Wird sicher auch nicht vor unserem schönen Land Halt machen. Und wer weiß, ja, wer weiß, vielleicht ist unser schönes Land schneller weg als der alte Fokner.“
Dieser Gedanke schien den alten Mann bis zum Bahnhof zu beschäftigen. Er schwieg beharrlich und blickte nur noch trübe vor sich hin. Maddie würde auch ihn vermissen.