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Das Abbild

von Nico Oelrichs



Das gedämpfte atmosphärische Licht erlaubte nur das Erkennen von Schemen auf einem eigentlich hellen breiten Bett. Wie ein kantiges Stück Treibgut inmitten ozeanischer Schwärze. Und darauf zwei regungslose Körper, halb schwarz vom Schatten, halb bernsteinfarben von den schwachen Leuchtbalken der Wandverkleidung. Eine Frau und ein Mann, bemalt von fast rotgoldenem Schimmer auf vor Nässe reflektierender Haut – die Poren zeichneten sich wie winzige schwarze Krater darauf ab, die leichten Falten der Mundwinkel und um die geschlossenen Augen erinnerten an ein friedliches Dünenpanorama aus großer Höhe betrachtet, die halbuntergegangene Wüstensonne im Rücken.

Über die weibliche dieser Landschaften wehte für den Bruchteil eines Moments ein schroffer Wüstenwind und ließ, fast unmerklich, einige Dünenkämme ihre Position verändern, sodass eine feine Bewegung über das sonst stoisch erstarrte Gesicht huschte und sogleich verschwunden war, als hätte sich am Ende doch nichts geregt. Dann sammelte sich wie von Zauberhand ein kleines Becken voll kristallklaren Wassers in einem der Augenbrunnen des Wüstengesichts, schwoll schnell an, quoll über den Rand und hinterließ eine leicht glitzernde Spur die Wange herab. Ein einzelner Tropfen fiel ab von dem Gesicht und klopfte ganz zart und doch hörbar auf das Gewebe des Bettzeugs, in dessen vielen ineinander verwobenen Fasern er sich schließlich verteilte und nicht mehr länger Trauer war, sondern bloß ein Wassertropfen, der im Laufe der nächsten Minuten vergehen würde; so wie Regen, der auf den Stoff einer Jacke fällt und sich irgendwann, bei angemessener Wärme und Trockenheit, in seine Bestandteile auflöst.

Irgendwann wird alles in seine Bestandteile zerfallen und dann zählt nichts mehr, was einmal gewesen ist. Irgendwann wird diese Trauer nichts weiter sein als ein stilles Echo, welches von niemandem gehört werden kann, als hätte es niemals existiert.

All dies geschah innerhalb einer, höchstens zweier Sekunden: die unwillkürliche Regung des Gesichts, das Erstehen und Herabfallen der einzelnen Träne und schließlich dieser düstere Endgedanke über Zerfall und Nichtigkeit. Doch diese ein oder zwei Sekunden genügten, um das gesamte Universum, welches in jedem Innern eines Menschen rotiert, in unendliche Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit zu stürzen.

Wie aus einer Trance gerissen, richtete die Frau sich im Bett auf und stützte sich dabei mit ihren Händen von der Matratze ab. Ihre linke Handfläche lag dabei auf der bereits eingesickerten Träne und ihre Haut bemerkte die leichte Feuchte kaum noch.

Siehst du?, schoss es ihr durch den Kopf, kaum noch vorhanden.

Als sie ihre Füße auf den beheizten Steinboden setzen wollte, griff sie eine drahtige Hand von hinten und vergrub sich halbherzig in dem Samtstoff ihres Nachtkleids. Die Frau zuckte, obwohl sie wusste, wer da nach ihr griff, leicht zusammen, pausierte ihre Bewegung, legte dann ihre kühle linke Hand auf die warme Hand des Mannes, schob diese dann sanft und doch nachdrücklich von sich und erhob sich. Sie ging zur Tür, öffnete sie und wagte es nicht, einen Blick zurück zu werfen. Der Mann drehte sich unter einer der leichten Decken herum, atmete gleichmäßig und versuchte seinen Kopf von jeglichen Gedanken zu befreien.

Die Frau schaltete das Licht des Badezimmers ein und ging zum Waschbecken. Dort stützte sie sich auf den weißen Porzellanrand, krallte sich geradezu daran fest, als würde sie ansonsten zu Boden stürzen, da ihre zittrigen Knie ihr Körpergewicht alleine nicht mehr tragen konnten. Dann hob sie langsam den zwischen ihre Schultern gesunkenen Kopf und betrachtete sich verstohlen im Spiegel vor ihr. Ihre schulterlangen hellblonden Haare umrahmten ein eigentlich sehr elegantes und attraktives Gesicht. Ihre Augen waren groß und grün, katzenartig und leicht mandelförmig. Sie hatte etwas Asiatisches an sich, obgleich sie keine asiatischen Vorfahren hatte.

Ihre Wangenknochen waren hoch und markant, ihr Kinn lief spitz zu und gab ihrem Gesicht eine mädchenhafte Form. Die Oberlippe war ziemlich schmal und jetzt blass, die Unterlippe dagegen voll und weich, ideal zum Küssen. Die Wimpern hatte sie sonst stets hervorzuheben versucht und ihre Augen hatte sie mit Schwarz umrandet, gerade so viel, dass es verführerisch und nicht aufreizend aussah. Nun aber waren ihre Augenhöhlen durch mangelnden Schlaf und zu viel Traurigkeit von alleine dunkel geworden und sie empfand sich als ausgelaugt, hässlich und unwürdig. Unwürdig als Frau bezeichnet zu werden.

Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen und schnell wand sie sich von ihrem jämmerlichen Spiegelbild ab. Sie drehte sich um, schlang ihre Arme um sich selbst, verschränkte sie fest vor der Brust und umklammerte sich einen Moment. Das Badezimmer war kalt. Sie fror, der Stoff ihres Abendkleides scheuerte auf ihrer empfindlichen Gänsehaut.

„Clara, bitte die Badezimmertemperatur auf 25°C erhöhen. Lass mir ein Vollbad ein.“

„Gerne, Rachael. Das Vollbad wird in genau fünf Minuten bereit sein. Die Temperatur im Badezimmer wird in weniger als einer Minute 25°C betragen. Ich wünsche dir eine angenehme Erholung.“

Beinahe hätte die Frau Danke erwidert, doch dann fiel ihr ein, wie absurd ihre ganze Situation war. Da kam sie gerade aus dem Schlafzimmer, in dem sie noch vor weniger als einer viertel Stunde den erbärmlichen Versuch unternommen hatte, Sex mit ihrem Ehemann zu haben. Dieser Versuch war natürlich gescheitert. Die Absurdität dieses Versuches allein ließ sie jetzt verzweifeln. Sie hatte sich umgedreht und wie ein kleines Kind zusammengekrümmt, eine leise Träne verdrückt, über die Nichtigkeit der Existenz gehadert, war dann aufgestanden und hatte das Abbild von Kummer und Elend im Spiegel betrachtet, sich von sich selbst abgewandt und dennoch diese Ruine eines Körpers fest umklammert, daraufhin ihrem SmartHome den Befehl zum Vollbad und zur Steigerung der Zimmertemperatur gegeben und selbst dabei noch einen Gedanken an Dankbarkeit für die vorprogrammierten Tätigkeiten eines Algorithmus verschwendet.

Die Realität hat dich zerbrochen, das Leben zerbricht dich, und du willst einem Computer danken, dass er dir Wasser einlässt und die Heizung aufdreht. Du bist verloren, dachte sie.

Das Geräusch des in die Badewanne schießenden Wassers weckte sie aus ihrem Gedankenkreisen und Rachael streifte sich das Abendkleid über den Kopf, warf es achtlos auf den Boden. Sie war nackt. Die Wanne füllte sich zu langsam für ihren Geschmack, sie fröstelte immer noch. Ihre langen Beine wanderten über den Rand der Wanne und schnell setzte sie sich in die flache Lache aus Badewasser und hoffte, dass der Pegel rasch steigen und ihren Körper bedecken möge. Sie starrte an die Decke und ein wirrer Gedanke kam in ihrem Kopf auf: Danke Gott dafür, dass du keinen Spiegel an der Decke über dir hast.

Sinnlose, konfuse und selbstzerstörerische Gedanken hatten den Großteil ihres vormals analytischen und sachlichen Denkens übernommen; sie war von einer fantasielosen Buchhalterin zu einem überemotionalen Kind geworden. Beinahe fühlte sie sich zurück in die Zeit ihrer Pubertät versetzt, doch hatte sie sich damals nicht so von Selbstzweifeln und Hoffnungslosigkeit zerfressen gefühlt. Jetzt war sie fünfunddreißig Jahre alt, eine gestandene Frau mit Karriere und Ehemann, einer modernen, sterilen Wohnung und realistischen Zukunftsplänen, in denen das Aufregendste der alljährliche Urlaub war. Doch bedeutete ihr dies alles seit geraumer Zeit nichts mehr. Sie fühlte sich hilflos und schutzlos und als wäre ihr gesamtes Leben zuvor lediglich ein alberner Tagtraum gewesen, aus dem sie schockhaft erwacht war und der alsbald in unbedingter kalter Schwärze enden musste.

Sie nahm sich eine abstrakt geformte Phiole aus rosa Kristallglas und goss ein wenig wohlriechende Badelotion daraus in das Wasser zwischen ihren Beinen. Dann verteilte sie die Lotion mit ihren Händen und erzeugte dadurch einen in allen Farben des Regenbogens schimmernden Schaum der schnell die gesamte Wasseroberfläche bedeckte und auch ihren Körper unter sich begrub. Nur Ihr Kopf lugte aus einem Gebirge aus rosigem Schaum hervor. Ihre Augen waren geschlossen. Sie atmete tief und gleichmäßig.

„Das Vollbad ist jetzt bereit. Die Wassertemperatur beträgt 25°C. Möchtest du etwas Musik hören, Rachael?“

Die Frau reagierte nicht, obgleich sie die einschmeichelnde Stimme des Hauscomputers gehört hatte. Sie fühlte sich zu müde zum Antworten, jede Antwort war unnütz, was kümmerte es das Universum, was sie wollte? Am liebsten wäre sie in jenem Moment einfach eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Sie hoffte auf die bedrohliche und rücksichtslose Schwärze. Einmal übermannt von ihr, wäre alles so schnell vorbei, dass gar keine Zeit mehr verblieb, um darüber nachzudenken, dass es vorbei ist. Alles was je gesehen, gehört und erlebt worden ist, wäre mit einem Fingerschnippen ausgelöscht und nie geschehen. Nichts würde sie mehr traurig machen; die bloße Erinnerung an sich selbst, an diesen Körper und alles, was mit ihm geschehen war, wäre nichtig.

Rachael atmete eine Zeit lang ruhig weiter, doch obwohl sie dies ganz gleichmäßig und ohne Hast tat, spürte sie, als würden ihre Lungen keinen Sauerstoff mehr aufnehmen und ihr wurde leicht schwindelig. Sie öffnete die Augen und starrte verkrampft an die gleißend weiße Decke. Myriaden greller Funkenexplosionen geisterten in einem wirren Chaos über die helle Deckenfläche und erschreckten Rachael noch mehr.

Nur Überreizungen der Netzhaut, nicht real, suggerierte sie sich selbst und versuchte noch gleichmäßiger zu atmen und den Schwindel durch Kontrolle ihrer inneren Erregtheit abzuschütteln.

Ein Geräusch zog sie aus dem Sumpf der Furcht. Die Badezimmertür wurde geöffnet.

Jack?, wollte sie beinahe flüstern, doch dann erfasste ihr im Grunde noch immer rational und analytisch denkendes Gehirn die Situation und die Furcht wich einer heißen Welle tiefen erbitterten Hasses.

Eine schlanke und makellose Hand lag auf der Türklinke, schob die Tür sachte auf und Rachaels Abbild betrat das Badezimmer. Sie trug das gleiche samtene Abendkleid, welches Rachael vor wenigen Augenblicken achtlos zu Boden geworfen hatte, nur sah dieses Kleid an Rachaels Abbild ungemein besser, verführerischer und extrem erotisch aus. Die Gestalt ihres Abbilds hatte dieselben Maße, welche sie noch vor etwas über einem Jahr gehabt hatte. Schlank, an manchen Stellen fast knochig, und doch mit mädchenhaften Brüsten und einem wohlgeformten Hintern von dessen Schwung sich das Kleid bis zu den Kniekehlen vorhanggleich herabfallen ließ. Rachael sah den Seitenansatz der linken Brust ihres Abbilds neben dem Armausschnitt des Abendkleides hervorlugen und ihr kochender Hass mischte sich mit dem Übelkeit erregenden Gefühl der eigenen Wertlosigkeit.

Ihr Abbild hielt in der Bewegung inne und blieb auf der Türschwelle stehen. Es drehte ruckartig den Kopf nach links und ihre grünen, katzenhaften Augen fixierten Rachael in der Badewanne. Ein Ausdruck des Erschreckens lag auf den porzellanzarten Zügen des Abbilds. Sie öffnete ihre vollen rötlichen Lippen und eine beinahe traumgleiche, jedoch leicht sarkastische Stimme formte die Worte: „Entschuldige. Ich wusste nicht, dass du zu dieser späten Stunde noch baden wolltest. Ich werde später wieder kommen.“

Rachaels Augen flackerten jetzt vor Hass und ihr zuvor ermattetes Gesicht verformte sich zu einer brutalen Fratze.

„Hau ab, du verfluchtes Miststück! Du musst doch überhaupt nicht pissen, verdammt! Hör auf dich so beschissen menschlich zu verhalten. Hau ab! Verschwinde hier!“ Dabei peitschten Rachaels Arme wie wild durch den Schaum und schlugen dann und wann auf die Oberfläche des Badewassers, sodass viele kleine und größere Schaumkronen über den Rand schwappten und eine seifige Lache auf den Bodenfliesen hinterließen.

Das Abbild starrte angewidert auf dieses hysterisch um sich schlagende Menschenwesen in der Wanne neben sich und wusste einfach nicht, wie es reagieren sollte. Dann griff eine starke Hand nach seiner linken Schulter und zog das makellose Ding sanft, aber bestimmt, zurück. Der dunkle Körper des Mannes schob sich an dem elfengleichen Geschöpf vorbei und errichtete eine Mauer zwischen Rachael und ihrem Abbild. Rachael verstummte in ihrer Raserei und atmete jetzt hektisch und unregelmäßig, gleichzeitig jedoch wich der Schwindel aus ihrem Kopf und ihre Neuronen blitzten nun schnell, geradlinig und messerscharf durch ihr Gehirn. Ihre Augen erfassten die Szene genau; Jack, von ihrem Geschrei alarmiert, mit versteinerter Miene und vorgerecktem Kinn stand er da, aufrecht wie der strahlende Ritter, der die holde Jungfrau vor dem feuerspeienden Drachen beschützt. Er alleine zwischen der Elfe und dem Ungetier, eine Schutzwand aus eingebildeter Rechtschaffenheit und triefender Moral. Hinter seiner Schulter, halb vom Schatten verborgen, das wunderschöne Gesicht ihres Abbilds, mit einem gespielten Ausdruck von Furcht und Erwartung darauf.

In diesem Augenblick wusste Rachael, dass es vorbei war. Es war aus, ihre Existenz hatte geendet. Sie war nicht länger Rachael, sie war eine bloße Erinnerung, eine lästige Erinnerung. Ihr Dasein war im Begriff sich aufzulösen. Sie spürte beinahe wirklich, wie sich ihr Körper in seine einzelnen Atome aufspaltete und im Äther oder im Quantenschaum verging. So wie der Tränentropfen in der Bettdecke versickert war. Nichts bleibt. Ein ungehörtes Echo.

„Ich glaube, es reicht jetzt langsam, Rachael“, dröhnte Jacks Stimme durch den Raum und wurde von den harten und nackten Fliesenwänden zigfach zurückgeworfen. Eine Kakophonie der Endgültigkeit, der Abweisung, der Verurteilung. Doch, welche der beiden hatte Jack gemeint?

Mit wieder gefassterer Stimme richtete er sich dann direkt an Rachaels Abbild: „Komm.“

Ein einziges Wort. Komm. Nicht an Rachael verschwendet, nein, ihrem Abbild gewidmet. Komm! Wohin? Jack und das Ding, wie Rachael sie manchmal auch in letzter Zeit bezeichnete, verließen das Badezimmer und Jack schloss die Tür hinter ihnen.

Rachael blieb zurück, allein. Schaum war in ihre Haare und auf ihr Gesicht geflogen. Ihre Hände zitterten und ihr linkes Augenlid zuckte unaufhörlich in unregelmäßigen Intervallen konvulsiver Krämpfe. Der Schwindel war schlagartig zurück und der Gedanke, dass der Tod sie endlich mit seiner Schwärze und Vergessenheit erlösen sollte, wurde übermächtig.

Es war nun also tatsächlich passiert. Sie hatte es gewusst, schon vor Wochen hatte Rachael es tief in ihrem Innern gespürt, vor kurzem hatte sie es dann auch bewusst anerkannt und jetzt war es real geschehen. Egal welche Ausflüchte Jack auch immer für sie parat gehabt hatte, unnötig zu erwähnen, dass er sogar dann und wann zornig geworden war, wenn Rachael ihm wieder eine ihrer Vorhaltungen und Standpauken gehalten hatte; am Ende hatte Rachael doch recht behalten. Mit allem. Es war zu Ende.

Ihr Abbild hatte sie aus dem Leben verdrängt. Die Maske hatte das Antlitz überdauert. Was ist der Mensch, und was die Maschine? War sie, Rachael, überhaupt noch ein Mensch, oder bereits mehr Maschine als ihr Abbild? War alles Menschsein, alles Bewusstsein vielleicht am Ende doch nur Illusion? Ein Tagtraum, der vergeht? Ein ungehörtes Echo?

Aber ich tue ihm ja Unrecht, kam es plötzlich über sie. Er hat ja nicht mich aus der Wanne geholt, er hat doch dieses Ding von mir weggeführt. Er ist zerrissen, und wie sollte er das auch nicht sein? Er weiß doch selbst nicht, was richtig und was falsch ist. Er kann nicht uns beiden gerecht werden, aber er kann uns beiden wehtun. Und Jack will niemandem wehtun, das wollte er noch nie. Jedenfalls nicht der alte Jack, mein Jack. Oh Gott, bitte erlöse mich doch endlich…

Dann umfing sie Dunkelheit.

DAS ABBILD

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