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13 Monate zuvor
ОглавлениеJack Dunham saß bequem auf seinem ergonomischen Drehstuhl und ließ die Socialcoms ihm völlig unbekannter Leute vor seinen rasch hin und her zuckenden Augen herunter rattern. Der Kontrast zwischen durchsichtiger Glasscheibe und dem grellleuchtenden Text darauf irritierte seine Augen nach einer Weile und Jack berührte ein Tastenfeld auf dem Schirm vor ihm. Sofort änderte sich die Durchlässigkeit des Glasmonitors und der Text wurde deutlich besser lesbar, allerdings konnte Jack nun nicht mehr länger seinen Kollegen vor sich beobachten. Dieser Kerl, Berry Lindholm, fuchtelte wie ein Epileptiker wild mit den Armen umher und drehte sich dabei auf seinem Bürostuhl, mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung, und faselte etwas mit ausgereift theatralischer Begeisterung über die Vorzüge dieser oder jener InteLens-Version.
Lindholm war unter anderem zuständig für den Kundensupport und nutzte die Produkte, die er anderen Menschen täglich zehn Stunden lang schmackhaft machte, mit fast kindlicher Begeisterung allesamt selbst. Jack kannte Berry nur von der Arbeit her, also seit etwa 4 Jahren, und nie hatte er Berry ohne InteLens und Cereb-Link erlebt, konnte also auch nichts über Berrys wahren, ursprünglichen Charakter sagen. Für Jack war sein Kollege einfach ein Zerrbild eines Menschen; jemand, der sich nicht durch seine ihm angeborenen Stärken und Schwächen oder seine Erziehung, Ausbildung oder durch eigene Gedankenarbeit auszeichnete, sondern jemand, der seine Persönlichkeit so stark abhängig von technischen und medialen Entwicklungen macht, dass er am Ende nicht mehr länger fleischlicher Mensch, sondern eine Idee eines Menschen ist, ausgedrückt durch unmenschliche Werkzeuge. Berry Lindholm war Angestellter und zeitgleich einer der besten Kunden bei SmarTec und somit im Rating über Jack, der lediglich bei SmarTec arbeitete, jedoch bisher noch keines ihrer kybernetischen Produkte erworben hatte. Dafür gab es mehrere Gründe. Zum einen waren die Produkte einfach viel zu teuer und da Jack direkt beim Hersteller angestellt war, wusste er im Groben wie teuer die Entwicklung, die Rohstoffe und die Verarbeitung der Gadgets waren und bemitleidete jeden Dummkopf, der sein hart erarbeitetes Geld für die neueste Version einer InteLens aus dem Fenster warf. Der Preisaufschlag im Gegensatz zu den tatsächlichen Produktionskosten war eine Frechheit.
Zum anderen hatte er seinen Kollegen Berry Lindholm als abschreckendes Beispiel. Auch wenn er, wie gesagt, keine Ahnung von Berrys Verhalten vor InteLens und Cereb-Link hatte, so konnte er sich doch vorstellen, dass diese Geräte eine unwiderrufliche und weitreichende Charakterveränderung am Menschen vornahmen. Das soll nicht heißen, dass Jack sich der Technisierung der Welt entzog und sie ausschließlich verteufelte – er selbst hatte seine und Rachaels Wohnung für einen ordentlichen Betrag upsmarten lassen, Clara leistete wunderbare Dienste, der Kaffe war stets pünktlich und frisch gekocht, die Stromkosten waren im Vergleich zu früheren Abrechnungen ohne Clara um 23% niedriger, die Angst vor Einbrüchen oder gar Überfällen in den eigenen vier Wänden war ohnehin seit Jahren stark abgeschwächt worden. Am angenehmsten jedoch empfand Jack die Tatsache, dass Clara die Temperatur in der Wohnung perfekt einzustellen vermochte. Wenn Jack sich abends im Wohnzimmer einen Klassiker ansah, so betrug die Raumtemperatur stets 19°C, während Rachael im Nebenzimmer noch ihre Heimarbeit durchging und bei, für Jack unerträglichen, 24°C schwitzte.
Wenn das kein Argument für ein Upsmarting war, dann berichtete Jack gerne von der Fußbodenheizung, die so fein abgestimmt war, dass nicht der ganze Boden zugleich erwärmt wurde, sondern nur die Bereiche, auf denen Jack oder Rachael entweder gerade standen oder die sie im Begriff waren zu überqueren. Upsmarting sei Dank analysierte Clara nämlich im Bruchteil einer Sekunde das Vorhaben und jede Bewegung ihrer Herren und berechnete alles im Voraus: wann welche Fließe warm sein musste, wie viel Grad die Raumtemperatur in welchem Zimmer zu welcher Zeit auch immer zu sein hatte, wie viel Wasser nötig war um Geschirr zu spülen oder menschliche Ausscheidungen in die Kanalisation zu befördern.
All dies begrüßte Jack. Es sparte nicht nur einen Haufen Geld, da alles genau Kosten-/Nutzeneffizient berechnet war, sondern erleichterte auch das alltägliche Leben. Auch fühlte Jack sich nicht mehr alleine, selbst wenn Rachael wieder Überstunden zu leisten hatte, wartete wenigstens Claras angenehme Stimme daheim auf ihn um ihn nach seinem Tag und Befinden zu fragen.
Aber es bestand ein großer Unterschied zwischen einer sprechenden und intelligent handelnden Wohnung und einem Menschen, der sich selbst mit einem Computer und dem Internet physisch sowie psychisch verbunden hatte. Jedenfalls war das für Jack ein unheimlicher Unterschied. Zwar hatte auch Jack ein Implant – das war seit einem Jahr vor seiner Volljährigkeit staatlich verordnet worden. Wäre Jack früher geboren, hätte er noch die Möglichkeit gehabt, die Implantation für eine Übergangszeit von drei Jahren aussetzen zu können, doch erleichterte der winzige Chip unter Jacks rechter Handoberfläche den Alltag ebenfalls in positiver Weise. Wenn er daran zurück dachte, damals, als er noch ein pubertierender junger Kerl gewesen war, wie unsicher er sich stets gefühlt hatte, wie verängstigt. Er war zwar schon immer ziemlich groß gewesen, doch die Muskeln hatten sich erst später ausgebildet – Jack hatte mit einem eisernen Fitnessprogramm und spezieller Protein-Ernährung nachgeholfen, nachdem seine erste Freundin ihn aufgrund seiner unmännlichen physischen Erscheinung auf einer Party bloßgestellt hatte.
Davor war er einfach nur ein dürrer langer Kerl gewesen und die Bullys auf der Dickson High hatten ihn beinahe täglich um sein Essensgeld erleichtert. Und selbst wenn er nach der Schule nachhause fuhr und schon kein Bares mehr in den Taschen hatte, war das immer noch keine Garantie dafür gewesen, nicht auch im Bus oder an einer dunklen Straßenecke überfallen und ausgeraubt zu werden.
Seit jeder Bürger gechipt worden war und man das Bargeld abgeschafft hatte, waren Verbrechen wie Diebstahl, Steuerhinterziehung und Geldfälscherei quasi nicht mehr existent. Gut, es wurde weiterhin geraubt, vor allem Luxusgüter oder Lebensmittel, aber das beinahe ausschließlich von Menschen, die kein Implantat hatten und somit schwerer zu tracken und zu überführen waren. Wer sich solch einem Menschen freiwillig näherte, der verdiente es auch nicht anders als beraubt zu werden. Leute ohne Implantat waren die Ausgestoßenen der modernen Gesellschaft. Früher einmal hatte es in den großen Städten viele Obdachlose und Drogenkranke gegeben. Man hatte sie unschwer erkennen und gar erriechen können; menschlicher Abschaum. Solche Individuen waren nach Einführung der Implants entweder in Arbeitslager gesteckt oder anderweitig verlegt worden.
Eine Zeit lang hatte Jack dieses Vorgehen verurteilt und bei seiner Chipung hatte er sich auch nicht unbedingt wohl gefühlt. Doch die Vorteile überwogen mit den Jahren deutlich. Die Städte waren einfach viel sauberer und sicherer. Nirgends sah man mehr solche abgerissenen, widerlichen Gestalten wie zu Zeiten von Jacks Kindheit. An den Schulen gab es immer noch Bullys, aber das war nichts im Vergleich zu seiner Schulzeit. Der Heimweg von den Arbeitsstellen, Universitäten oder Kulturzentren war auch bei Dunkelheit sicher; es kam nur noch ganz selten vor, dass sich ein Nimp – so bezeichnete man die Menschen, die außerhalb der Gesellschaft lebten und nicht gechipt waren – in die Ballungszentren der großen Städte stahl und dort sein Glück versuchte an biogenes Essen oder teure Wertgegenstände zu gelangen. Jack erinnerte sich wirklich nicht mehr, wann er zuletzt einen Nimp, außer in den Medien, gesehen hatte. Auch erinnerte er sich kaum noch an den typischen Geruch und Lärm der Stadt von vor etwa zwanzig Jahren. Die schwere, beinahe ölige Luft mit ihrem Smog und dem unaufhörlichen Hupen und Dröhnen abertausender Autos. Wagen mit Verbrennungsmotor gab es heute nur noch für Spektakel wie die Nascar, auf Retro-Conventions oder aber außerhalb der Städte im Schwereinsatz in Gas- oder Kobaltminen. Dort gruben sich gigantische Bagger durch das Erdreich und trugen die tiefvergrabenen Schätze der Welt zutage, die für die Herstellung all jener modernen Technik benötigt wurden, welche das Leben auf der Welt in zwei Lager teilte: die sterilen und futuristischen Städte und das durch Fracking pockennarbige und von Wanderarbeitern und Nimps bevölkerte Umland.
All dies hatte Jack im Laufe seines Lebens zu akzeptieren und sogar zu begrüßen gelernt. Er wollte nicht mehr, dass die Dinge anders lägen. Doch das, was diese Welt aus einem Menschen wie Berry Lindholm gemacht hatte, stieß ihn immer noch ab.
Ein smartes Haus? Gerne. Ein Implant zum Zahlungsverkehr und Abruf aller Bürgerdaten? Bitte sehr. Aber eine InteLens direkt auf die Netzhaut des Auges geödet und dazu noch ein Cereb-Link in die Hirnschale gebohrt? Nein, das war zu viel. Nicht nur die Vorstellung der Operation widerte Jack an, wie gesagt, auch das Resultat dieses Bioengineering verstörte ihn.
Informationen überall und sofort, unübersehbar vor Augen, stets im Geist, egal ob inmitten eines überfüllten E-Shuttles oder in ruhiger Atmosphäre zuhause. Ständige Anfragen und Anrufe im Gehör, nicht enden wollendes Gedankengewirr, bis der eigene Geist inmitten tausender Kommentare, Meinungen und Behauptungen als einzelne Erscheinung nicht mehr vorhanden ist.
Berry Lindholm zappelte weiter auf seinem Stuhl umher und überredete etwa sechs Kunden gleichzeitig zum Kauf eines InteLens-Updates. Jack beobachtete ihn nunmehr über den Rand seines Bildschirms hinweg und konnte nicht anders, als einen Schauder zu verspüren. Für ihn stand fest, dass sein Implant das einzige technische Gerät sein sollte, dass er im Körper trug. Wenn er nach einem Zehnstundentag abends nachhause kam, war er froh, keine Kommentare anderer Leute mehr sehen oder hören zu müssen. Er genoss die Ruhe die er empfand, wenn er sich ganz und gar in einen altmodischen Film vertiefen konnte und an nichts anderes mehr denken musste. Gerne hätte er seine Leidenschaft mit Rachael geteilt, doch seine Frau interessierte sich überhaupt nicht für Filme oder das Leben vor dreißig, fünfzig oder gar hundert Jahren. Sie hatte ihre Arbeit, ihre Abrechnungen und Kalkulationen. Sie bezeichnete Jack oftmals als naiven Träumer, der es nicht einen Tag in der Welt vor hundert Jahren hätte ertragen können.
Jack wusste, dass sie damit recht hatte. Nicht umsonst genoss er die Sauberkeit und Sicherheit der modernen Zeit. Dennoch kam er nicht umhin einen gewaltigen Charme für das Leben voriger Generationen zu empfinden. Die Rohheit und das Ungeschliffene. Die Gefahr für Karriere und Gesundheit, allein durch das bloße Leben in diesem archaischen Alltag. Der Krieg und Terror und die Sehnsucht nach einer humanen Welt. Die teilweise lächerlichen Vorstellungen zukünftiger technischer Errungenschaften oder die Darstellung von Robotern.
All dies waren Fantasien, die heutzutage wahrscheinlich nur noch von den Arbeitern und Nimps geteilt wurden. Von Menschen, die von der Gesellschaft abgespalten waren und auch von Jack als im Grunde minderwertig angesehen wurden. Manchmal dachte Jack darüber nach, abends, alleine vor dem Bildschirm, während ein alter Western oder Scifi-Film lief. Dann spürte er zeitweise einen Konflikt in seinem Innern. Das, was er fühlte, biss sich mit dem, was er dachte. Er bemitleidete den tragischen Helden des Films, der, wie die heutigen Nimps, mittellos und ausgestoßen war und alles dafür gab, ein besseres Leben zu erkämpfen. Er trauerte um den Roboter, der einen Menschen betrachtet und sich fragt, ob er selbst eine Seele besitzt.
Trotzdem empfand er die Realität als gerecht. Sie war das Ergebnis eines Jahrtausende dauernden Kampfes zwischen Visionären und Schlächtern; zwischen Gut und Böse. Manchmal dachte Jack auch einfach, zwischen Edlen und Dummen. Er fühlte sich als edel. Wer heute in den Fracking-Minen schuften musste, kam mit Bestimmtheit aus einem Milieu, welches nichts Edles hervorbringen kann. Diese Menschen waren der Abschaum, der sich früher unter feuchten Brücken in Zeltkolonien zusammengetan hatte. Zeige solchen Menschen einen Klassiker, gib ihnen einen Moby Dick oder Jenseits von Eden zu lesen und sie werden nicht einmal ansatzweise begreifen können, welche Tragweite der Film oder die Worte besitzen. Diese Menschen werden sich niemals erheben, jedenfalls nicht geistig, weil ihr Geist nur imstande ist, über tierische Dinge nachzudenken, nicht aber über Edles.
Ein melodisches Klingeln weckte Jack aus seinen abschweifenden Gedankengängen und beförderte ihn wieder zurück an seinen Arbeitsplatz. Auf seinem Monitor, rechts neben der endlosen Liste an Bewertungen und Kommentaren unzufriedener Kunden zu Aktionen und Produkten von SmarTec - die Jack eigentlich alle durchsehen und im Sinne der Firmenphilosophie umschreiben sollte – erschien das Konterfei seiner Frau. Jack musste kurz anerkennen, dass sie ein wirklich schönes und ebenmäßiges Gesicht hatte und dass es gut gewesen war, als seine Exfreundin ihn damals bloßgestellt und er sich für den Muskelaufbau entschieden hatte; was würde Rachael wohl von ihm halten, wenn er noch immer dieser unförmige Hänfling wäre? Wahrscheinlich hätte sie ihn niemals auch nur eines Blickes gewürdigt.
Jack berührte Rachaels Bild mit seinem rechten Zeigefinger und sogleich war die Verbindung hergestellt.
„Hallo Schatz. Wie geht`s dir?“, fragte Jack und lächelte dabei. Rachaels Gesichtsausdruck war wie eingefroren und Jack meinte Tränen in ihren Augen erkennen zu können. Mit einem Wischen seiner Finger vergrößerte er das Anruffenster und verdrängte die zu retuschierenden Kommentare auf seinem Glasschirm. Jetzt sah er Rachael deutlicher – sie weinte tatsächlich. Stille Tränen unterdrückter Trauer. Oder Angst?
„Mein Gott Schatz, was ist passiert?“
„Benutz bitte dein Headset. Ich will nicht, dass deine Kollegen mich hören.“
„Schatz, niemand hört hier, was der andere macht. Alle sind nur mit sich beschäftigt, aber wenn du willst, ich setze es auf. Kannst du mich hören?“
„Ja, ich höre dich.“
„Was ist denn passiert? Deine Mutter?“
„Nein. Mama geht`s gut.“
„Du weinst doch.“
„Ja, das tue ich. Gut erkannt.“
Jack hasste es, wenn er seiner Frau alles aus der Nase ziehen musste, aber so war Rachael manchmal. Entweder die Güte und Nachsicht in Person, oder aber extrem egozentrisch und schnell beleidigt, wenn Jack ihren Gemütszustand nicht sofort aus einem flüchtigen Blick auf sie herausdeuten konnte. Doch dieses Mal spürte Jack, dass etwas Schlimmes dahinter stecken musste.
„Jack, ich war heute bei meiner Ärztin. Clara sagte mir, dass meine Biowerte in manchen Bereichen abweichen. Ich… ich bin sofort los, du weißt ja, dass meine Tante… auch Mama…“
„Ich weiß, Darling. Bitte, beruhige dich und sag mir einfach: Ja oder Nein?“ Schweiß sammelte sich jetzt auf Jacks Stirn und in seinen Handinnenflächen. Sein Magen fühlte sich wie ein Klumpen geschmolzenes Blei an. Die Schlagworte Tante und Mama reichten schon, um seine kleine heile Welt innerhalb einer Sekunde wie dünnes Glas zerspringen zu lassen. Er wusste, dass Rachaels Tante an Krebs gestorben war, und auch ihre Mutter hatte vor zwei Jahren die Diagnose bekommen, auch wenn es ihr im Moment wieder besser ging. Doch, was würde mit Rachael sein? Sie war noch so jung, während ihre Tante und Mutter in etwas gesetzterem Alter erkrankt waren. Ein so früher Krebs war wahrscheinlich weitaus aggressiver als Alterskrebs, die Zellteilung verlief mit einer noch höheren Geschwindigkeit.
„Ja.“
Ein einziges Wort. Genug für das Ende einer ganzen Welt. Rachael hatte Krebs. Noch vor wenigen Augenblicken hatte Jack über all die Errungenschaften und all das Edle der modernen Zeit sinniert, hatte alles Dreckige, Stinkende und Tierische der alten Welt verächtlich belächelt. Er hatte sich an Clara erinnert, seine intelligente unsichtbare Haushälterin, die nicht nur für die perfekte Temperatur sorgte, sondern auch ständig alle Biosignale auswertete, welche von Rachaels und seinem Implant ausgesendet wurden. All dies schützte ihn dennoch nicht vor diesem Moment, da seine Frau ihn anruft und ihm von ihrer tödlichen Erkrankung berichtet. Mit Tränen der Todesangst in den wunderschönen grünen Katzenaugen.
Warum war dieses Horrorszenario überhaupt noch möglich in einer Welt voll von Datenerfassungen, biogener Nahrung und sauberer Atemluft?
Nun, es war noch immer möglich, wie Rachaels Anruf unzweifelhaft bewies. Jack versuchte sich zu sammeln, den souveränen und starken Ehemann für seine im Moment zerbrochene Frau darzustellen. Es gab Hoffnung, Clara war die Hoffnung, die moderne Technik musste die Hoffnung sein. Früher wäre der Krebs niemals so schnell erkannt worden. Früher wären die Leute erst zum Arzt gegangen, wenn es zu schmerzen angefangen hätte. Nicht heute, nein! Clara wertete ununterbrochen ihre Daten aus, Clara wusste besser über Rachael Bescheid als Jack es je würde. Der Krebs musste ganz frisch sein, gerade erst entstanden. Vielleicht war erst eine einzige Zelle mutiert und Clara hatte dies sofort erkannt, hatte Rachael sofort informiert und sogleich einen Anruf beim Onkologen getätigt. Auf Clara war Verlass, sie war kein Mensch, sie war eine absolut ausgereifte smarte Version eines Schutzengels.
„Wie schlimm ist es?“, hörte Jack seine eigene brüchige Stimme durch den eingefrorenen Moment vibrieren.
„Er hat bereits gestreut. Die Ärztin sagte mir, ich brauche eine Mastektomie. Es ist Brustkrebs, wie bei Tante Katherine und Mama. Es ist genetisch.“
Jack schloss die Augen und seine Mundwinkel begannen unkontrolliert zu zittern. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf und auch bei ihm sammelten sich nun Tränen. Er wollte aber nicht vor seiner Frau zu weinen anfangen; er musste jetzt das sein, was ein gestandener Ehemann zu sein hat: der sprichwörtliche Fels in der Brandung, an den sich seine hilflose Frau während der Sturmflut klammern kann.
Sogleich wusste er, dass er dieser Fels nicht sein konnte. Er war selbst überwältigt von der gnadenlosen Wucht dieser Worte.
Krebs.
Gestreut.
Mastektomie.
Er wusste, was das bedeutete. Mastektomie. Dieses sperrige Wort. Es klang klinisch und gefühllos, eben so, wie die Bezeichnung für eine Operation, einen chirurgischen Eingriff, klingen sollte. Es bedeutete, dass man seiner Frau die Brust abschneiden würde. Vielleicht sogar beide Brüste. Unbedingt beide Brüste, alleine schon aus Gründen der Symmetrie. Man würde sie verunstalten und es würde ein Gewirr aus weißen Narben und unförmig zusammengewachsener Haut übrig bleiben, dort, wo einstmals die wunderschöne, aufreizende Weiblichkeit seiner Rachael gewesen war.
Jack erschrak vor sich selbst. Seine in Todesangst versetzte Frau beichtete ihm das womöglich endgültige Geschehnis ihres Lebens, und Jack stellte sich ihren verstümmelten Brustkorb vor und wie er in Zukunft damit umgehen sollte.
Seine Exfreundin hatte ihn blamiert, hatte seine dürren Arme in einer vom Sekt verdorbenen Partylaune den anderen Gästen und Freunden zur Schau gestellt und zu allem Überfluss auch noch weitaus pikantere Details bezüglich Jacks Unzulänglichkeiten in sexuellen Bereichen ausgeplaudert und darüber gelacht. Jack hatte daraufhin einen radikalen Lebenswandel vollzogen und sich ausschließlich seiner Karriere und seiner körperlichen Fitness gewidmet. Er hatte im Laufe eines Jahres den Körper eines Athleten aufgebaut und sich ein ganz neues Selbstbewusstsein auferlegt. Die Frauenwelt hatte ihren Blick auf ihn geändert, Jack hatte sich wie ein anderer Mensch gefühlt. Jemand, der es mit allen Hürden und Herausforderungen der Gesellschaft aufnehmen konnte. Ein Siegertyp. Rachael wäre niemals mit dem alten Jack zusammengekommen, das wusste er, ganz bestimmt hätte sie ihn niemals angesehen.
Und jetzt nahm man ihm seine attraktive Frau. Man würde sie verstümmeln. Nichts von ihrer derzeitigen makellosen Schönheit würde überdauern. Und Jack fragte sich, ob er dies nun als Verrat des Schicksals an seine Bemühungen, oder als Verrat an Rachaels Leben selbst sehen sollte.
Was für ein Mensch bist du eigentlich, Jack Dunham?, waberte eine Stimme durch seinen Kopf. Und plötzlich fiel sein Blick unwillkürlich über den Monitor hinweg auf Berry Lindholm, der noch immer ekstatisch mit den Armen wedelte und Updates feilbot. Ein Maschinenmensch, der selbst nicht mehr weiß, was er ist.
Bist du viel anders, Jack?