Читать книгу 55 Gitarren - Nicole Hagenauer - Страница 7
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ОглавлениеDieser Sommer wird anders als die Sommer davor. Alles ist anders, seitdem sie nicht mehr da ist. Wenn ich nach Hause komme ist niemand mehr da, der wissen will, wie es mir geht oder wie mein Tag war. Sie fehlt mir überall. Ihre Ratschläge. Ihre aufmunternden Worte. Früher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht. Erst seitdem sie nicht mehr da ist, vermisse ich das alles. Ihr Lächeln, ihre Umarmung, ihre Stimme, ihren Geruch, die Vertrautheit. Da ist eine große Leere, die niemand füllen kann.
Traurig blicke ich aus dem Fenster, während mein Dad den Wagen über den Highway lenkt. Lastwagen und Wohnmobile fallen hinter uns zurück. Mein Bruder Tom sitzt neben mir und surft mit dem Tablet auf dem Schoß im Internet. Er scheint besser mit dem Verlust klarzukommen als ich. Vielleicht weil er älter ist und nicht mehr zu Hause wohnt, sondern in London studiert.
Die Landschaft fliegt in Schnellspulgeschwindigkeit an mir vorbei. Ich stöpsele meine Kopfhörer in die Ohren, drehe die Musik auf volle Lautstärke und schließe die Augen.
Manchmal ist das Leben echt scheiße.
Auf dem Beifahrersitz sitzt Lisa und räkelt sich. Wie mein Dad so schnell jemand Neues finden konnte, ist mir absolut schleierhaft. Natürlich hätte meine Mum niemals gewollt, dass er sein Leben lang allein bleibt, aber musste es so schnell nach ihrer Beerdigung sein?
Ich blinzele und schaue nach vorn. Lisa tätschelt meinem Dad den Handrücken, der auf dem Steuerknüppel liegt. Die ganze Situation ist so absurd, dass es mir schwerfällt die Fassung zu wahren. Was würde meine Mum dazu sagen, wenn sie die beiden zusammen sehen könnte?
Bei dem Gedanken schießen mir die Tränen in die Augen. Hektisch wische ich mir mit dem Handrücken über die schweren Lider. Seit ihrem Tod, habe ich so viel geweint, dass ich gar nicht mehr weiß, wie es sich anfühlt es nicht mehr zu tun. Es läuft bei mir, wie bei einem aufgedrehten Wasserhahn. Manchmal tröpfelt es leicht und manchmal kommen ganze Sturzbäche heraus. Es gibt kaum eine Phase der totalen Trockenheit. Ich wünschte, jemand könnte meine Tränenkanäle einfach abstellen. Rechts auf, links zu. Oder wie bei diesen modernen Wasserhähnen, bei dem man die Hände unterhalten muss und das Wasser durch einen Sensor angeht. Das wäre genial. Hände weg, Tränen weg. Bald fang ich noch innerlich an zu schimmeln, bei der ganzen Nässe.
Meiner Mum war es immer sehr wichtig unseren Sommerurlaub in Michigan zu verbringen. Sie ist dort aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat an der Universität Jura studiert. Eines Tages lernte sie meinen Dad kennen, einen Typen aus London, der ebenfalls die juristische Fakultät besucht hatte. Er war Gastredner an ihrer Uni und gerade auf dem Weg der beste Anwalt der Stadt zu werden. Heute ist er Richter.
Mum hat von Liebe auf den ersten Blick gesprochen, anscheinend war es das nur für sie, denke ich missmutig und starre auf die Hand von meinem Dad, die gerade über Lisas Unterarm streicht.
Direkt nach dem Abschluss ihres Studiums, hat meine Mum alle Zelte in Michigan abgebrochen und ist zu meinem Dad nach England gezogen. Genauso war sie. Leidenschaftlich und mutig. Und wenn sie etwas tat, dann mit voller Hingabe.
Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Ich meine alles stehen und liegen lassen, um der Stimme meines Herzens zu folgen. Liebe hin, Liebe her, da müsste mein Auserwählter auf jeden Fall zu mir ziehen und nicht ich zu ihm.
Wenn ich mit der Schule fertig bin, werde ich auch Jura studieren. Der Einzige, der aus der Reihe tanzt, ist mein Bruder. Er studiert Biologie und will in die Forschung.
Bevor meine Mum Anwältin wurde, wollte sie Sängerin werden. Das ist auch der Grund, warum sie dieses Camp so sehr liebte, weil Musik dort eine große Rolle spielt. Seit ich ein Baby war, fahren wir für drei Wochen in den Sommerferien dorthin. Wir fliegen von England nach Michigan, weil sie es so wollte und jetzt ist sie das erste Mal nicht mehr dabei. Stattdessen sitzt Lisa im Auto, wie ein störender Fremdkörper und hat überhaupt keine Ahnung, was für ein besonderer Ort das ist.
Sie ist kein schlechter Mensch, ich mag sie sogar, wenn auch nur ein bisschen. Eigentlich ist sie immer nett zu mir und versucht mich aufzuheitern, aber ich lasse sie schon aus Prinzip nicht an mich heran. Der Grund ist eigentlich ganz einfach, denn mir geht das alles viel zu schnell, aber mich fragt ja keiner, vor allem nicht mein Dad. Er tut einfach so, als wäre alles wie immer, nur die Frau an seiner Seite ist halt eine andere. Ausgetauscht wie einen alten Mantel hat er sie. Er ist ein begnadeter Ignorant, wenn es um schwierige Situationen geht und er denkt immer, dass sich alles von allein regelt. Meistens fährt er gut mit seiner Taktik, aber nicht dieses Mal. Egal wie sehr er auch versucht die Vergangenheit zu verdrängen, er kann nicht so tun, als hätte sie nicht existiert, denn es gibt Tom und mich. Trotzig recke ich das Kinn vor und wackele mit dem Kopf im Takt zur Musik.
Wir biegen in einen Feldweg ein. Dicht an dicht reihen sich die Bäume aneinander mit Kronen in grünen Farbtönen, von dunkel-, mittel-, hell- bis gelbgrün. Die Farben verschmelzen ineinander und schimmern im Sonnenlicht.
Einhändig kurbelt mein Dad das Lenkrad in die richtige Richtung und bugsiert den Wagen mit einem gekonnten Schwung in die Parklücke. Er stellt den Motor ab und seufzt: „Da sind wir.“
Ich löse den Sicherheitsgurt, öffne die Tür und ein vertrauter Geruch weht mir entgegen. Der Duft von unvergessenen Sommern, Segelausflügen, Sandburgen bauen und vom durch die Wälder streifen. Der Geruch von ihr, überall.
Ich atme ihn tief in meine Lungen ein und es geht mir erstaunlich gut. Es ist wie Balsam für meine Seele. Einen Moment lang halte ich inne und lausche, wie der Wind durch die Blätter über mir streicht.
Tom schiebt sein Tablet in den Rucksack und steigt als Letzter aus dem Wagen.
Wir sind nicht die einzigen Neuankömmlinge, denn heute ist Bettenwechsel. Zahlreiche Ferien-Camp-Besucher steigen aus ihren Autos und strecken ihre Gliedmaßen, um sich nach der langen Fahrt aufzulockern. Neben uns parkt ein Kleinbus, aus dem drei Kinder herausspringen und Fangen spielen. Die Mutter hat ihre langen Haare, in einen Zopf zusammengeflochten, sie trägt ein T-Shirt mit einem Wolfskopf vorne auf der Brust, dazu Shorts und Sandalen. Eine blaue Krampfader schlängelt sich von ihrer rechten Kniekehle bis zu ihrem Oberschenkel hinauf und verschwindet unter dem Saum ihrer kurzen Hose. Fasziniert betrachte ich die Verästlungen der Ader.
Tom stellt meinen Koffer vor mir ab und schielt über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg.
„Ihr Gepäck, Mylady“, witzelt er und deutet eine Verbeugung an.
„Vielen Dank mein Herr“, erwidere ich und boxe ihm scherzhaft in die Seite.
Wir sind fast gleich groß, er überragt mich bloß um ein paar Zentimeter. Sein Haar ist in sich zusammengefallen und am Kopf plattgedrückt. Das karierte Hemd und die lange Stoffhose sind von der langen Fahrt zerknittert; ehrlich gesagt sieht er damit nicht wie jemand aus, der Urlaub macht, sondern eher als ob er auf eine Tagung will.
Er kramt ein Päckchen Kaugummi aus seinem Rucksack und bietet jedem eins an. Dad und Lisa lehnen ab, während ich dankbar zugreife. Den schalen Geschmack im Mund kann ich wirklich nicht gebrauchen.
Dad hievt Lisas und sein Gepäck aus dem Kofferraum und schließt danach die Klappe. Kaugummi kauend schultert Tom seinen Rucksack, nimmt seinen Koffer in die Hand und geht voran. Ich schaue auf seine schwarzen Schnürschuhe, die sich von mir entfernen und schüttele den Kopf. Das kann nicht sein Ernst sein! Selbst Dad trägt Poloshirt, Jeans und Turnschuhe. Mein Bruder würde es auch fertigbringen, den ganzen Urlaub im Anzug herumzulaufen, lieber overdressed als underdressed – das ist sein Motto. Als er sechs Jahre alt war, war sein Lieblingskleidungsstück eine Krawatte mit Gummiband, die er jeden Tag zu einem passenden Oberhemd getragen hat.
Jeder der Tom nicht kennt, würde annehmen, dass er ein totaler Spießer ist und zum Lachen in den Keller geht. Aber mein Bruder ist der lustigste Typ den ich kenne und hat immer einen flotten Spruch auf den Lippen.
Meine Mum hat stets darauf geachtet, dass er sich auch Mal legerer anzieht. Nun würde ich diesen Part übernehmen müssen, sonst trägt Tom womöglich noch ein Sakko zum Segeln und das kann ich unter keinen Umständen zulassen. Wenn wir gleich in unserer Hütte sind, werde ich ihn zwingen eine kurze Hose und ein T-Shirt anzuziehen, damit er wenigstens halbwegs nach Ferien aussieht. Hoffentlich hat er überhaupt solche Sachen eingepackt, schießt es mir durch den Kopf, sonst muss ich ihm auch noch neue Klamotten kaufen.
Dad und Lisa turteln miteinander. Sie legt den Arm um seine Schulter und dreht den Kopf zu ihm. Hat er gerade an ihrem Ohrläppchen geknabbert? Mir fällt die Kinnlade herunter. Ihr Geschäker und Geknutschte ist kaum zu ertragen.
Wer ist hier eigentlich der Teenager?
Mein Dad trägt das Gepäck. Über Lisas Schulter hängt lediglich ihre riesige Handtasche. Während ich noch überlege, was sie da wohl alles drin hat, sind die drei fast nicht mehr zu sehen.
Wartet bloß nicht auf mich, denke ich grimmig.
Hastig schnappe ich nach dem Griff meines Koffers, fahre ihn entnervt aus und sprinte hinterher. Schnell habe ich sie wieder eingeholt und wir gehen gemeinsam zur Rezeption ins Haupthaus.
Die Schlange ist lang und geht bereits bis vor die Tür, ungeduldig trete ich von einem Bein auf das andere. Um sich die Wartezeit zu vertreiben, spielt Tom ein Spiel auf seinem Handy. Eine Weile schaue ich ihm über die Schulter und sehe ihm dabei zu.
Kreischende Kinder toben um uns herum, ein Junge rammt mir seinen Ellenbogen mit voller Wucht in den Magen. Wütend halte ich mir die schmerzende Stelle. Er grinst mich kackfrech an und rennt einfach weiter. Niemand hat etwas davon mitbekommen. Tom ist im Spielwahn und Dad und Lisa sind anderweitig beschäftigt. Als der Schmerz langsam nachlässt, schaue ich augenrollend auf meine Armbanduhr. Mittlerweile warten wir schon über eine halbe Stunde und es sind noch drei Familien vor uns dran. Dad und Lisa begrapschen sich und ich bekomme gleich Brechreiz.
Nach einer gefühlten Ewigkeit sind wir endlich dran.
Hinter dem Tresen sitzt der Leiter des Camps, Mr Ellinger. Er ist glatzköpfig, untersetzt und auf seiner hohen Stirn glänzen ein Haufen Schweißperlen. Angestrengt schnauft er, als er sich vom Drehstuhl erhebt.
„Mein herzliches Beileid. Schön das ihr trotzdem gekommen seid … auch ohne Leila.“ Es ist komisch ihren Namen aus seinem Mund zu hören.
„Vielen Dank Mr Ellinger.“
Er gibt meinem Dad die Hand und er erwidert seinen Händedruck. Sein Blick wandert weiter zu Lisa, aber mein Dad macht keine Anstalten ihm zu sagen wer sie ist.
„Lisa Welland“, stellt sie sich schließlich selbst vor, wirft ihre blond gefärbten Haare von links nach rechts und bringt sich in Pose.
„Angenehm“, sagt Mr Ellinger und schüttelt ihre manikürte Hand. Ihre langen spitzen Fingernägel leuchten in einem grellen Rotton.
„Matthew und ich haben uns im Krankenhaus kennengelernt, als mein Mann ebenfalls an Krebs erkrankt ist.“
Interessiert reckt Mr Ellinger das Kinn vor. Ein Glück ist die Schlange hinter uns immer noch lang, sodass ihnen nicht viel Zeit zum Smalltalk bleibt.
„Können sie singen?“ Jetzt guckt Lisa irritiert und schaut meinen Dad stirnrunzelnd an.
„Ich treffe keinen Ton“, erwidert sie und klimpert mit ihren langen künstlichen Wimpern.
„Da kann man nichts machen“, murmelt Mr Ellinger und die Enttäuschung steht ihm sichtlich ins Gesicht geschrieben. Er gibt uns die Schlüssel für unsere Hütten, dazu einen Plan mit allen Freizeitaktivitäten und den Abendveranstaltungen. So wie jedes Jahr.
Nur dass jetzt Lisa dabei ist und nicht aufhört zu plappern. Am liebsten würde ich sie anschreien: „Halt die Klappe!“
Tue ich aber nicht, weil ich mich gut im Griff habe und mir stattdessen auf die Zunge beiße.
Wir verlassen das Haupthaus und gehen über die Kieswege zu dem Waldstück, indem unsere Hütten stehen. Erbarmungslos zerre ich meinen Koffer hinter mir her, als ob er der Verursacher dieser verzwickten Situation ist und ich ihn dafür bestrafen will.
Das Feriencamp liegt direkt am wunderschönen Wallon Lake. Ernest Hemingway hat hier die Sommer in seiner Kindheit verbracht und vielleicht die ein oder andere Geschichte geschrieben. Manchmal stelle ich mir vor, wie er in einer Hütte am Küchentisch saß, vor ihm eine alte Schreibmaschine, auf der er die Tasten über das Papier klappern ließ.
Die Menschen, die hier wohnen oder Ferien machen, lieben alle Arten von Wassersport. Jetski, Motorboot fahren, Wasserski, Segeln oder Angeln. Einige gehen im See sogar tauchen.
Und andere kommen wiederum nur ins Camp, um Vögel zu beobachten, weil es hier so viele verschiedene Arten gibt. Das war auch eine große Leidenschaft von meiner Mum.
Wir sind oft ganz früh aufgestanden und gemeinsam mit der Vogelkundegruppe losgezogen. Die Erinnerung daran ist zum Greifen nah und ich kann das Fernglas deutlich in ihren Händen sehen.
Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals. Ich kann kaum schlucken und gehe seufzend weiter.
„Mr Ellinger hat wohl Probleme mit den Maulwürfen“, stellt Dad fest und deutet auf die zahlreichen Hügel, die sich auf der Wiese aneinanderreihen. Ich bleibe kurz stehen und starre auf die Erdhaufen. Es sind wirklich ganz schön viele.
Wir lassen den See mit dem Strandabschnitt hinter uns und laufen in den Wald hinein, während die Sonne glitzernd durch die Äste hindurchscheint und das Vogelgezwitscher lauter wird. Zwei Rotkehlchen sitzen auf einem Ast und glotzen mich an. Ich halte ihrem Blick stand, so lange, bis sich die beiden Vögel von mir abwenden. Ha, den Glotz-Wettbewerb habe ich sowas von gewonnen.
Endlich erreichen wir den Abschnitt, wo die Holzhütten inmitten von Sträuchern, Büschen, Gräsern und moosbedeckten Steinen stehen. Nicht dicht an dicht, sondern im angemessenen Abstand voneinander, sodass jeder Gast seine eigene kleine Privatsphäre hat.
Mit Lisa und meinem Dad wollte ich auf gar keinen Fall eine Hütte teilen und die beiden sicherlich auch nicht mit mir, deshalb wohnen Tom und ich dieses Jahr zusammen.
Allerdings ist ihre Hütte gleich gegenüber und nur gute fünfzig Meter von unserer entfernt. Das ist zwar immer noch recht nah, aber tausendmal besser, als unter demselben Dach wohnen zu müssen.
Mein Dad trägt die Koffer die Stufen hinauf und dreht sich mit ihnen in der Hand noch einmal zu Tom und mir um.
„Wir treffen uns in zwei Stunden zum Abendessen!“, ruft er uns im Befehlston zu.
„Alles klar.“ Halbherzig hebe ich die Hand zum Gruß und lächele gequält. Mein Bruder nickt ihnen höflich zu.
„Bis später.“
Wir beobachten sie, bis sie schließlich in der Hütte verschwunden sind. „Findest du sie nicht auch irgendwie peinlich?“
Tom verzieht keine Miene und zuckt bloß mit den Achseln. „Ach, lass sie doch“, meint er nur, klettert die vier Stufen hinauf und stellt den Koffer ab. Aus seiner Hosentasche fischt er den Schlüssel, öffnet die Tür und geht hinein. Ich presse die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, ziehe meinen Koffer zum Eingang und folge ihm. Beinahe wäre ich über Toms Gepäck gestolpert, das er mitten im Eingangsbereich abgestellt hat.
Mit dem Fuß schiebe ich seinen Koffer ein Stück beiseite und quetsche mich daran vorbei, während Tom gerade dabei ist alle Fenster aufzureißen, damit frische Luft hereinkommen kann.
Die Einrichtung der Hütten ist sehr spartanisch, mit einem Bad, bestehend aus einem Klo, einem Miniwaschbecken und einer Dusche mit geblümtem Plastikvorhang. Im Wohnraum stehen zwei Einzelbetten mit kleinen Nachttischen und einem Klappsofa, auf dem Tom und ich geschlafen haben, als wir jünger waren. Unter dem Fenster steht ein Kiefernholztisch mit vier passenden Stühlen. Keine Bilder, kein Schnickschnack.
Wenn ich darüber nachdenke, was mein Dad im Jahr verdient, ist die Einrichtung alles andere als passend für ihn. Aber er macht sich nichts aus solchen Dingen. Das ist das Beste an ihm. Er trägt teure Anzüge und eine große schwere Armbanduhr, aber es bedeutet ihm nichts.
„Was Lisa wohl zu dem Interieur sagt? Da würde ich zu gern Mäuschen spielen“, grinst Tom und streicht mit der Hand über den dunklen Stoff seiner Hose.
„Hast du dich gerade über sie lustig gemacht?“, frage ich überrascht und sehe ihn perplex an. Er legt den Kopf schief, zwinkert mir zu und verschwindet im Bad.
Mein Bruder ist wirklich alles andere als durchschaubar. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und werfe mich bäuchlings auf eins der Betten. Nebenan rauscht die Klospülung, Tom wäscht sich die Hände und trocknet sie an einem der flauschigen Handtücher ab. Schwungvoll legt er seinen Koffer neben das andere Bett, öffnet den Reißverschluss und zieht ein schneeweißes Oberhemd heraus.
„Ernsthaft?“ Entsetzt rümpfe ich die Nase.
„Was denn?“, fragt er verdattert und faltet das Hemd auseinander.
„Äh, definitiv zu schick fürs Camp!“, schnaube ich und puste mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Er sieht mich an als ob ich nicht ganz dicht bin. „Wirklich?“
Was jetzt folgt, ist der aufwendigste Teil. Ich muss mit Engelszungen auf ihn einreden, bis er seine zerknitterte Stoffhose gegen eine Bermudas eintauscht.
Als ich ihn endlich so weit habe, zieht er auch noch ein T-Shirt dazu an. Das war einfacher als ich dachte. Zu einfach, denke ich und bekomme einen gehörigen Dämpfer, als er seine schwarzen Schnürschuhe samt dunkler Socken dazu kombinieren will. Fassungslos starre ich ihn an.
„Echt jetzt?“ Ich deute auf seine Schuhe und verziehe die Mundwinkel.
Schwer seufzend lässt er sich auf das Bett plumpsen und sieht mich an. „Ich weiß überhaupt nicht was du hast?“
„Das geht gar nicht!“, maßregele ich ihn und deute mit dem Zeigefinger auf seine Business Schuhe. Genervt kaut er auf seiner Unterlippe und ich merke, dass er keine Lust mehr hat, weiter mit mir darüber zu diskutieren. Gut so.
Widerwillig schlüpft er aus seinen Schnürschuhen und holt seine dunkelbraunen Segelschuhe aus dem Koffer.
„Wir tasten uns langsam an Turnschuhe ran“, kommentiere ich seinen Schuhtausch. Im Gegenzug schmeißt Tom mir seine schmutzige Socke mitten ins Gesicht.
„Igitt, das stinkt ja widerlich!“ Ich fische mir das miefige Ding von der Nase und schleudere sie zurück in seine Richtung. Leider ist mein Wurf nicht ganz so gut wie seiner und sie landet vor ihm auf den Boden. Nun zieht er die zweite Socke aus, zelebriert es regelrecht, schwenkt sie hin und her und zielt dann auf mich.
„Wehe!“, quieke ich. Er holt aus und schleudert sie auf mich. Hektisch rücke ich ans Bettende und glücklicherweise landet sie dieses Mal vor mir auf der Decke. Mit Daumen und Zeigefinger nehme ich sie angeekelt hoch und feuere sie zu der anderen Socke auf den Dielenfußboden.
„Bäh, jetzt riecht mein Bett, nach deinen Stinke-Käse-Füßen.“ Angewidert verziehe ich das Gesicht.
„Was würde ich nur ohne meine Modeberatung tun?“, sagt er flapsig und imitiert ein Model auf dem Laufsteg. Er geht den schmalen Gang hin und her, stemmt die Hände in die Hüften und macht mehrere flotte Drehungen. Ich pruste los und schüttele mich vor Lachen.
Nachdem ich Tom einen annehmbaren Urlaubs-Look verpasst habe, will er eine Runde durchs Camp drehen. Er setzt seine Sonnenbrille auf die Nase und zieht die Tür hinter sich zu.
Ohne ihn ist es still in der Hütte. So still, dass ich die Geräusche draußen viel mehr wahrnehme. Lautstark ziehen Leute in die umliegenden Hütten ein. Fenster werden aufgerissen. Türen schlagen auf und zu. Ein Kind fragt seine Mutter nach einem Ball und sie durchwühlt sämtliche Taschen.
„Hier ist er!“, ruft sie als sie ihn gefunden hat. Ihr Sohn bedankt sich bei ihr und läuft mit seinen Freunden an unserer Hütte vorbei zum Sportplatz. Getrampel. Gejohle. Ihre dumpfen Schritte verhallen irgendwo auf dem Waldboden.
Mit verschränkten Armen unter dem Kopf liege ich da und starre an die Decke. Das werden harte Wochen, in denen sie die Hauptrolle spielen wird. Eine emotionale Achterbahnfahrt durch meine Erinnerungen. Völlig durcheinander schnappe ich mir ein Kissen und drücke es mir aufs Gesicht. Der gestärkte Bezug riecht nach Waschmittel, frisch aber nicht aufdringlich, so wie Bettzeug riecht, wenn es draußen getrocknet wird. Nach Blumen, Wiesen und Sommer. Ich schiebe das Kissen wieder weg, schließe die Augen und nicke ein.
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„Komm schon Ruby. Aufwachen!“ Die Stimme klingt weit weg, wie unter einer Dunstglocke und ich komme nur langsam zu mir. Vorsichtig öffne ich die Augen und starre in Toms Gesicht.
„Hast du die ganze Zeit geschlafen?“, fragt er mich, während seine Hand auf meiner Schulter ruht.
„Mm“, murmele ich noch etwas schlaftrunken und streiche mir eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Es gibt Abendessen.“ Voller Vorfreude reibt er die Handflächen aneinander. Auch wenn Tom so verschlossen ist wie ein Marmeladenglas, weiß ich wie viel es ihm bedeutet hier zu sein. Seine braunen Augen fixieren mich.
„Du kommst doch mit?“ Nervös kaut er an seinem Daumennagel.
„Flehst du mich gerade an?“, piesacke ich meinen Bruder.
Angestrengt wartet er auf eine Antwort von mir.
„Auch wenn ich überhaupt keine Lust habe mit Dad und Lisa an einem Tisch zu sitzen, muss ich wohl oder übel etwas essen. Ich habe nämlich einen Bärenhunger.“
Wie auf Kommando fängt mein Magen laut an zu knurren.
„Das ist nicht zu überhören“, kommentiert Tom mein lautes Grummeln.
Ich rappele mich hoch und gehe ins Bad, wo ich mich frisch mache, mir rasch durch die Haare bürste und etwas Lipgloss auftrage. Danach ziehe ich mich in Windeseile um.
Fünf Minuten später stolpere ich hinter Tom die Treppe hinunter aus der Hütte und wir laufen über die Feldwege zum Haupthaus. Über meinem schwarzen Sommerkleid, trage ich eine Strickjacke, die ich eng um meine Taille schlinge. Bei jedem meiner Schritte klatschen meine Flip-Flops lautstark an die Fersen. Als wir schon auf halber Strecke sind, überlege ich kurz zurückzugehen, um meine Schuhe zu tauschen, aber wir sind schon spät dran, also lasse ich es sein und klatsche den Weg entlang, wie ein Schlagzeuger der den Takt vorgibt.
Klatsch. Klatsch. Klatsch.
Die Mücken und Fliegen surren in der Dämmerung und umkreisen unsere Köpfe. Der Kies knirscht unter unseren Sohlen. Obwohl es noch nicht ganz dunkel ist, ist schon ein schwacher Halbmond am Himmel zu sehen.
Der Speisesaal befindet sich direkt neben dem Haupthaus, in einem Anbau. Lisa und mein Dad stehen bereits vor der Tür und sind sichtlich genervt. Anscheinend warten sie schon länger auf uns.
„Auch schon da“, knurrt Dad. Er schaut demonstrativ auf seine Armbanduhr und tippt mit dem Zeigefinger auf das Glas über dem Ziffernblatt. Vorwurfsvoll sieht er mich an. Mit erhobenem Haupt stolziere ich an ihm vorbei, beziehungsweise klatsche ich an ihm vorbei und gehe in den Speisesaal hinein.
Im Camp gibt es kein Restaurant, es ist eher wie in einer Kantine. Energisch schnappe ich mir ein Tablett und gehe damit zur Essensausgabe. Heute gibt es vier Gerichte zur Auswahl. Ich entscheide mich für das Hühnchen mit Reis und gedünsteten Gemüse, mein Dad und Tom nehmen den Burger und Lisa die Suppe mit Baguette Brot.
Ihr Lieblingsplatz war immer draußen. Die große Holzterrasse ist rundherum bepflanzt mit hohen Ahornbäumen, die viel Schatten spenden, wenn es zu heiß ist.
Unbeirrt steuere ich auf einen der Tische am Rand zu und lasse mich auf einen der gusseisernen Stühle fallen. Mein Blick schweift über den See und langsam werde ich ruhiger. Dieser Ort hat etwas Besonderes an sich, er strahlt eine gewisse Ruhe aus. Für mich gibt es auf der ganzen Welt keinen schöneren Platz zum Essen, als auf dieser Terrasse.
Die anderen setzen sich zu mir. Stühle werden gerückt und Metall schabt über das Holz. Beim Essen unterhalten wir uns kaum. Lisa fragt mich, ob ich schon ausgepackt habe und ich beantworte ihre Frage mit einem knappen Nein, während ich weiter in meinem Hühnchen herumstochere. Sie redet über belanglosen Kram und ich bin gedanklich längst woanders. Dad hört ihr als einziger noch aufmerksam zu.
Mein Blick wandert zu den anderen Tischen und Familien. Unbesorgte Kinder, die sich Haufenweise Pommes auf die Teller schaufeln, Softgetränke trinken und zum Nachtisch Eis anschleppen. Sie haben alle dieses besondere Leuchten in den Augen. Das ich-bin-im-Urlaub-und-darf-alles Leuchten.
Als unser erstes gemeinsames Abendessen vorbei ist, bin ich heilfroh. Wir gehen nach draußen hinüber zur großen Wiese, auf der sich die Maulwurfshügel aneinanderreihen. Lisa gerät ins Straucheln und fällt beinahe über einen der Erdhügel. Dad hält sie gerade noch am Ellenbogen fest, sonst wäre sie gestürzt und ich hätte wahrscheinlich einen Lachanfall bekommen.
In der Mitte der Wiese treffen sich alle Neuankömmlinge und gruppieren sich in einem Halbkreis um Mr Ellinger. Die Kinder springen neugierig um ihn herum. Mit einem Mikrofon in der Hand wartet er, bis auch der letzte neue Gast eingetroffen ist und beginnt dann mit der Begrüßungszeremonie.
„Test. Test“, dröhnt er in das Mikrofon. Nach dem positiven Soundcheck, nickt er zufrieden.
„Herzlich willkommen im Camp Michigania.“
Die Menge applaudiert, einige pfeifen auf den Fingern. Tom und ich wechseln einen vielsagenden Blick miteinander.
„Dieses Jahr bieten wir euch wieder umfassende Freizeitaktivitäten und natürlich unsere legendären Abendveranstaltungen.“ Geklatsche und Gejubel.
„Nun stellt sich bitte jeder von euch vor, damit wir auch wissen, mit wem wir es diesen Sommer zu tun haben. Ihr kennt das ja.“ Er reicht das Mikrofon an einen Mann weiter, der direkt neben ihm steht.
„Mein Name ist Dave und ich komme mit meiner Frau und meinen Kindern aus Wyoming.“ Er deutet auf drei Kinder und auf die Frau mit der Krampfader.
„Wir sind schon zum vierten Mal hier. Was soll ich sagen? Wir lieben es!“
Applaus und ein paar Pfiffe. Daves Kinder zerren an seinem Unterarm, weil sie auch etwas ins Mikro sagen wollen. Hektisch reißt er den Arm hoch, maßregelt die beiden Jungs und das Mädchen und reicht das Mikrofon an den nächsten Gast weiter.
Nun beginnt der langatmige Teil. Jeder Gast nennt seinen Namen und erzählt, woher er kommt und wie oft er schon hier war. Das Mikro wandert durch zahlreiche Hände. Männer, Frauen und Kinder stellen sich vor oder werden vorgestellt.
Dann ist mein Dad an der Reihe und räuspert sich. „Mein Name ist Matthew und das sind meine Kinder, Ruby und Tom.“
Er zeigt auf uns. Wir nicken und ich hebe die Hand zum Gruß. „Und das ist Lisa.“
Er zieht sie an sich und umklammert sie wie ein Äffchen. Ich lege die Stirn in Falten und beobachte die beiden zähneknirschend.
„Wir kommen jedes Jahr, den weiten Weg aus England hierher nach Michigan und ich freue mich wie immer auf die Wochen, die vor uns liegen. Ausspannen und Nichtstun, erholen vom Alltagsstress. Ich kann das nirgendwo besser als hier im Camp Michigania.“ Seine Stimme ist tief, fest und angenehm. Er ist der Rednertyp, dem alle gern zuhören. Natürlich erntet er einen großen Applaus. Ich kämpfe gegen die Tränen an und balle die Hände zu Fäusten. Er hat meine Mum mit keinem Wort erwähnt.
Krampfhaft versuche ich meinen Kummer hinunterzuschlucken und schaue zu Tom, aber wie immer scheint ihn das nicht zu interessieren. Angeregt unterhält er sich mit einem attraktiven dunkelhaarigen Mädchen, mit zierlicher Figur, vollen Lippen und großen grünen Augen. Sie trägt ein gepunktetes knielanges Sommerkleid mit tiefem Ausschnitt, dazu schwarze Converse High Tops. Bei jeder ihrer Bewegungen schaukeln ihre silbernen Kreolen an ihren Ohrläppchen und sie streicht sich permanent ein paar Haarsträhnen ihrer dunklen Locken aus dem Gesicht. Ihre Zähne schimmern wie schneeweiße Perlen. Sie ist bildschön. Wenn ich ein Maler wäre, dann würde ich sie mit Sicherheit auf die Leinwand bringen.
Ich habe sie noch nie hier gesehen, also muss es ihre erste Saison im Camp sein. Wahrscheinlich ist sie eine der Aushilfen, denn sie hat sich nicht vorgestellt, wie die anderen Gäste.
Viele Studenten haben Ferienjobs im Camp, vor allem für das Unterhaltungsprogramm der Gäste. Es gibt Kurse zum Segeln, Reiten, Bogenschießen, Töpfern, Arbeiten mit Glas, und den Songschreibkurs. Und dann ist da noch der Hochseilgarten.
„Jeder der Lust hat, kann wieder an unserem Songschreibwettbewerb teilnehmen. In diesem Jahr bekommt ihr dafür tatkräftige Unterstützung von Emily Porter und ihrem Cousin, der leider nicht anwesend ist“, erklärt Mr Ellinger und blickt sich suchend um. Dann deutet er auf die schöne Emily, die bei meinem Bruder steht. Mr Ellinger fragt sie etwas, doch sie zuckt bloß mit den Schultern.
„Alle Gäste haben die Möglichkeit eigene Lieder zu komponieren, die sie am letzten Tag in der Abschlussshow vortragen können. Eine Jury bestehend aus Sam dem Besitzer des Musikladens aus dem Ort, dem Publikum und meiner Wenigkeit, wählen dann gemeinsam den Gewinner oder die Gewinnerin aus.“
Meine Mum hat es geliebt eigene Songs zu schreiben und zweimal gewonnen.
Mr Ellinger geht auf Emily zu, nimmt sie bei der Hand und lässt sie sich einmal um sich selbst drehen. Sie macht eine tiefe Verbeugung und schüttelt ihre lockige Mähne. Spätestens jetzt sind alle von ihr hingerissen. Dieses Jahr werden bestimmt viele versuchen einen eigenen Song zu schreiben, jedenfalls mehr als in den Jahren zuvor, als Mrs Miller noch dabei unterstützt hat. Eine Achtundsiebzigjährige alte Dame, die nicht mehr ganz so gut hörte. Ständig piepte ihr Hörgerät. Mrs Miller war mir zwar nie eine große Hilfe, aber sie gehörte zum Camp dazu und war schon seit unserem ersten Urlaub hier.
„Mrs Miller lässt alle herzlich grüßen, sie ist zu ihrem Sohn nach Florida gezogen und genießt dort ihren wohlverdienten Ruhestand. Wirklich schade, aber wir haben ja einen fabelhaften Ersatz für sie gefunden“, sagt Mr Ellinger und wünscht Mrs Miller auf diesem Weg alles Gute.
Emily Porter nickt in die Menge und geht wieder zurück zu meinem Bruder. Er lächelt breit und die beiden unterhalten sich wieder.
Mr Ellinger streicht sich mit der flachen Hand über den dicken Bauch. „Ich wünsche allen eine tolle Zeit und einen wunderschönen Urlaub.“
Ein letzter Applaus, dann schaltet er das Mikrofon mit einem lauten Pfeifton aus und die Gruppe auf dem Hügel löst sich langsam auf.
Er hat Mrs Miller einfach gegen ein jüngeres Modell ausgetauscht, schießt es mir durch den Kopf. Ich will das Mrs Miller den Songschreibkurs leitet, so wie jedes Jahr. Am liebsten hätte ich mit dem Fuß aufgestampft, wie ein bockiges Kind. Alles verändert sich, nichts bleibt wie es ist. Genervt schürze ich die Lippen. Eigentlich kann es mir egal sein, denn ich werde sowieso an keinem der Kurse teilnehmen.