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Geleitwort von Professor Dr. Sven Bölte
Nach »Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing«, »… bis ich gelernt habe, einen Kussmund zu formen« und »Colines Welt hat tausend Rätsel« erscheint mit dem vorliegenden Werk ein weiteres wertvolles und anschauliches Buch von Nicole Schuster zum Phänomen Autismus. Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen: Eine Innen- und Außenansicht ist ein gleichermaßen engagierter wie praktischer Leitfaden für hilfreichen Umgang mit autistischen Menschen im schulischen Milieu. Erreichen möchte das Buch sowohl eine bessere und breitere Unterstützung der Entwicklung autistischer Menschen als auch ein harmonischeres Klassenleben für alle Beteiligten insgesamt. Auch wenn der Fokus des Buches auf dem schulischen Bereich liegt und insbesondere Lehrkräfte ansprechen möchte, können viele Inhalte einen deutlich weiteren Geltungsbereich beanspruchen, sodass ich die Lektüre auch Angehörigen, Experten und dem allgemein interessierten Leser ausdrücklich ans Herz legen kann.
Autismus kann mit schwerwiegenden Problemen der Alltagsbewältigung in allen Lebensbereichen einhergehen. Schule ist ein besonders wegweisender Lebensbereich und für Kinder oft der erste Schritt in den Ernst des Lebens. Leider ist für nicht wenige autistische Menschen der Schulbesuch eine Qual. Unter günstigen Bedingungen kann Schule aber auch als bereichernd erlebt werden und zur langfristig positiven Persönlichkeitsentwicklung beitragen. Auf Seiten der Lehrkräfte kommt es ebenfalls vor, dass autistische Schüler sowohl als belastend für den Unterricht erlebt als auch ihre Andersartigkeit und damit auch verbundenen Stärken geschätzt werden. Ich denke, die Verbreitung und Wirkung des vorliegenden Werkes kann wesentlich dazu beitragen, dass Schule für autistische Schüler ein positiv besetzter Ort wird und Lehrer ihren pädagogischen Auftrag mit autistischen Kindern gerne und effektiv durchführen.
Tobias ist der Protagonist des Buches, ein prototypischer autistischer Junge mit entsprechenden Schulproblemen. Er hat soziale Schwierigkeiten und solche der Sprache und Kommunikation, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Motorik. Er spielt nicht im eigentlichen Sinn, hat eingeschränkte Interessen, stereotypes Verhalten, ist unruhig und reagiert des Öfteren aggressiv, laut und unbeherrscht. Tobias’ Verhalten stellt besondere Anforderungen an die Lehrkräfte. Aber was wissen Lehrer über Autismus? Was soll man tun, wenn er unkonzentriert, unmotiviert oder desinteressiert wirkt, den Unterricht und andere Kinder stört, aber auch gehänselt und gemobbt wird? Welche Art von Schule soll Tobias überhaupt besuchen: Regelschule, Förderschule? Macht ein Schulhelfer Sinn? Was macht autistischen Menschen in der Schule Kummer? Welche konkreten schulischen Momente bergen Zündstoff? Welche Schulfächer liegen Autisten, welche nicht? Was tun bei zusätzlicher Depression und Ängsten? Diese und viele andere Inhalte deckt das Buch ab und gibt vergleichbar einfach umsetzbare, effiziente Tipps: Sitzordnung gut verwalten, Pausen sinnvoll gestalten, Veränderungen transparent einführen, Klassenausflüge bewusst organisieren, Regeln stringent vermitteln, sozial schrittweise eingliedern, Aufforderungen verständlich setzen, Verständnisschwierigkeiten vermeiden, Klassengröße überdenken, visuelles Denken berücksichtigen, für Zeitmanagement kompensieren u. v. m.
Vieles am vorliegenden Buch überzeugt mich persönlich und als langjährig im Bereich Autismus tätigen Forscher und Kliniker. Zum Beispiel die Sachkenntnis und Bescheidenheit der Autorin. Ihre sachliche, nüchterne, unparteiische Art zu beschreiben, was autistische Menschen und sie Umgebende zum gegenseitigen Gewinn anstreben sollten. Ihre Fähigkeit zu »übersetzen«, was für autistische und nicht-autistische Menschen das jeweilige Handeln der anderen bedeutet, sodass es transparent und verstehbar wird. Ganz besonders aber das Prinzip »Vertrauensvorschuss«, welches Frau Schuster ihren Ausführungen zugrunde legt. Ihre eigene Biografie hat sie gelehrt, dass es für autistische Menschen immer Sinn macht, zu versuchen, sich nach ihren besten Möglichkeiten in die Gesellschaft zu integrieren, da sie dort letztlich irgendwann funktionieren müssen. Dafür bedarf es Mut und Anstrengungen autistischer Menschen und des Vertrauens anderer. Eltern und Bezugspersonen sollten nicht aus Sorge um jeden Preis versuchen, autistische Menschen in einem goldenen Käfig zu halten und bedingungslos zu schützen. Auch Mitleid der Umwelt ist fehl am Platz, dagegen sind Verständnis und Unterstützung zielführend. Ich schätze diese Grundhaltung des Buches im Sinne des Förderns und Forderns, besonders, weil sie von einer Person geäußert wird, welche die mit autistischem Verhalten einhergehenden Probleme exemplarisch gemeistert hat.
Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen: Eine Innen- und Außenansicht ist ein einprägsames Buch von hohem Aufforderungscharakter. Ich kann daher abschließend nur viele Leser und Auflagen wünschen.
Prof. Dr. Sven BölteVorsitzender der WissenschaftlichenGesellschaft Autismus-Spektrum | Mannheim, im August 2009 |
Geleitwort von Professor Dr. Rüdiger Kißgen
Menschen mit einer Störung des autistischen Spektrums sind nur dann miteinander vergleichbar, wenn man die Klassifikationskriterien der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation für die Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zugrunde legt. Für die dort u. a. vorfindbaren Diagnosen des Frühkindlichen Autismus und des Asperger-Syndroms gelten zum einen bestimmte Besonderheiten. Zum anderen aber verbindet Menschen mit diesen Diagnosen die Beeinträchtigung in sozialen Interaktionen, ihre Beeinträchtigung in Kommunikationsmustern sowie ein mehr oder weniger stark eingeschränktes, zuweilen stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten. Eine solch kategoriale Betrachtung autistischer Menschen ist aber insofern nicht unproblematisch, als sich autistische Menschen in der Realität natürlich erheblich voneinander unterscheiden. Autismus ist ein heterogenes, hoch individuelles Phänomen, bei dem sich – abgesehen von dem gesicherten Wissen um die genetische Verursachung des Syndroms – wenig verallgemeinern lässt. So gibt es nicht den einen autismusspezifischen Therapieansatz, eine immer wieder vorfindbare spezifische Symptomatik, den klassischen Entwicklungsweg eines autistischen Menschen, die typische Familienkonstellation oder ein vergleichbares Intelligenzprofil. All dies muss bei der Begegnung mit einem autistischen Menschen individuell erschlossen werden. Dies trifft auch zu, wenn ein autistisches Kind in die Schule kommt.
Die Ausgangslage für die Beschulung autistischer Kinder ist in Deutschland sehr heterogen. Dies liegt zum einen daran, dass – anders als beispielsweise im angloamerikanischen Sprachraum – kein Angebot an Spezialschulen besteht. Autistische Kinder und Jugendliche besuchen in Deutschland die bestehenden Regel- und Förderschulen. Diese unterliegen aufgrund der föderalistischen Strukturen bundeslandspezifischen Rahmenbedingungen, die mit einem gewissen Spielraum in den verschiedenen Regierungsbezirken umgesetzt werden. Die Schulen selbst entwickeln auf dieser Basis für die einzelnen Unterrichtsfächer ihre didaktischen Konzepte, die dann wiederum von den Lehrpersonen in den Klassen individuell interpretiert und angewendet werden. Das universitär verankerte Lehramtsstudium in Deutschland sieht in den jeweiligen Curricula für die unterschiedlichen Förderschultypen keine Lehrveranstaltungen zum Thema Autismus verpflichtend vor. Dies bedeutet für die Schullaufbahn eines autistischen Kindes, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, immer wieder auf Lehrpersonen zu treffen, die über die Komplexität autistischer Spektrumsstörungen und die damit verbundenen individuellen Erfordernisse nicht informiert sind. Berücksichtigt man, dass die Institution Schule die einzige Institution ist, die autistische Kinder und Jugendliche durchlaufen müssen, dann werden unter den aktuellen Voraussetzungen jahrelang Chancen für eine kompetente professionelle Begleitung dieser Kinder und Jugendlichen vertan. Selbst wenn in einem Bundesland oder in einer Kommune die integrative Beschulung autistischer Kinder propagiert wird: Was nutzt dies, wenn Lehrpersonen oder Schulbegleitungen nicht angemessen über das Störungsbild informiert sind? Natürlich kann ein autistisches Kind mit etwas Glück auf eine Lehrperson treffen, die sich während ihres Studiums mit dem Thema Autismus beschäftigt hat und möglicherweise über Praxiserfahrungen mit betroffenen Kindern und ihren Familien verfügt. Dies aber ist nicht die Regel und rein zufällig bedingt. Wünschenswert wäre es, Informationen zu den Störungen des autistischen Spektrums in die Lehramtsstudiengänge verpflichtend aufzunehmen. Bereits bei nicht-autistischen Kindern kommt es hinsichtlich der schulischen Leistungen darauf an, ein ausgewogenes Maß zwischen einer Unter- und Überforderung zu finden, welches sich motivierend auf die Lernbereitschaft der Kinder auswirkt. Dies ist bei autistischen Kindern nicht anders. Anders als bei nicht-autistischen Kindern sind aber hier die besonderen störungsbedingten Probleme der Kinder sowie die resultierenden besonderen Anforderungen an die schulischen Rahmenbedingungen und die Lehrpersonen zusätzlich zu berücksichtigen.
Nicole Schuster setzt sich in ihrem Buch mit diesem Themenspektrum intensiv auseinander. Die Besonderheit in der Herangehensweise besteht darin, dass die Autorin aufgrund ihrer eigenen Geschichte mit der Diagnose des Asperger-Syndroms in der Lage ist, dem Leser eine Binnenperspektive über das Erleben schulischer Situationen durch autistische Kinder zu eröffnen. Dieser neue Blickwinkel auf die Institution Schule ermöglicht praxisrelevante Einsichten für all jene, die sich für den Lebensweg autistischer Menschen interessieren. Es ist dem Buch zu wünschen, dass es nicht nur im schulischen Kontext eine breite Resonanz findet.
Prof. Dr. Rüdiger KißgenUniversität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät | Köln, im September 2009 |