Читать книгу Die Efeufrau - Nieke V. Grafenberg - Страница 4

EINS

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„Mama! Mama! Wach endlich auf!“

Ninas blasses Kindergesicht schemenhaft über dem eigenen, Eisfinger krallen sich in Evas bloßen Arm, vor Schreck wird ihr schwindlig. Die ganze Nacht der Kampf mit der Schlaflosigkeit, ruhelos von einer Seite auf die andere, und nun war der erste selige Tiefschlaf aufs Grausamste unterbrochen. Ninas brennender Atem auf ihrer Stirn, der eigentümlich hysterische Tonfall - alarmiert setzte Eva sich im Bett auf. Während die Füße zu Eiszapfen wurden, lauschte sie benommen den Worten ihrer jüngsten Tochter:

„Wie kannst du nur so fest schlafen - steh auf! Diesmal ist bestimmt was passiert, so lange sind wir noch nie ohne Nachricht geblieben!“

Knochige Arme hielten den knabenhaften Körper umklammert, Ninas Mund und Augen bettelten:

„Ruf bei der Polizei an - jetzt gleich! Oder bei der Feuerwehr!“

Und dann, von einer Sekunde auf die andere, schien alle Energie wie weggeblasen, sie sank auf die Bettkante ihrer Mutter und vergrub den Kopf in den Händen.

„Oh Mann, ich weiß es doch auch nicht!“

Der überwältigende Kummer ihrer Tochter, quälender noch als der eigene, Eva war nahe daran, die Nerven zu verlieren. Dabei durfte sie weder die Nerven verlieren noch die Übersicht! Nach Tagen der Antriebsarmut und des Zauderns fühlte sie sich unerwartet stark. Energisch schleuderte sie die Zudecke beiseite, gab der verblüfften Nina einen Schubs und schwang ihre Beine aus dem Bett. Es war schwierig und einfach zugleich: Angriff war die beste Verteidigung! Sie musste nur das Richtige tun, sie musste handeln.

Die Nummer der Polizei, früher hatte sie die Nummer Grundschulkindern förmlich eingetrichtert, war sie eins-eins-null oder eins-eins-zwei? Die vorderen Seiten des regionalen Telefonbuchs, Eva leckte die Fingerkuppe. Da - eins-eins-null - Notruf! Blaulicht und Hubschrauber ... um Gottes Willen! Nie im Leben war sie ein Notfall! Konfus blätterte sie sich durch die Seiten. „L-M-N-O-P“ versuchte sie sich zu konzentrieren, viel zu lange brauchten die hektischen Finger, bis sie an Ort und Stelle waren. Endlich, Polizeidirektion, die Vorwahl, danach die sieben-sechs-eins-null. Mit Sicherheit die Zentrale, man würde sie durchstellen, Eva presste den Hörer ans Ohr.

„Polizeidirektion, Löffler.“ Eine helle männliche Stimme.

„Brandner hier, guten Morgen.“

Die eigene Stimme wie Schmirgelpapier! Eva sah Nina an und räusperte sich.

„Eine Vermisstenmeldung ... es geht um eine Vermisstenmeldung ... ich weiß nicht, ob ...“

„Einen Moment, ich leite Sie weiter.“

Das Klopfen in der Leitung, ging etwa der Apparat kaputt? Jemand nuschelte Unverständliches, Eva sprudelte ins Blaue:

„Hier Brandner, guten Morgen, ich will melden ... ich meine ... mein Mann ist weg!“

Die Worte waren heraus. Was sollte sie tun? Nina lauschte. Den dunklen Kopf gesenkt, hockte sie auf der schmalen, gepolsterten Sitzbank neben dem Telefon. Bucheckern gleich stachen ihre Fingerknöchel aus den geballten Fäusten.

„Sag ihnen gleich, es ist was passiert!“, zischte sie und Eva drehte ihr den Rücken zu. Alle Angriffslust war verflogen, gern hätte sie aufgelegt, Ninas Augen aber nagelten sie fest. Im selben Moment erkannte sie dieselbe jugendliche Stimme von vorher.

„Tut mir leid“, beschied sie in munterem Tonfall, „Sie sind wieder bei mir in der Zentrale gelandet. Der zuständige Kollege ist heute erst ab vierzehn Uhr zu erreichen, ich notiere mir Ihre Telefonnummer ... und die Adresse.“

Schritt für Schritt wiederholte er Evas Angaben, meinte dann:

„Sie müssen auf alle Fälle persönlich erscheinen. Und falls etwas dazwischen kommen sollte, wir rufen Sie an.“

Aus den Augenwinkeln fing Eva eine harsche Geste ihrer Tochter ein. Ein kurzer Blick in gebieterisch aufgerissene Augen und Eva setzte zu einer Erklärung an.

„Einen winzigen Augenblick noch!“ Ihre Worte überstürzten sich.

„Wir sind jetzt acht Tage ohne Nachricht. Mein Mann wandert, und ich fürchte ... ich meine ... meine Tochter und ich, wir haben Angst, dass vielleicht ...“

Freundlich aber bestimmt wurde sie unterbrochen.

„Heute Nachmittag, Frau Brandner. Der Kollege wird alles genauestens aufnehmen wollen. Er weiß dann Bescheid, wenn Sie kommen.“

Ein Klicken. Die Leitung war tot.

Genauestens. Er weiß Bescheid. Ätzend wie Säure, die an sich unverfänglichen Wörter. Eva zwang sich zum Durchatmen, übertrieben sorgfältig legte sie den Hörer auf. Sie blickte Nina hinterher, die nach abfälligem Blick auf die Mutter kommentarlos die Treppe hinauf in ihr Zimmer verschwand. Nun gut, von Seiten der Polizei bislang nicht der leiseste Vorwurf wegen der verstrichenen Zeit, für den Moment fühlte Eva sich erleichtert. Im Geiste zog sie den dunkelblauen Leinenanzug an. Die Hose saß im Bund zu locker, acht Tage Appetitlosigkeit, sie würde den Gürtel enger schnallen müssen, damit er saß. Und bloß kein düsteres T-Shirt, nahm sie sich vor, noch trug sie keine Trauer.

Nur noch wenige Stunden, bis sie auf dem Revier erscheinen musste. Bange Stunden voller Ungewissheit, plötzliche Atemnot und eine unbezwingbare innere Unruhe trieben Eva an die Luft. Im Vorgarten riss sie ein paar überhängende Efeuranken von Hauswand und Gartenmauer, warf sie nach kurzem Zögern unter den Fliederbaum zu dem anderen Grünzeug. Nahezu hüfthoch war der Haufen, Ernst hatte versäumt, ihn abzufahren, jetzt musste sie sich kümmern.

Evas Augen wanderten Richtung Giebel. Efeu wohin man sah, nach zunächst trügerisch zaghaftem Wachstum hatte er die Dachfenster längst erreicht, stürmte rasch und unaufhaltsam himmelwärts. Der dichte, glänzend grüne Blättermantel an der weiß getünchten Fassade - im Grunde kam er ihr ja entgegen. Im Winter warm, im Sommer kühl hieß es, aber am Rahmenholz durfte er sich nicht festkrallen, das machte ihr Angst. Seit Tagen quälte sie der immer gleiche Traum. Sie träumte, der Efeu geriete außer Kontrolle, neige sich ihr entgegen, strecke lockend die biegsamen Arme aus, um sie einzuhüllen in einen Kokon aus klebrigem Blattwerk. Im Traum wusste sie, dass sie die Wiege niemals lebend verlassen würde. Sowie sie anfing, sich in der Umhüllung aufzulösen, erwachte sie keuchend und um sich schlagend, fand im Dunkeln den Lichtschalter nicht, denn sie schlief im ungewohnten Gästezimmer.

Der Großteil der jungen Efeuranken ließ sich ruckzuck entfernen, Sorgen bereiteten ihr solche Triebe, die man von den Fenstern im oberen Stockwerk nur unter riskanten Verrenkungen erreichen konnte. Zielstrebig näherten sie sich dem Dachfirst, würden in nicht allzu ferner Zeit auf den hellroten Ziegeln einen erdrückenden Teppich auslegen. An der Ostseite des Hauses, drei Meter vom Hühnerstall des Nachbarn, war der grüne Pelz besonders dicht. An Tagen wie diesem roch der Auslauf mehr als nur streng, aber gut, selbst Schuld,

sie hatten das Fleckchen ja ausgesucht ... und schließlich lebte man auf dem Lande.

Zwischen Lorbeerbüschen und Rosenstöcken lief Eva am Haus entlang in den hinteren Teil ihres Gartens. Was, fragte sie sich, würde am heutigen Tag und danach auf sie zukommen? Worauf musste sie sich unter allen Umständen einstellen? Unvermittelt machte sie Halt, argwöhnisch sog sie die laue Luft ein. Trotz größter Sorgfalt bei der Abdichtung ihrer hauseigenen Klärgrube, in letzter Zeit roch sie fast Übel erregender als der Hühnerstall nebenan. Erst Mitte August, es war immer noch warm, auch wenn erste Anzeichen eines verfrühten Altweibersommers unübersehbar waren. Wie Schiffchen schaukelten bräunliche Erlenblätter auf dem Teich. Evas Blick blieb am Efeuhügel zwischen den beiden im Erdreich versenkten Klärtöpfen hängen. Durchsponnen von silbrigen Fäden war er mit winzigen Perlen besetzt, wenn wie jetzt, nach einem kurzen Schauer, die blitzblanke Sonne sich zeigte.

Alles betonieren und grün anstreichen - Ernst hatte sich nie allzu viel aus dem Garten gemacht. Und doch war es schade, dass er das stimmungsvolle Bild nicht bewundern konnte. Gespinstfetzen zart wie ein Schleier schwebten über dem satten, glänzenden Grün.

Für einen Moment vergaß Eva, wo sie sich gerade befand. Brautschleier - Schleier der Erinnerung. Der Deckel hob sich, lang eingesperrte Seidenfetzen entwichen der Hutschachtel auf dem Speicher, segelten durch das Dachfenster an Evas staunenden Augen vorbei, um sich nach einigem Auf und Ab den fliehenden Wolken zuzugesellen. Eva sah sich am Arm von Ernst und lächelte in seliger Erinnerung. Ohne wenn und aber, ausschließlich SIE hatte er erwählt, es war die Ausschließlichkeit gewesen, die sie gefangen genommen hatte.

„Was außer: Aber du bist doch viel zu jung für mich würdest du sagen, wenn ich um deine Hand anhielte?“

Ihren Einwand wegen des Altersunterschieds hatte Ernst voraus gesehen, geschickt hatte er ihm vorgegriffen und damit zunichte gemacht. Von dem Moment an hatte sie sich aufgehoben gefühlt, ja glücklich, ihre vier Jahre mehr spielten keine Rolle mehr. Sie war und blieb die Erwählte, das Gestirn, um das sein ganzes Denken und Trachten kreiste! Ihm durfte sie vertrauen! Dieses eine Mal durfte sie sich fallen lassen, geborgen fühlen ... bis dass der Tod euch scheidet.

Ernst und sie vor dem Altar, ein Sonnenstrahl durchbricht das Kirchenfenster, der heilige Franz streut Tupfer auf ihr Brautkleid, bunt wie die Blütenblätter in ihrem späteren Garten.

Alles so lange her, aber Mutters Prophezeiung eines göttlichen Altweibersommertages war wirklich wahr geworden, der Herrgott hatte ihnen einen hinreißenden Hochzeitstag beschert.

So unberechenbar wie es Besitz von ihr genommen hatte, verschwand das angenehme Gefühl der Leichtigkeit. Evas Hände wurden kalt, sie streckte sie aus nach den wärmenden Sonnenstrahlen.

Friedlicher Altweibersommer ... für Eva ein doppelbödiger, wenn nicht gar heuchlerischer Begriff, seit sie die Hürde genommen hatte und auf die Sechzig zuging. Mit Riesensprüngen, wie sie fand, und leider Gottes keineswegs friedlich. Nie zuvor hatte sie sich so ausgelaugt gefühlt, so alt, so verbraucht. Das Wort Alter in Verbindung mit Weib - wog nicht schon jedes für sich schwer genug? Und der Sommer? Auf ihn folgte gleich die Vergänglichkeit.

Zu Evas Füßen scharten sich die Hühner am Maschendraht. Sie liebten es, wenn sie sie mit den Brennnesseln fütterte, die entlang der niedrigen Stallmauer wucherten. Heute jedoch ignorierte sie ihr begehrliches Rucksen. Mechanisch bückte sie sich und zerrte an den Stängeln der verhassten Klette im Eck mit ihren längst verblühten Körbchen. Die Hühner verweigerten standhaft die filzigen Blätter und kein Vertilger half. Das kindshoch ragende Unkraut wollte den einmal eroberten Standort nicht lassen.

Entnervt pflückte Eva ein paar Klettkugeln von Ärmel und Schulter ihrer schäbigen Strickjacke. Wieder hob sie die Nase. Nun ja, es konnte ebenso gut die Müllkippe sein. Die lag nur ein paar Kilometer entfernt, und je nach Windrichtung schickte sie schon mal Gestank herüber. Ein Freund, der in der Nähe des Müllplatzes ein unverkäufliches Grundstück besaß, behauptete gern:

„Heute riecht es wieder nach Verwesung.“

Das Wimmern der Balkontür riss Eva aus ihren Gedanken.

„Mama, es piept schon ganz lange!“

Ninas Kopf über dem Efeu besetzten Balkonpfeiler - es war Zeit, nach dem Trockner zu sehen.

Eva hörte ein Auto, die Haustür klappte zu. Sekunden später, federleicht, flog ihre Jüngste um die Hausecke. Dunkle Strähnen wie Drahtwolle umwehten das kleine Gesicht, der linke Daumen wies auf den Geigenkasten am Riemen über der Schulter.

„Pünktlich halb drei?“ Ihre dichten Brauen hoben sich.

Eva nickte. „Warte mal kurz ...“, hob sie an. Dann wurde ihr Blick starr, sie führte die rechte Hand an die Lippen. Nie war der Kopf leerer gewesen, gerade war es noch da, was hatte sie dem Kind nur mitteilen wollen?

Nina, schon auf dem Sprung, trat ungeduldig auf der Stelle.

„Ja, nichts - weiß nicht mehr“, sagte Eva und krauste die Stirn. „Lass nur ... ich glaube, es war nicht so wichtig.“

Das Letzte hörte Nina schon nicht mehr, sie war fort zur Musikschule. Wollte dort nach der Geigenstunde abgeholt werden, wollte unbedingt mit aufs Revier. Für den Abend dann war sie verabredet, sie hatte ihren ersten Freund.

Erster Freund.

Lebenslange, lebendige Erinnerung.

Bei ihr jedenfalls.

Atemlose Verliebtheit, Herzklopfen. Überschwappende, hilflose Zärtlichkeit.

Ahnungslosigkeit, Angst, Geheimniskrämerei.

Und - Eva presste die Lippen zusammen - am Ende die schmerzliche Zurückweisung.

Ihr Blick fiel auf die flache Armbanduhr am Handgelenk, Last-Minute-Geschenk ihres Mannes zum letzten Hochzeitstag. Nina hatte den Vater erinnern müssen, ihr aufgeregtes Gewisper und der gemeinsame eilige Aufbruch hatten Eva den Plan schon im Vorfeld verraten. Das Ziffernblatt des stählernen Gehäuses war schwarz, gevierteilt durch silberne Striche. Silberne Fliegenschisse statt Zahlen, drei zwirndünne silberne Uhrzeiger, einer unterschied sich nur unwesentlich vom anderen. Eva führte die Uhr näher zum Gesicht. Der Sekundenzeiger sprang ruckend von einem Augenblick zum nächsten, ein deutlicher Wink, dass sie sich rüsten musste für ihren schweren Gang.

Unter dem ausladenden Balkon lockerte sie die Schuhbändel und räumte die Geräte auf. Der Garten war schön. Jede Pflanze selbst gesetzt und jetzt, nach sieben Jahren, hatte sie ihr Ziel erreicht, er war von allen Seiten zugewachsen.

Die schmal wachsende Thujareihe vor der östlichen Einzäunung erinnerte an strenge Friedhofseinfassungen. Doch bei Eva im Garten war jeder Eindruck von Strenge durch Blumenbeete gebannt, die vor Üppigkeit nur so strotzten.

Als hohe Stauden vor dem ruhigen Heckengrund reckten sich starrköpfige Blaudisteln im Wettstreit mit den porzellanenen Blütenständen der Japanischen Anemone. Ein immenser tintenblauer Rittersporn kam jedes Jahr wieder verspätet zur Blüte. Sein umfangreicher Wurzelstock war Stammsitz einer Wühlmausfamilie, die jedem Versuch zur Vertreibung hartnäckig widerstand. Davor zwei altehrwürdige englische Rosenstöcke, rot geränderter Perlmutterglanz inmitten unversehrten Blattgrüns. Hinter verdorrtem Eisenhut verkroch sich verschämt ein Asternbusch, bis er mit seinem herbstlichen Feuerwerk von tausend violetten Sternen aufwarten konnte.

Dort, wo das Beet einen Knick machte, am hellsten und wärmsten Fleck, verwob die Katzenminze ihre grau-violetten Blütenzweige mit denen der nimmermüden Polyantha-Rosen. Lila Storchenschnabel waberte zu ihren Füßen, kreiste zwei prahlerische Phloxinseln ein, verschleierte in seinem Lauf die schwächelnden Reste der Iris. Dunkelrote Astilbenkerzen flammten aus braun gerändertem Blattwerk, sollten sich über den ersten Schneefall hinaus als standfest erweisen. Aus diesem Grunde liebte Eva sie besonders.

Unweit des Hühnerstalls, im tiefen Schatten eines Haselstrauchs, mühten sich sonnenhungrige Türkenbund-Lilien zwischen pflegeleichtem Farn und wollten nicht recht gedeihen. Eine Sorte kleinwüchsiger Frauenmantel, die gefingerten Blätter silbrig gerahmt, hatte sich hingegen fast unbemerkt ausgebreitet. Seine volle Schönheit enthüllte sich erst bei Regen oder Tau, dann perlten die Tropfen wie Diamanten auf dem Blattgrund.

Eva entledigte sich der Gartenjacke und hängte sie an den Nagel gleich hinter der Kellereingangstür. Ihr letzter prüfender Blick galt der Blütenhecke auf der Gegenseite. Zusammen mit einem gewaltigen Nussbaum verwehrte sie jegliche Einsicht. Ein abgeschiedenes, ja verwunschenes Fleckchen zu schaffen, war von Anfang an ihr Bestreben gewesen. Es war schön, auch sonntags im Garten zu wühlen, in alten Klamotten und himmlischer Ruhe.

Sonntagsruhe eben. Sie hatte sich immer gern unbeobachtet gefühlt. Aber heute war nicht Sonntag.

Die Kopfhaut juckte. Eva kratzte sich und stieß auf eine strohige Klette in ihrem verfilzten Haarnest. Sie zupfte und zerrte daran, hielt dann aber inne. Das entfernte Läuten eines Telefons, die Hühnerstallnachbarn waren verreist, galt der Anruf etwa ihr? Sie stieß die angelehnte Kellertür ein Stück weit auf und lauschte beklommen. Ja, kein Zweifel war möglich, es war ihr Apparat, der so anhaltend lärmte!

Fast verlor sie die ausgetretenen Schuhe, so eilig stolperte Eva die Kellertreppe empor. Direkt vor dem Telefon blieb sie wie angewurzelt stehen. Wieso eigentlich hetzte sie so? Es würde Mia sein, und nur weil die Freundin anrief, brauchte ihr Herz doch nicht so zu hämmern! Aber die Sache mit Ernst, Mia war nicht so leicht abzuspeisen. Sie ging den Dingen zu gern auf den Grund, würde bohren und Fragen stellen, die Eva vorerst nicht beantworten konnte - und auch nicht wollte, genau genommen. Sollte das Telefon weiter klingeln, sie brauchte nicht abzuheben, wer wollte sie zwingen!

Doch das schrille Läuten hörte nicht auf, schien sie festzunageln. Kam es ihr nur so vor oder nahm es mit jedem Ton an Stärke zu?

Einbildung, reine Nervensache, Eva wollte zurück in den Garten, aber schon beim ersten Schritt kam ihr Nina in den Sinn. Was, wenn die Geigenstunde ins Wasser fiel?

Ein Anruf der Polizei war ebenfalls nicht auszuschließen ... eine Terminänderung? Aber nein, das konnte sie keinesfalls dulden, sie wollte das, was ihr so zusetzte, ohne jeden Aufschub hinter sich bringen! Unschlüssig trat sie von einem Fuß auf den anderen, ließ sich dann aber doch auf der Polsterbank nieder. Äußerst behutsam, das englische Möbel war mehr ein Museumsstück, als dass es zum Sitzen einlud. Eva stopfte sich die kleinen Finger in den Gehörgang. Elendes Gebimmel, ihr Trommelfell puckerte schon, sollte sie nun oder sollte sie nicht abheben?

Gerade als sie die Hand nach dem Hörer ausstreckte, brach der letzte Klingelton ab. Sie saß absolut still und fixierte das Pendel der Standuhr, als sei es die Pforte zur Hypnose. Selbst wenn der Geigenunterricht ausfiel, schon einmal war es aus Kopflosigkeit zum Unfall gekommen. Ein Blechschaden zwar, nichts Ernstes, aber alles nur, weil die Mutter vor Sorge um ihr Kind die Vorfahrt nicht beachtet hatte. Auch wenn es ihr schwerfiel, Eva rührte sich nicht von der Stelle.

Doch da, erneut das Telefon, nervtötend und schrill! Die Hände im Schoß vergraben, zählte Eva mit: Viermal ... fünfmal ... Als schließlich der letzte Ton verklang, streifte sie die erdverkrusteten Schuhe ab, zog ihre Füße auf die Bank, umarmte die Knie und stützte das Kinn darauf. Der Gang zum Revier, die Vermisstenmeldung ... wildfremdes Terrain, aber was sollte verkehrt laufen? Das, was sie zu melden hatte, war und blieb eine unabänderliche Tatsache: Einen Wahnsinnsrucksack auf seinen Rücken geschnallt, war Ernst losgewandert. Im langärmeligen Baumwollrolli des drohenden Sonnenbrandes wegen, der Schädel ungeschützt, an den Beinen die alt bewährten und reichlich abgeschabten Jeans. Acht Tage waren vergangen, sie hatten seither nichts von ihm gehört.

Mehr gab es im Moment nicht zu sagen, höchstens, dass sie so lange still gehalten hatte, weil sein Nichts-von-sich-hören-Lassen an sich nichts Ungewöhnliches war. Das konnten alle im Dunstkreis von Ernst bezeugen.

Eva nahm die Füße von der Bank und erhob sich. Dabei bog sie den Rücken durch und verzog das Gesicht. Die Nächte waren das Schlimmste. Das Bewusstsein, den Boden unter den Füßen zu verlieren, alles war unglaublich dunkel und still. Der Mangel an Schlaf, der qualvolle, immer wiederkehrende Efeutraum ... Missbilligend betrachtete sie ihr goldgerahmtes Ebenbild im Spiegel über der Sitzbank. Mundwinkel hängend, Wangen zu bleich, dazu die rot geränderten Augenlider - jedes Detail fügte sich zum Portrait einer abgekämpften, ihr fremd gewordenen Frau. Rasch wandte sie die Augen ab, trat ein, zwei Schritte zurück. Doch wie magisch wurde ihr Blick erneut vom Spiegel angezogen. Der veränderte Blickwinkel - die offene Küchentür war mit im Bild. Der blank gesessene Stuhl am kreisrunden Tisch ... Ernsts Platz, tagtäglich hatte er ausgiebig dort die Zeitung gelesen.

Jetzt war er fort. Das Alleinsein mit Haus und Garten gruselte sie, auch wenn sie das ums Verrecken nicht preisgeben würde. In erster Linie galt es, hässliche aschene Augenringe und wächsernen Teint mit Make-up zu kaschieren. Wie ein Maler die Leinwand würde sie ihr Abbild grundieren und sorgsam verwischen, um nach dem Trocknen Pinselstrich für Pinselstrich dem angestrebten Selbstportrait Farbe wie auch Kontur zu verleihen. Bot nicht das Gefühl, so gerüstet zu sein, Schutz in fast allen Lebenslagen? Wie die Gaze mit dem Gips verband sich die neue Schicht mit der darunter liegenden zur aalglatten Maske, hinter der man sich verbergen konnte.

Denk bloß nicht zu weit in die Zukunft, betete Eva sich vor. Leb einfach den Tag, sonst verzettelst du dich und stehst das alles womöglich nicht durch.

Das war leichter gesagt als getan, auch, dass sie die Nerven nicht verlieren durfte. Aber Nina brauchte die Mutter, ihre große Schwester Anna auch. Seit wenigen Wochen war sie weg von zu Hause, war auf dem College in Australien. Keiner von beiden wäre gedient, wenn die Mutter in Panik geraten und schlapp machen würde.

Bloß nicht den Verstand verlieren, beschwor Eva sich. Vorerst hieß es zurück in den Garten, fertig aufräumen und die Kellertür verbarrikadieren. Draußen fiel ihr die Klette im Haar wieder ein. Sie zog und zerrte an dem unnachgiebigen Störenfried, bückte sich dann kurzerhand nach der schartigen Rosenschere, säbelte blindlings den stacheligen Haarfilz heraus. Anschließend dröselte sie das Büschel auf, bis die Klettkugel aus ihrem Bett war, schnipste sie angewidert in den Dreck, zermalmte sie mit dem Absatz und verwischte die Spuren, als hätte sie etwas Gesetzloses getan. Dann schloss sie sorgfältig ab, ließ im Wäschekeller die schmutzigen Kleidungsstücke zu Boden fallen, lief nackt und fröstelnd nach oben ins Badezimmer.

Unter der heißen Dusche schrubbte sie sich ab und wusch gründlich die Haare. Beim Blick auf die kurzen, breiten Füße mit dem hohen Spann und den Knubbelzehen stellte sie wehmütig fest, dass gewisse Körpermerkmale sich eigentümlich stark ausprägten und dass sie ihrer Mutter immer mehr glich. Sie konnte sich nicht erklären, wieso ihre Gliedmaßen mit zunehmendem Alter eine ganz eigene Entwicklung durchmachten. Wenn sie die ererbten Ringe ansteckte, blickte sie auf das Abbild von Mutters altersgefleckten Händen.

Andererseits: Übertrieb sie nicht mit dem Sich-alt-Fühlen? Noch fehlten die Pigmentflecken, und eine Vielzahl teurer Strähnchen vertuschte die grauen Stellen im Haar. Das trübe Blaugrau der Iris allerdings war nicht zu kaschieren - ihre Augen hatten die Leuchtkraft verloren, das wusste Eva wohl. Unter den Umständen aber war das wenig verwunderlich. Liebend gern hätte sie Zuflucht im Alkohol gesucht, doch den versagte sie sich. Sie musste unbedingt die Kontrolle behalten, sie kannte sich! Alkohol lockerte ihr die Zunge, machte sie leichtsinnig und kühn. Das konnte sie keinesfalls gebrauchen. Nicht in ihrer derzeitigen Situation.

Wenig später stand Eva mit einem Becher Milchkaffee am Fenster des Gästezimmers, das vorn auf die Straße ging. Ihr leerer Blick streifte den Schutzwall von Mauer vor ihrem Haus, glitt darüber hinweg wie ein Vogel im Flug, folgte dem Band der schmalen Straße, bis es sich in der Kurve verlor.

Wie ihr zumute war? Grässlich mulmig, fiel Eva als mögliche Antwort ein, auch wenn kein Mensch danach fragen würde.

Hummeln im Magen?

Bei ihr waren es Libellen.

Große, blaue, flirrende Libellen.

Die aus dem Gartenteich.

Die Efeufrau

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